Nochmals über die Bücher beim Lehrplan 21
Der Lehrplan 21 muss mehr als kosmetisch überarbeitet werden. Das eröffnet ihm Chancen in der politischen und schulischen Umsetzung. Momentan ist er mehr als «nur» ein Harmonisierungsprojekt. Es braucht die Rückbesinnung auf die Harmonisierungsziele.
Von Michael Schoenenberger
Es klingt abgedroschen, aber es ist so: Kinder und Jugendliche sind die Zukunft eines Landes. Deshalb kommt ihrer obligatorischen Schulbildung enorme Bedeutung zu. Die Schule muss Kinder und Jugendliche auf die Zukunft vorbereiten. Schule muss also vorwärtsgehen. Sie darf nicht stehenbleiben. Konservative Reflexe sind ein schlechter Ratgeber, auch bei der Erarbeitung eines neuen Lehrplans. Die Schule von einst, die womöglich weniger gut war, als sie in der zur Verklärung neigenden Erinnerung aufscheint, muss nicht die gute Schule von morgen sein. Bringt nun aber der Lehrplan 21 diese geforderte Zukunftsfähigkeit? Zweifel sind angebracht.
Das Zauberwort «Kompetenz»
Die Ziele des Unterrichts sind im
Lehrplan 21 in Kompetenzen umschrieben. In den Bildungswissenschaften
sind sie umstritten. Eine klare Definition fehlt. Die Schweizer
Lehrplanmacher sagen, was sie meinen: Ins Zentrum stellen sie das Können
und die Anwendung von Wissen. Die Unterrichtsziele sind nicht erreicht,
wenn der Stoff des Lehrplans behandelt worden ist, sondern erst, wenn
dieses Wissen auch verstanden ist und angewendet werden kann. Letztlich
ist mit Kompetenz, so lässt sich erahnen, wohl Bildung im klassischen
Sinn, in all ihren Ausgestaltungen, gemeint: Schule soll umfassend
bilden und sich nicht auf plumpe Stoffvermittlung beschränken.
Dagegen lässt sich nichts
einwenden. Doch in der Kompetenzeuphorie ging der Wert der puren und
umfassenden Wissensaggregation vergessen. Ein Beispiel, das auch der
Präsident des Lehrerverbands, Beat W. Zemp, erwähnt hat: Der Lehrplan
21 schreibt nicht vor, dass die Französische Revolution behandelt werden
muss. Die Schüler müssen aber verstehen, wie es zu Revolutionen kommt
und was deren Folgen sind. Mit der gleichen Argumentation liessen sich
die beiden Weltkriege - monumentale Ereignisse des 20. Jahrhunderts -
aus dem Schulstoff verbannen. Müssen Schüler wirklich wissen, dass der
Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann und wer der Angreifer war?
Wichtig wäre aus Kompetenzsicht ja, dass Schüler Entstehung, Beendigung
und Folgen von Kriegen erklären können. Möglicherweise würde eine
Lehrperson das Beispiel des Zweiten Weltkriegs zur Hand nehmen, um dies
zu erklären. Vielleicht auch nicht. Nicht ausgeschlossen also, dass
Schüler die obligatorische Schule verlassen, ohne je von der
Französischen Revolution oder den Weltkriegen gehört zu haben. Das ist
undenkbar und unhaltbar.
Wir leben in der Epoche des
Internets. Wissen ist auf Tastendruck verfügbar. Doch welches Wissen ist
das? Und werden Schüler, die nicht wirklich an der Vermehrung ihres
Wissens interessiert sind, es später - oder wenn sie es brauchen - im
Internet suchen? Werden sie nicht viel eher in Unwissenheit verharren?
Wissen ist Macht, hiess es früher. Ist Macht heute gleichzusetzen mit
der Beherrschung von Computertasten? Die Schule hat den zentralen
Auftrag der Wissensvermittlung, und der Lehrplan 21 ist diesbezüglich zu
korrigieren. Ein Ausweg böte sich an: Der Plan ist in zwei Teile zu
gliedern. Der erste Teil würde in der Tradition der Wissensorientierung
stehen und klare inhaltliche Lernziele umschreiben, der zweite würde
darauf aufbauende Kompetenzen formulieren.
Dies entschärfte zwei weitere
Problematiken. Für die Unterrichtspraxis nämlich kommt die
Kompetenzorientierung einem Paradigmenwechsel gleich. Derzeit, man denke
an die zahlreichen Sparprogramme in den Kantonen, ist ganz und gar
offen, wie die Lehrkräfte überhaupt in diese neue Art des Unterrichts
eingeführt werden. Es scheint, dass die Mittel dazu gänzlich fehlen.
Soll der Lehrplan 21 zur Reform ohne Fundament werden? Sodann zweitens:
Kompetenzen zu bewerten und zu benoten, ist schwierig; manche behaupten,
es sei unmöglich. Die Notengebung jedenfalls wird ohne eindeutige
Lernziele kniffliger und vor allem angreifbarer. Nach den Gesetzen
menschlichen Verhaltens wird dies dazu führen, dass Lehrkräfte ihre
Noten tendenziell «einmitten». Die sehr guten Schüler bekommen weniger
schnell eine 6, die weniger begabten eher eine 4. Die
Kompetenzorientierung wird den Mut schmälern, schlechte oder sehr gute
Noten auszuteilen. So resultierte nicht eine bessere Schule, aber am
Leistungsprinzip würde geritzt. Jene, die aus ökonomischen Überlegungen
die Kompetenzorientierung befürworten, könnten enttäuscht werden.
Zur Umsetzung des Lehrplans 21 in
der Praxis braucht es vor allem zwei Dinge. Er muss politisch akzeptiert
sein und von den Lehrkräften getragen und umgesetzt werden können.
Beides ist heute nicht der Fall. Dieser Plan ist zu umfangreich und
alles andere als jenes handliche Instrument, das versprochen worden ist.
Zudem ist er in seiner Detailversessenheit im Prinzip eine Anleitung
zum Unterricht, was die Freiheit der Lehrkräfte tangieren wird. Da
erfolgreicher Unterricht vor allem von der Motivation der Lehrkräfte
abhängt, ist dieser Punkt sehr wichtig. Der Lehrplan 21 wird zudem
notgedrungen weitere Harmonisierungen nach sich ziehen, etwa der
Stundentafeln. Es ist klar, dass er - zu Ende gedacht - die kantonale
Schulautonomie nicht gerade aushebeln, aber zumindest infrage stellen
wird.
Zu ideologisch
Mit dem Lehrplan 21 liegt ein
Dokument vor, das streckenweise ideologische Züge trägt. Links-grüne
Geistes- und Werthaltungen sowie Umerziehungsphantasien finden teilweise
Eingang. Dafür fehlt ganz Grundlegendes, gerade im vieldiskutierten
Kapitel «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Wenn der Lehrplan 21 in private
Bereiche eindringt und plötzlich «Kompetenzen» zu beurteilen sind, die
die Schule gar nichts angehen, wird deren Erziehungsauftrag
überstrapaziert. So geht es nicht, und so wird dieser Lehrplan kaum jene
politische Akzeptanz erstreiten, die er braucht. Wird er in dieser Form
und mit diesen problematischen Inhalten an den obligatorischen Schulen
der Deutschschweiz zur Pflicht, dann ist die Frage nach der freien
Schulwahl wieder neu zu stellen. Eltern sollen dann die Möglichkeit
haben, Schulen zu wählen, in denen andere Weltanschauungen zum Zuge
kommen.
Schliesslich zur Harmonisierung.
Ja, es ist Auftrag der Bundesverfassung an die Kantone, deren Schulwesen
zu harmonisieren - auch inhaltlich, also mit einem Lehrplan. Wird das
im Jahr 2014, acht Jahre nach dem wuchtigen Volks-Ja zur
Bildungsverfassung, geleistet? Die Antwort lautet Jein. Vieles ist zwar
erreicht worden, vor allem im strukturellen Bereich, wofür den
Verantwortlichen in der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
auch Anerkennung zu zollen ist. Die Stimmbürger legten damals ein Ja in
die Urne, weil sie mit einer Vereinheitlichung der Grundanforderungen
der Volksschule die Mobilität von Schülern und Lehrkräften erleichtern
und Klarheit bei Übertritten in nächste Bildungsstufen schaffen wollten.
Noch immer wird indes über die Fremdsprachenabfolge gestritten, deren
unterschiedliche Ausgestaltung wohl eine der höchsten Mobilitätshürden
für ein Kind darstellt. Es gilt, diese Frage prioritär zu behandeln.
Beim Lehrplan 21 drängt die Zeit nicht. Angezeigt ist, bei ihm noch
einmal gründlich über die Bücher zu gehen.
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