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aus FAZ.NET, 8. 3. 2019*
Definiert Pisa, was Bildung ist?
Leistungsmessungen wie der Pisa-Test werden von einem globalen
Netzwerk diktiert, sagt der Soziologe Richard Münch. Der
Pisa-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, widerspricht. Ein
Streitgespräch.
Von Martin Wiarda
Herr
Münch, in Ihrem neuen Buch warnen Sie vor einem „globalen
bildungsindustriellen Komplex“. Die nationale Bildungspolitik werde
davon abgehalten, nach ihrer bisherigen Logik zu arbeiten. An ihre
Stelle sei ein globales Netzwerk getreten unter der Führung der OECD und
anderer Akteure, mit dem OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher als
einer der zentralen Figuren.
Richard Münch: In
diesem internationalen Netzwerk konzentriert sich die Macht. Seine
Akteure sind organisiert im sogenannten Pisa-Konsortium. Das sind die
Agenturen und Unternehmen hinter dem internationalen
Schulvergleichstest, der global umsatzstärkste Bildungskonzern Pearson
gehört genauso dazu wie die größte Testfirma der Welt, der Educational
Testing Service (ETS). Aber auch staatlich finanzierte Einrichtungen
sind dabei, der australische Council for Educational Research zum
Beispiel oder in Deutschland das Dipf – Leibniz-Institut für
Bildungsforschung und Bildungsinformation. Es geht um die Beantwortung
der Frage nach dem Wesen von Bildung, das anhand eines
angloamerikanischen Modells von Basiskompetenzen beschrieben und mit
Hilfe von eigens entwickelten Tests abgeprüft wird.
Herr Schleicher, wie fühlt man sich als Zentralfigur des bildungsindustriellen Komplexes?
Richard Münch ist Soziologe und hat zuletzt an der
Universität Bamberg gelehrt, wo er weiterhin „Emeritus of Excellence“
ist. Er hat die Streitschrift „Der bildungsindustrielle Komplex“
vorgelegt.
Andreas Schleicher:
Ich weiß nichts von einem solchen Komplex. Pisa will die
Bildungssysteme besser machen. Mit Macht oder Machtausübung von außen
hat Pisa rein gar nichts zu tun. Es wird geleitet und finanziert von den
Bildungsministerien der Mitgliedsländer, und die Entwicklung des
Pisa-Tests geschieht unter der Leitung eines Gremiums führender
Wissenschaftler, die von den teilnehmenden Staaten benannt werden.
Münch:
Natürlich braucht man für Pisa Wissenschaftler, um die Fragen zu
designen. Aber um den Test in der Breite umzusetzen, braucht es die
Schlagkraft der Agenturen und Unternehmen, und deren Rolle
verselbständigt sich zwangsläufig. Irgendwann können die nationalen
Bildungsministerien nur noch die Daten entgegennehmen – mitsamt den
Empfehlungen, die daraus abgeleitet werden. Pearson selbst berichtete
2014 auf seiner Homepage wörtlich, dass es den Pisa-Test 2018 für die
OECD entwickelt.
Schleicher: Noch
mal: Die Pisa-Tests werden von einer Expertengruppe entwickelt, in der
alle Mitgliedstaaten vertreten sind, aber kein einziger
Unternehmensvertreter. Technische Expertise wird später hereingeholt, um
bestimmte Fragestellungen zu verfeinern, zu operationalisieren. Pearson
etwa hatte als Teil des Pisa-Konsortiums 2015 und 2018 einen Auftrag
für die Entwicklung der Rahmenkonzeption der Tests – mit einem Volumen
von einem Bruchteil eines Prozents der Gesamtaufwendungen. Die
Bildungsministerien bestimmen, was wo wie und von wem gemessen wird.
Niemand anders, auch nicht die OECD. Und ganz sicher nicht die
Industrie.
Münch:
Sie tun so, als sei die OECD nur Moderator bei Pisa, und unterschlagen,
dass Sie selbst zunehmend Empfehlungen über die Medien spielen. Die
führen in den Ministerien dann zu Kurzschlussreaktionen.
Welche Kurzschlussreaktionen meinen Sie?
Andreas
Schleicher ist Statistiker, leitet das Direktorat für Bildung bei der
OECD und ist Internationaler Koordinator für die Pisa-Studien Er hat
eine Waldorfschule besucht
Münch: Es
fing damit an, dass die OECD aus Pisa schlussfolgerte, die Merkmale
wirklich erfolgreicher Bildungssysteme seien mehr Schulautonomie, eine
starke Leitung und zentrale Leistungstests. Wenn solche Botschaften
verbreitet werden, gerät die Politik unter Druck, das auch umzusetzen.
Das Ergebnis sieht man paradigmatisch in den Vereinigten Staaten, wo die
Schulen bei weitem nicht so erfolgreich sind wie in Ostasien. Und
warum? Weil ähnliche Schulmodelle abhängig von den kulturellen
Unterschieden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Schleicher:
Merken Sie, wie Sie sich selbst widersprechen? Sie behaupten, die OECD
propagiere das amerikanische Modell. Gleichzeitig betonen Sie, dass
Amerikas Schulsystem im internationalen Vergleich nicht besonders gut
abschneidet. Was wir aber erst durch Pisa wissen. Seitdem wissen wir
auch: Länder wie Finnland, Japan oder Portugal bekommen Schule besser
hin. Und nein, die OECD hat keinem Land gesagt, es solle die
Schulautonomie stärken. Aber offenbar ist das ein Faktor, der
beispielsweise in Finnland wirkt. Das ist doch das Spannende, was Pisa
geschaffen hat: eine globale Plattform, eine globale Plattform zum
Austausch verschiedenster Lösungsansätze. Im Übrigen: Wenn Ihre These
von der Allmacht von Pisa richtig wäre, Herr Münch, müssten wir überall
dieselben Bildungssysteme haben. Haben wir aber nicht.
Münch:
Natürlich hat jedes Bildungssystem seine eigene Tradition. Aber sie ist
konfrontiert mit den Daten und den Schlussfolgerungen, die daraus
gezogen werden. Deshalb werden die Schulsysteme nicht genau wie in
Finnland oder China. Aber es werden Elemente übernommen. In Deutschland
die Bildungsstandards, die Fokussierung auf die Kompetenzen im Lesen, in
Mathematik und in den Naturwissenschaften.
Schleicher:
Die kompetenzorientierten Bildungsstandards kommen nicht von Pisa,
sondern weil die deutsche Bildungspolitik gesehen hat: Viele Länder mit
leistungsstarken Schulen haben verbindliche Bildungsziele, anstatt jede
Schule jedes Ziel vor Ort neu erfinden zu lassen. Ich halte das für eine
richtige Beobachtung und eine gute Schlussfolgerung.
Herr
Schleicher, Sie betonen die Wissenschaftlichkeit von Pisa. Nun sagt
Herr Münch allerdings auch, die Bildungsforschung sei eine „weitgehend
angewandte Forschung und dadurch naturgemäß Dienstleistung für die
jeweils herrschende politische Agenda.
Schleicher: Natürlich
ist die Bedeutung der Bildungsforschung gestiegen – so wie die
Bedeutung der empirischen Forschung insgesamt. Die Verknüpfungen
zwischen Bildungspolitik, Bildungsforschung und Bildungspraxis sind
enger geworden. Zum Glück, wie ich finde. Das heißt im Umkehrschluss
aber nicht, dass der überwiegende Teil der Bildungswissenschaften heute
angewandt ist. Im Gegenteil, viele Lehrkräfte beklagen, dass die
Bildungswissenschaften immer noch zu weit entfernt sind von ihrem
Alltag, zu abgehoben.
Münch:
Wir haben es mit einem Monopol zu tun. Pisa hat auf globaler Ebene
betrachtet die Daten und trifft bei ihrer Erhebung und Verarbeitung
Selektionsentscheidungen, wodurch das, was als Bildung gilt, definiert
wird. Und genau hier, in dieser engen Konzentration auf die
Basiskompetenzen, liegt die Verknüpfung zur politischen Agenda, die
einen Namen hat: New Public Management. Sie definiert das
datengetriebene Kontrollregime, das ich vorhin beschrieben habe.
Wer setzt diese Agenda?
Münch:
Dahinter stehen die Pisa-Macher, aber auch Ökonomen sind maßgeblich
beteiligt. Man möchte ein System etablieren, in dem man das Versprechen
von mehr Autonomie an umfangreiche Kontrollen bindet. Das ist in anderen
Bereichen der öffentlichen Verwaltung genauso, auch an den Hochschulen
gilt das.
Schleicher:
Das New Public Management ist keine Erfindung der OECD, sondern
entstand bereits in den achtziger Jahren, als noch keiner an Pisa
dachte. Einen Kritikpunkt möchte ich aber annehmen: Die Tests haben im
Moment einen zu engen Kompetenzbegriff als Grundlage, also einen zu
starken Fokus auf Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Das
ist aber ein gutes Beispiel für den geringen Einfluss des
OECD-Generalsekretariats im Verhältnis zu unseren Mitgliedstaaten.
Hätten wir mehr zu sagen, würden wir mehr Gewicht auf soziale und
emotionale Kompetenzen legen.
Stimmen Sie mit der These von Herrn Münch überein, dass Pisa als Ganzes mäßig erfolgreich war?
Schleicher:
Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. Vor 2000 gab es in Deutschland
keine Debatte über frühkindliche Förderung in den Kitas, dafür gab es
viele Leute, die sagten: „Mütter, die ihre Kinder in den Kindergarten
geben, haben nicht deren Bestes im Sinn.“ Und glauben Sie, wir hätten
ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen oder die Bestrebungen,
Schüler mit Migrationshintergrund besser zu fördern? Vor Pisa haben die
Bildungspolitiker auch hierzulande geglaubt, sie wüssten, was sie tun.
Weil sie es immer schon so gemacht hatten und nichts anderes kannten.
Der Status quo hat bis heute viele Unterstützer im Bildungssystem, und
den hat Pisa in Frage gestellt.
Münch:
Ja, aber um welchen Preis? Viele Länder sind nach 2000 in Richtung New
Public Management umgeschwenkt und haben seitdem ausgerechnet in den
Pisa-Tests immer schlechtere Leistungen erzielt. Großbritannien ist ein
sehr gutes Beispiel dafür.
Schleicher:
Es ist aber doch genau andersherum! Pisa hat die Methoden des New
Public Managements in der Bildung eher in Frage gestellt, wie Sie selbst
sagen, wenn Sie auf die schlechteren Ergebnisse Großbritanniens
verweisen.
Herr
Schleicher, Herr Münch kritisiert in seinem Buch, die OECD rede viel
von der Autonomie der Schulen, doch faktisch habe Pisa dazu beigetragen,
dass die Autonomie der Schulen geschrumpft sei.
Schleicher:
Genau deshalb ist es schön, wenn man Daten hat. Die Frage lässt sich
empirisch klar beantworten: Die Freiräume der Schulen in Deutschland
sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen. Nicht in allen
Bundesländern gleichermaßen, aber in der Regel haben die Schulleitungen
heute ein Mitspracherecht bei der Einstellung neuer Lehrer und auch bei
der Frage, wen sie befördern wollen. Die Schulen können ihren Unterricht
freier gestalten, die einzelnen Lehrkräfte können ebenfalls mehr selbst
entscheiden.
Münch: Mal
ehrlich, welche Freiheitsgrade haben Entscheidungen, die Schulen
treffen, weil sie sich im Wettbewerb mit anderen befinden? Real bedeutet
das Konzept der „eigenverantwortlichen Schule“ einen viel höheren
Aufwand an Berichten, Dokumenten und Evaluationen. Echte, professionelle
Autonomie würde bedeuten, dass man die natürliche Autorität der
Lehrerinnen und Lehrer gelten lässt, dass man ihnen Freiheit lässt bei
der Umsetzung des Curriculums.
Die Fragen stellte Martin Wiarda.
Nota. - Bildungsindustrieller Komplex? "Ich weiß nichts von einem solchen Komplex." Leo Trotzki sagte in Hinblick auf die sich ausbildende Sowjetbürokratie: Die Bürokratie bebietet unerbittlich wie Jehova, du sollst meinen Namen nicht aussprechen.
Wissenschaftlich hat sich PISA selbst desavouiert, als es sich weigerte - bis heute -, nicht nur seine Auswertungen, sondern auch die erhobenen Daten, die ihnen zugrunde legen, an die Öffentlichkeit zu bringen. Man kann ihnen glauben oder nicht.
Warum sollte man?
PISA ist keine Einrichtung der Erziehungswissenschaften - das wäre zweifelhaft genug -, sondern der Regierungen und der Industrie. Es vertritt Interessen, aber das sind nicht die der Bildung, sondern die von Politik und Wirtschaft an Ausbildung für den Markt - den keiner vorausberechnen kann, doch um die Zukunft der heranwachsenden Generation geht es gar nicht, sondern um die kurz- und mittelfristigen Verwertungsbedingungen des Kapitals. Ausschuss mag es immer geben, aber das ist nicht dessen Sorge.
Welches seine Erfolgskriterien sind, lässt Schleicher durchblicken: "Glauben Sie, wir hätten
ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen?" Was PISAs übelste Giftbeule ist, liegt im ausschließlichen Interesse des bildungsindustriellen Komplexes. Dass die Ganztagsschule der Bildung nützt, hat seit Jahrzehnten nun schon keiner mehr zu behaupten gewagt, und dass unsere Schulhöfe ein Ort sozialen Lernens und der Integration von Migrantenkindern wären, trauen sie sich auch nur noch bei Gelegenheiten zu sagen, wo sie unter sich und sicher sind, dass von Mobbing und Gewalt keine Anwesender reden wird.
Und im übrigen hat noch nie einer behauptet, PISA wolle selber Macht ausüben. Die Macht, die PISA ausübt, indem es sie weiterleitet, ist die der Industrie.
JE