...und der Kindlichkeit der Kunst
Im echten Manne ist ein Kind versteckt,
und das will spielen.
Nietzsche
Das Kind ist der Vater des Mannes.
französische Redensart
Am
Ende ist bei jedem Spiel des Knaben
und jedem Ernst des Mannes die
Betrachtung der Zweck,
auf den des Knaben Spiel und des Mannes Ernst
gerichtet ist.
Plotin, Enneaden III,8
Daß
Menschen erwachsen werden, ist kein Naturgeschehen. Daß der Mensch
neben seiner ersten, natürlichen Natur noch eine zweite selbstgemachte,
künstliche Natur hat, die ihm nicht einfach vererbt, sondern anerzogen
wird, ist seit Herder eine pädagogische Binsenweisheit. Aber es ist eine
Halbwahrheit, die mehr mystifiziert als aufklärt – weil es so klingt,
als handle es sich um zwei Stufen: bis hierhin Natur, von da ab Kultur.
Natürlich kommen auch Menschenkinder nicht ausgewachsen auf die Welt.
Nur ist der Prozeß der physiologischen Reifung bei den Menschen
künstlich in die Länge gezogen – aber das fällt bereits in unsere
„zweite“, selbst- gemachte Natur.
Seit
seinem Ur-Sprung, der Erfindung des aufrechten Gangs, ist der Prozeß
der Hominisation eine Wechsel- wirkung von Natur und Selbstentwurf; von
biologischer Selektion und Anpassung hier und freier Gestaltung dort. So
sehr, daß noch dieser Ursprung selbst rückblickend weniger als eine
Reaktion auf Vorgefundens denn wie die Schaffung von Neuland erscheint.
Der aufrechte Gang hat mit der Freisetzung der Dynamik von ‚Hand und
Kopf’ die Erzeugung des Geistes ermöglicht. Und erfordert: Immerhin hat
von allen Zweigen der Familie Homo die Gattung Sapiens als einzige
bestanden. Der aufrechte Gang hat unsere Spezies ermächtigt, aus ihrer
angestammten Nische in eine große bunte Welt aufzubrechen.
Dabei
mußte sich Homo freilich entspezialisieren und zum Fachmann für das
Unspezifische stilisieren. Es ist sinnvoll, seine seitherigen Schicksale
als fortschreitende Erfüllung dieses ursprünglichen Programms zu
verstehen: als Entbindung aus dem Wirkungsgefüge der Natur. Ewige
Unfertigkeit ist sein hervorstechender Gattungscharakter und
Dysfunktionalität sein Stil. Und es war die Entspezifizierung seiner
bestimmten Umwelt zur offenen Welt, die ihn genötigt hat, ihr eine eigne
Ordnung einzubilden – durch die Erfindung des Sinns; denn wie anders
konnte der darin zurechtkommen?
Die Unreife des Menschen
Indes
hat dies Programm selber biologische Fakten geschaffen und Eingang in
unsere genetische Ausstattung gefunden. Der Freisetzung von ‚Hand und
Kopf’ folgte ein sprunghaftes Anwachsen des Gehirnvolumens und
-gewichts, so daß Menschenkinder nicht bis zur Lebensfähigkeit
ausgetragen, sondern verfrüht „zur Welt gebracht“ werden. Ein
„extra-uterines Embryonalstadium“ wird nötig, der Mensch wird zum
„sekundären Nesthocker“ (nach A. Portmann).
Doch
von da an erscheint die Entwicklung dieser Frühgeburt merkwürdig
‚retardiert’. Sein körperliches Wachstum erstreckt sich über rund
zwanzig Jahre – unverhältnismäßig länger als bei Tieren mit einem
vielfachen Körpergewicht. Besonders auffällig: Die geschlechtliche
Reifung, die ‚eigentlich’ mit dem fünften Lebensjahr erreicht wäre, wird
hormonal unterbrochen und bis ins zehnte bis vierzehnte Lebensjahr
aufgeschoben. (Die Zirbeldrüse scheint beim Menschen nur noch diesem
Zweck zu dienen). Es entsteht eine Entwicklungsstufe, die einzig ist in
der Natur: die „Pubertät“, ausgezeichnet durch einen Wachstumssprung
(„zweiter Gestaltwandel“) und eine turbulente Sexualität, die nicht dem
Fortpflanzungszweck zugeordnet ist.
Die
Pubertät ist auch physiologisch kein Naturgeschehen, sondern schon
Kulturprodukt – jedenfalls eines unserer „zweiten“, künstlichen Natur.
Die scheinbare Verspätung des Heranwachsens beim Menschen ist in
Wahrheit eine aktive Reifungs-Hemmung. Reife, das ist die endlich
erreichte bestimmte Form. Bestimmt wodurch? Durch die bestimmte
Funktion. Nur ein Organismus, der sich auf eine Funktion spezialisiert,
kann „reifen“. Reifung oder Spezialisierung, das ist eins. Die
endokrinal gesteuerte Reifungshemmung des Homo sapiens ist eine
Spezialisierungshemmung: Er soll nicht „funktionieren“.
Wie wir erwachsen wurden
Erwachsenheit
ist nicht die Reifeform des Menschen. Wie der Phänotyp ‚Erwachsener’
entstand, das ist ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Norbert Elias
als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: die Ausbildung des
bürgerlichen Menschen. Das feudale Mittelalter, das war, mit Egon
Friedell zu reden, die Pubertät, waren die „Flegeljahre“ der Europäer
(und die griechische Antike war, nach Karl Marx, ihre Kindheit). Die
Neuzeit und die Geldwirtschaft machten sie erwachsen.
Die
Zivilisierung der Gesellschaft ist die Rationalisierung ihrer
Funktionen. Rationalisierung ist Ökonomisierung. Rationalität selbst ist
Ökonomie der Vorstellung: Einbildungskraft plus Berechnung. Denken, das
dient; funktionales Denken: Rationalität ist der abstrakte Begriff von
Arbeitsfähigkeit. Und von Arbeitsteilung. Was im Ganzen Teilung ist,
bedeutet für den Einzelnen Spezialisierung. Erwachsen sein heißt einen
Beruf haben. Und der Weg dorthin heißt: lernen.
Max
Weber sprach von der Rationalisierung der modernen Welt als von einer
Entzauberung. Bezaubernd war die Welt, solange sie wenigstens an ihrem
äußersten Rand noch unbestimmt blieb. Zweckmäßige Bestimmtheit
banalisiert sie zur bloßen Umwelt. Webers Begriff der Rationalisierung
bezeichnet die durchgehenden Funktionalisierung der bürgerlichen
Gesellschaft, wo jedes um eines andern willen da ist; die Zuordnung
eines jeden Minus zu einem Plus, eines jeden Topfs zu seinem Deckel,
jedes Gegenstands zu seinem Bedürfnis.
Ausgleich,
Äquivalenz, Assimilation. Paradigma der bürgerlichen Welt ist der
Saldo. Ist nicht aber Surplus der Sinn und Zweck kapitalistischen
Wirtschaftens? Ach, kaum ist ein Überschuß erzielt, meldet sich auch
schon das „neue Bedürfnis“: Ick bün all do! Der Erwachsene ist der rational handelnde, die Folgen erwägende Bürger: der Haushälter, homo oeconomicus.
Ja, doch – er ist spezialisiert; auf die häusliche Existenzweise. Er
funktioniert, eingebunden in seine „zweite Natur“: sein selbstgemachtes
Wirkungsgefüge (namens Wertgesetz). Er ist die Domestikationsform des
Menschen. Seine „Verhausschweinung“, wie Konrad Lorenz das nannte.
Der rührende Rest
Nicht
zum Spaß und nicht aus Stolz ist der Mensch zum Homo oeconomicus
„erwachsen“. Es war der Fluch des Fortschritts, der Entfaltung der
materiellen Produktivkräfte. Es war das immanente Gesetz der
Arbeitsgesellschaft. Es war die Hürde, die erst einmal genommen sein
wollte. Auf einmal verrät das Herder’sche Stufenmodell von der „ersten“
und der „zweiten Natur“ des Menschen seinen ganzen pädagogischen Sinn:
Kindlichkeit wird bestimmt – als Unbestimmtheit; als
Dysfunktionalität. Was unser ursprünglicher Gattungsstil war, wird
gesetzt als Mangel – an Zivilisation. An Erwachsenheit. An Beruf! Den
Mangel zu beheben wird selbst zur bestimmten Tätigkeit: zu Arbeit. Die
Arbeit der Kinder heißt „lernen“.
Die
Kindlichkeit des Kindes wurde, ebensowenig wie das Kind selbst, nicht
einfach unterdrückt. Nein, sie wurde sogar idealisiert und mystifiziert –
und dabei entfremdet und lahmgelegt. Was unbestimmt, nicht-rationell,
nicht funktional und folgenlos war, wurde als noch-nicht-wirklich aus
dem werktätigen Alltag ausgeschieden. Nach unten, ins Souterrain: die
Kindheit, Caput mortuum einer zivilisierten Wildheit; Quell der
Lebenskraft zwar, aber sentimentaler Schwachmacher. Asyl der
Unzurechnungsfähigkeit und Insel der Seligen, je nachdem.
Und
nach oben, in die gute Stube, den Salon, der nur des Sonntags
aufgesperrt wird: die Kunst. In der Kunst erscheinen die Dinge, als
hätten sie Wert und Sinn an sich selber, unbekümmert um die Folgen und
gleichgültig gegen mein Bedürfnis. Schön ist, was zweckmäßig erscheint
ohne Zweck, meint Kant. In der Kunst und in der Kindlichkeit des Kindes
erscheint die gattungsmäßige Unbestimmtheit des Menschen als ein
Residuum; irreduzibel, aber im wirklichen Leben nicht zu gebrauchen.
Geschätzt nur bei feierlichem Anlaß.
In
der bürgerlichen Kultur ist das Verhältnis von Werktag und Sonntag
verkehrt: Während in traditionalen Gesellschaften das werktätige Leben
um seiner Feiertage willen dazusein scheint, ist in der
Arbeitsgesellschaft der Sonntag für den Werktag da: als Pause. Doch
gerechterweise sei hinzugefügt: Im Phänotyp des Unternehmers hat die
bürgerliche Wirtschaftsweise die alltägliche Häuslichkeit um eine Dosis
Künstlertum bereichert. Allerdings ist der Sachbearbeiter inzwischen
typischer als der Unternehmer.
Die Kindlichkeit der Kunst
Die
Kindlichkeit des Kindes und die Künstlichkeit der Kunst haben einen
gemeinsamen Nenner, und zwar: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Es
ist die Art von Tätigkeit, die landläufig Spiel genannt wird. Immer
wieder hat man versucht, das Spiel definitorisch gegen die Arbeit
abzusetzen. Vergeblich
Nämlich solange der Unterschied in den
technischen, ergonomischen Merkmalen der Tätigkeit selbst gesucht wurde.
Der Unterschied liegt in ihrer verschiedenen Bedeutung fürs
Leben. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines gesetzten Zweckes willen
geschieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs
bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck
anverwandelt, mißt sich ihre Qualität.
Und
wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Qualität den
Maschinen einzubauen, umso besser. Industriearbeit, Lohnarbeit ist die
„reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf
kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt
– qua Tauschwert, denn der ist der allgemeinste Zweck. Die Mühsal ist,
allen Etymologien zum Trotz*, kein Bestimmungsgrund von Arbeit. Wenn
Arbeit Spaß macht, hört sie nicht schon auf, Arbeit zu sein.
Spiel
dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das?
Daß es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die
Tätigkeit, und wir würden
uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, daß vorher
nicht feststeht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen.
Das
Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Daß es also keinen
Zweck hat.
Es
werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß
nicht, welche. Man kann sie nicht „bedenken“. Man mag sie erahnen oder
erhoffen, aber man muß es wohl drauf ankommen lassen… Spiel ist Risiko,
und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zauber des Unbestimmten.
Arbeit dagegen will Bestimmtheit.
Die
Unbestimmtheit der Zwecke – daß man erst sehen wird, was es werden
soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die
Künstler der Vergangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als
die heutigen. Sie wußten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann
von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom
Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher
gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen.
Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur
Arbeit.
Der
Künstler wurde vor die Tür gesetzt und lebt seither in einem Reich des
Ungewissen. Wie die Kinder. Nur am Sonntag ließ man ihn in die gute
Stube: wie die Kinder. In ihnen beiden hat unser Gattungsstil überlebt,
als Residuum. Der Vergleich von Kunst und Kindheit ist mehr als eine
Metapher. Denn ist der Künstler immer ein bißchen wie ein Kind, so ist
das Kind, mit Maurice Ravel zu reden, „von Natur künstlich“.
Der Erwachsene veraltet
In
der Industrieproduktion selbst wird heute das Erfinden von Neuem
wichtiger als die Reproduktion vorgegebener Zweckformen. Die Tugenden
der Arbeitskultur – berechnen, assimilieren, saldieren – werden
entwertet. Wenn der Arbeitsprozeß streckenweise selbst den Charakter von
Spiel annimmt, dann wird „Chaosqualifikation“ funktioneller als
Bestimmtheit; vielleicht das Kernproblem am Standort Deutschland, wo man
jetzt Inder braucht, weil man die Kinder zu viel lernen läßt.
Die
elektronischen Informationssysteme machen es sinnfällig: Wer sich ins
Internet einklinkt, spielt mehr als daß er arbeitet; er „surft“.
Funktionalität nimmt selbst den Charakter von Unbestimmtheit an.
Rationalität, die unsere Zivilisiertheit ausmachte, gerät außer Kurs.
Und mit der Arbeit schwindet auch die Arbeit der Kinder: das Lernen.
Cyberworld hält Einzug nicht erst ins Arbeitsleben, sondern schon in die
Klassenzimmer – und alles, was sich überhaupt „lernen“ läßt, lernt
früher oder später auch der Computer. Beim Informationsmanagement hat er
den Menschen weit überholt. Will der ihn dennoch beherrschen, muß er
sich nicht länger zum Spezialisten bilden, sondern zum Fachmann fürs
Allgemeine – mit dem freien Willen als seinem „Betriebssystem“.
Selbst
der Haupteinwand der Romantik gegen die bürgerliche Lebensweise, die
Vereinseitigung der Menschen durch die Wahl ihres Berufs, fällt nun
nicht mehr ins Gewicht. Im Zeichen von „lebenslangem Lernen“ wird die
spezifische Arbeit der Kinder zu einer unspezifischen Tätigkeit von
Allen, und die Erwachsenheit veraltet. Zugleich hört Kindlichkeit auf,
ein Residuum zu sein, und verbreitet sich vom Souterrain aus über die
anderen Etagen – bis in den bürgerlichen Alltag. Die Hürde fällt hin.
(Allerdings geht es jetzt auch in der guten Stube nicht mehr so
feierlich zu.) Das selbstgemachte Wirkungsgefüge lockert sich, das
Wertgesetz schwindet. Es sieht gar aus, als kehrten wir zu unserm
Ursprung zurück!
Zurück nach vorn
Doch
was heißt da „zurück“? In den zwanziger Jahren machte der holländische
Anatom Louis Bolk eine aufsehenerregende Entdeckung. Im Laufe seiner
Gattungsgeschichte nähert sich die Morphologie des Homo sapiens
zusehends solchen Formen an, die bei unsern nächsten Stammverwandten
(den Pongiden) die spezifisch kindlichen sind; namentlich die Übergröße
des Kopfes, der Verlust des Haarkleides, die Überlänge der Gliedmaßen
bei einem verkürzten Rumpf und die Stellung der Wirbelsäule. Lauter
urtümliche, unspezifische Formen. „Primitivismen“, meinte Bolk. Das von
ihm beobachtete Entwicklungsgesetz nennt er Retardation.
Seine
These führte zu heftigen Debatten. Weniger um die Fakten als um ihre
Interpretation. Ist die Phylogenie eine „rezessive“ Umkehrung der
Ontogenie, ein Rückfall ins Archaische? Oder sind nicht vielmehr die
Kindheitsformen der Individuen ein „prozessiver“ Vorgriff auf die
Zukunft der Gattung? – Diese Interpretation hat sich unter der
(mißverständlichen) Bezeichnung Neotenie in der
wissenschaftlichen Literatur behauptet; die konkurrierenden Namen
Protogenese (Schindewolf) und Pädomorphose (Garstang) konnten sich nicht
durchsetzen. Was aber mag die Morphologie allein schon aussagen?
„Viel
wichtiger sind für das Problem der Menschwerdung die
Neotenie-Erscheinungen im Verhalten“, schrieb Konrad Lorenz, der neben
Arnold Gehlen das Thema in die Soziologie und Kulturanthropologie
eingeführt hat. Der Mensch verdanke seiner Neotonie „zwei konstitutive
Eigenschaften: erstens das Erhaltenbleiben der weltoffenen Neugier über
nahezu sein ganzes Leben, zweitens aber seine Entspezialisierung, die
ihn schon rein körperlich zum unspezialisierten Neugierwesen stempelt.“
Die Neugier setzt er, als eine Hingabe an das Unbestimmte, dem Spiel
gleich; und „aus Können und Spielen entsteht die Kunst“.
Damit
nicht genug. „Aus dem Neugierverhalten entwickelt sich beim Menschen
phylogenetisch wie ontogenetisch die Wissenschaft. Sie ist der Kunst
wesensmäßig so nah wie das Neugierverhalten dem Spiel.“ Die Folgerung
ergibt sich zwanglos: „Das neugierige Kind ist im ‚echten Manne’
durchaus nicht, wie Nietzsche meinte, versteckt: Es beherrscht ihn völlig!“
Und
auf einmal erscheint unsere gattungstypische Retardation, unsere
Reifungs-Hemmung nicht mehr negativ, als die Verhinderung von Etwas;
sondern positiv, als die Setzung von etwas Anderem: als Bewahrung und
Bewährung unseres Gattungsstils.
Zurück?
Ja, zurück zum offenen Ausgang. Jetzt erscheint Kindlichkeit als die
Bestimmung des Menschen. Natürlich nicht im finalen Sinn eines
zugrundeliegenden ‚Plans der Natur’. Sondern in dem Sinne, daß die
Entwicklungsdynamik von Homo, nachdem er einmal den Sprung aus der
bestimmten Nische in die weite Welt gewagt hatte, diejenigen
Dispositionen privilegieren mußte, die seine Entspezialisierung
förderten. Und das waren eben die kindlichen. So haben wir uns zur
Kindlichkeit selbst-bestimmt.
Infantilisierung?
Und
doch wird jetzt allenthalben die Infantilisierung der Kultur beklagt
(auch von Konrad Lorenz übrigens). Darunter werden die verschiedensten
Dinge verstanden, die nicht alle miteinander zu tun haben. Sofern die
Rede ist vom zeitgenössischen Bedürfnisbefriedigungsyndrom, ist wohl die
Klage berechtigt, aber die Zuordnung verfehlt. Süffisanter Selbstbezug
ist ganz unkindlich. Er ist aber typisch für die Adoleszenz. Das heißt
für die Kinder, die um keinen Preis der Welt welche bleiben wollen, seit
die Pädagogik ihnen die Unschuld madig gemacht hat.
Unreife
sei der Charakter des Infantilen. Die Reife eines Menschen ist aber
nichts, worauf er stolz sein darf. Sie ist der Grad von Bestimmtheit,
wonach’s nicht mehr weitergeht. Der lebendige Mensch ist unreif.
Zeitkritiker wie Helmut Schelsky haben die um sich greifende Unreife
vielmehr als Gleichgültigkeit gegen Verantwortung beschrieben. Doch
Verantwortung wofür? Für „die Folgen“. Diese Art von Verantwortung
gehört typologisch der entwerdenden Wirtschaftsgesellschaft zu, und daß
sie schwindet, liegt im Wesen der Sache.
Was
allerdings die aktuale Moralität der Haltung anlangt, kann das
Normalkind dem normalen Erwachsenen einiges vormachen, heut mehr denn
je. Moralität fragt gerade nicht nach den Folgen. Erwachsene werden
kindisch, wenn sie nicht kindlich bleiben können. (Die Unterscheidung
von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik ist was für Sachbearbeiter.)
Und
schließlich gilt als infantil die Vorherrschaft des Trivialen.
„Massenkultur“ ist das Synonym, und deren Hardware ist die
Unterhaltungsindustrie. Daß dort vieles nichts taugt, sei unbestritten.
Aber anderswo ist es nicht besser. Nein, trivial wird mit frivol
vermengt: „Da wird nichts mehr ernstgenommen!“ Richtiger müßte es
heißen: Da wird zuviel gelacht. Das ist aber gerade ihr Verdienst.
Die
Unterhaltungsindustrie hat dem Komischen einen Platz in der Welt
verschafft, den ihr die Hochkultur nie zugestehen wird. Dabei ist es
doch der wahre Ernst des Lebens. Gewiß, gewollte Lustigkeit ist albern.
Doch vieles alberne wirkt nur auf den ersten Blick so. (Und mancher
Ernst ist unfreiwillig komisch, aber das hat auch seinen Charme.)
Keiner
ist so wild aufs Lachen wie die Kinder. Ihre besondere Affinität zur
Unterhaltungsindustrie ist deren Rechtfertigung. Sie war es, die Kiddie Kulture
zur Welt gebracht hat. Sie ist das Feld, wo erstmals Kinder im
öffentlichen Bewußtsein tonangebend wurden. Und zwar nicht in
pädagogischer Absicht, sondern aus kommerziellem Kalkül, und das ist
auch sicherer: Filme wie E.T. und Jurassic Park müssen
so gemacht sein, daß wenigstens Mama und Papa mit ins Kino gehen, sonst
würden sie die gewaltigen Produktionskosten nicht einspielen. Und
mancher Erwachsene braucht seine Kinder als Ausrede, um sich Star Wars – Erste Episode
leisten zu können. Das nennt man schamhaft „Familienunterhaltung“ (das
Erfolgsrezept von Michael Jackson bis Steven Spielberg), doch geht es
darum, gezielt das „Kind im Manne“ heraus zu locken, und das ist eine
Kulturtat. Man bemerke übrigens den Witz: Die gar nicht so naiven
Amerikaner schreiben die culture ihrer Kiddies mit einem großen deutschen K…
Mythen
G ewichtiger
ist dieser Einwand gegen die Unerhaltungsindustrie: Die Flut der
elektronischen Bilder überschwemme die Kultur des diskurrierenden
Wortes. Das mache das Werk der Aufklärung zunichte und führe zu einer
„Remythologisierung“ des öffentlichen Lebens. Ein Rückschritt wäre das,
wenn man das mythische Denken als einen frühen, verunglückten Versuch
der theoretischen Durchdringung der Welt zum Zwecke ihrer
Beherrschbarkeit auffaßt: als einen Fehlstart der Rationalität.
Das
war es vielleicht auch, aber nicht nur, und nicht vor allem. Vor allem
war es eine künstlerische Anstrengung zur Sinndeutung, Sinngebung des
Lebens und der Welt. Als solche ist es durch das rationale Denken zu
keiner Zeit überholt, nicht einmal eingeholt worden.
Ein
Problem ist vielmehr, daß das rationale Denken in seinem Hochmut so
viel mythischen Stoff sich einverleibt und als eigene Errungenschaft
ausgegeben hat; namentlich den „Begriff“ der Kausalität. Es wäre im
Gegenteil ein Fortschritt, wenn mit der Freisetzung dieser diskursiv
verkappten mythischen Bilderwelt das rationale Denken von seinen letzten
vorbegrifflichen Schlacken gereinigt wird. Es wird dabei dann
allerdings auf das ihm gebührende Maß zurückgestutzt. Der Sinn des
Lebens liegt außerhalb seiner Reichweite.
Denn
er läßt sich auch bei lebhafter Einbildungskraft nicht aus den Dingen
errechnen. Man muß ihn hineinlesen, um ihn herauslesen zu können. Und
darum taugt das Bild zu seiner Darstellung besser als der Begriff: weil
es nie positiv ist, sondern immer problematisch. Es ist Kunst. Seine
Vieldeutigkeit verrät uns, daß es ein Rätsel bleibt, ob das Leben einen
Sinn hat oder nicht. Und zwar ein Rätsel, das sich nur dem stellt, der
es sich stellt. Dem, der bereit ist, Bilder zu betrachten. (Es hat
übrigens nur den Anschein, als ob die Begriffe keine Bilder wären. Sie
sind durch den Sprachgebrauch fungibel gemachte Bilder.)
Mythen,
Märchen und Legenden haben eine symbolische Grundform. Einer durch
typische Merkmale ausgezeichneten Person widerfährt ein Geschichte, die
paradigmatisch ist für die Rätsel des Lebens. (Auch der Mann ohne
Eigenschaften ist so ein Mythos.) Die Lösungen, die sie findet, mögen
dabei noch so unwahrscheinlich sein: Die Kunst sei eine Lüge, an der die
Wahrheit sichtbar wird, meinte Picasso.
Das Vermögen, das ihr zugehört, ist die Anschauung. Oder „Betrachtung“; das griechische theoría, im Gegensatz zur interessierten prâxis,
kann man so oder so übersetzen. Es bezeichnet jene Hingabe an das
jeweils Andere, in der ich von mir selbst und von Zweck und Bestimmung
ganz absehe. Es
ist eine Art des Außersichseins, die doch aber der ernste Sinn für das
Wirkliche ist. „Selbstvergessenheit“ heißt sie bei Fichte – und
kennzeichnet zugleich die ästhetische Erlebensweise.
Schön ist, was ohne
Interesse gefällt, klang das bei Kant, und Schiller übersetzt es sich
so: „Im ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null“. Wie nennt er
aber das Verhalten, das den Menschen in den ästhetischen Zustand führt?
Spiel. In diesem Sinne heißt es dann, der Mensch sei nur da ganz Mensch,
wo er spielt.
Die
Kindheit ist nicht nur die moralischste, sondern auch die ästhetischste
Zeit der Menschen; und eigentlich ist beides dasselbe – denn das Leben
selbst ist nur noch ästhetisch zu rechtfertigen…
Homo ludens victor
So
ganz neu ist die Idee, daß sich das Wesen des Menschen im Spiel erst
realisiere, also nicht. In diesem Jahrhundert wurde sie von einem andern
Holländer, dem Kulturhistoriker Johan Huizinga wieder ins Gespräch
gebracht. Bei ihm bekam sie eine polemische Note, sinnfällig in dem
Schlagwort Homo ludens, das er dem klassischen Homo faber
entgegensetzte. Sein Argument krankte daran, daß er zuviel beweisen
wollte. In seinem Geschichtsbild wurde das Spiel anstelle der Arbeit zur
Produktivkraft der Kultur.
Aber
da hatte er den Augenschein von zehn Jahrtausenden gegen sich! Seine
fleißig zusammengetragenen Beispiele bewiesen immer nur, daß „das
Spielelement“ den agileren Teil in der Kulturentwicklung ausmacht: den
Kitzel, den man sich leistet, wenn das Nötige besorgt ist. Aber
sattmachen kann gerade in der Kultur nur die Arbeit. Und um die
Seriosität seiner Darlegung nicht zusätzlich zu kompromittieren, gab
sich Huizinga Mühe, den Begriff des Spiels vom Bild des Kindlichen
abzusetzen. Das war der methodische Kardinalfehler: Als Kulturhistoriker fragte er nicht nach dem stammesgeschichtlichen Grund des Spielens der Menschen. Er setzte zu spät an und hat dann auf Sand gebaut.
Alle
fanden sein Buch interessant, aber keiner war überzeugt. Die
Fragestellung, „woher“ die Kultur stamme, ist ja auch scholastisch
unfruchtbar. Wo sie hinsollte, das wollen wir wissen. Und wenn man
Huizingas Argument vom Kopf auf die Füße stellt, dann zeigt sich, daß am
Ende Homo ludens den Homo faber doch noch unterkriegt. Es wird aber
auch Zeit.
Weniger Schule
„Auf
die Blüte folgt die unreife Frucht, die Blüte ist in sich eine
Vollkommenheit: Ebenso ist es mit dem Menschen“, hieß es bei Lichtenberg
– als die Arbeitsgesellschaft selber erst eine grüne Frucht war. War
sie dann aber herangereift, scherte sich der erwachsene Berufsmensch
überhaupt nur noch um die Früchte und überließ die Blüten seinen Kindern
und andren Spinnern. Lernen, reifen, spezialisieren – so kam
schließlich die allgemeine Schulpflicht, und die Blüten wurden in die
Sommerferien verbannt. Wir Erwachsene seien „nur Kinder von mehren
Jahren“, fügte Lichtenberg seinerzeit hinzu. Ach hätte er doch Recht
behalten! Aber wir wurden nicht bloß gealterte, sondern verminderte
Kinder; versauerte Kinder – enfants aigris, sagt Sartre.
In
Deutschland brauchte die Arbeitsgesellschaft bis ins letzte Drittel des
zwanzigsten Jahrhunderts, um sich auch in der Erziehung der Oberklassen
durchzusetzen. Der deutsche Studienrat und sein Gewährsmann, der
Ordinarius, waren sture Böcke, doch ihre Stunde schlug im Jahre ’68. Der
Kritische Rationalismus verkündete das Ende der Ideologien,
Nüchternheit kehrte ein in Hörsäle und Schulzimmer. Weltanschauungen und
Idealmodelle kamen außer Kurs, und übrig blieb, bescheiden,
unausdrücklich und unanfechtbar, das prosaische Alltagsmenschenbild all
derer, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen: der Spezialist; der
Berufsmensch, der „von seiner Sache was versteht“. An die Stelle von
humanistischer Bildung trat das Lernen für den Arbeitsmarkt –
Informationen sammeln, sichten, selegieren, speichern und verwerten…
(abgerundet durch grün-ganzheitliches Meinen, denn das qualifiziert für
den Staatsdienst).
Die
Zahl der Abiturienten vervielfachte sich, Universitäten schossen wie
Pilze aus dem Boden. Es war der letzte Triumph der Arbeitsgesellschaft,
denn mit dem Siegeszug der Informatik hatte ihr Niedergang schon
begonnen. Daß unsere Schulen den Herausforderungen der
post-industriellen Medien-Gesellschaft nicht gewachsen sein werden,
brüllen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Über Schulfragen wird
schon fast wieder so viel geredet wie Ende der Sechziger. Wenn dennoch
kaum etwas passiert, liegt das nur zur Hälfte an den leeren Kassen.
Und
zur andern Hälfte daran, daß sich Pädagogen das Problem wieder nur so
vorstellen können, als ginge es darum, daß Schule (verräterischer Weise
in solchen Fällen gern ohne Artikel genannt, als majestätisches
Absolutum) ihre Tentakel auf noch ein weiteres Stück von der Welt legen
soll. Für sie bedeutet Fortschritt immer nur Landnahme – bloß haben sie
diesmal einen mächtigen Bammel davor.
Die
Verlegenheit der Pädagogen vor der Cyberworld ist gottlob terminiert.
Daß sich die Kinder mit der neuen Technik besser zurecht finden als ihre
Eltern, gilt nämlich nur für diese Generation und für die nächste nicht
mehr. Aber eines bleibt: Die interessantesten, aufregendsten und
witzigsten Programme, die den Horizont am weitesten öffnen und das
Geschick am meisten fordern, sind die mit einem unbestimmten Ausgang;
nämlich Spiele (und das Hacken als ihre Krönung).
Mag da der Pedant auch immer noch von „lernen“ reden – einen Lehrer
braucht man dafür jedenfalls nicht. Denn der Kick beim Spiel ist, wenn
man’s selber hinkriegt. Und braucht man doch mal einen Rat, sollte es
kein Studienrat sein: Der Nachbarsjunge kann das besser, weil er „selber
nur spielt“. Und übrigens – das Ding heißt Heimcomputer, weil er zu
Hause am bequemsten ist. Sagen wir’s gerade raus: Diese Technologie
macht nicht „mehr Schule“ nötig, sondern weniger.
„Werte“
Mit
der Entwertung kindlicher Lern-Arbeit hat die obligatorische
öffentliche Schule ihr Proprium verloren. Und der Computer droht ihren
institutionellen Rahmen aufzuweichen. Wozu ist sie dann „eigentlich“
noch da? Sie selber ist ratlos. Umso bestimmter ist die öffentliche
Meinung: Dem Werteverfall soll sie begegnen! Gewaltbereitschaft,
Ausländerfeindlichkeit, Drogen, Jugendsekten, Grafitti in der S-Bahn…
Sozialdemokratische Schulsenatoren, christliche Kultusminister,
GEW-FunktionärInnen und Leitartikler, alle sind sich einig: Die Familie
versagt, die Kirchen sind machtlos und die Polizei kann auch nicht
überall sein. „Es ist eine Frage der Erziehung!“ Wertevermittlung – dazu
ist die Schule da.
Doch
wenn es sich vermitteln läßt, ist es kein Wert. Sondern vielleicht ein
sachliches Gut, das man besitzen kann und weiterreichen, wohlverpackt
oder scheibchenweise. Ein Wert „ist“ nämlich gar nicht, sondern er gilt.
Und zwar ganz oder gar nicht. Er bezieht sich nicht etwa auf mein Sein
und Haben, sondern auf mein Tun und Lassen. Er läßt sich nicht
realisieren, sondern nur verfolgen. Er ist eine Richtung und keine
Sache. Man „hat“ ihn nur als Problem, wörtlich: als Aufgabe. Die
Menschen sind nämlich, seit sie auf zwei Beinen stehen und aus der Natur
in die Welt aufgebrochen sind, mit der fatalen Gabe des freien Willens
geschlagen. Darum können sie nicht einfach vor sich hin leben wie alle
andere Kreatur, sondern müssen ihr Leben führen.
Aber
wo lang? Was immer uns als Anhaltspunkt dient auf unserm Weg, nennen
wir einen Wert; und nur aus diesem und keinem andern Grund: weil wir uns
danach gerichtet haben. Den Inbegriff all dieser Richtungswahlen nennen
wir dann „Sinn des Lebens“ – und ist doch nur ein anderer Name für das
eigentliche Problem, den freien Willen selbst (Schicksal nennen wir
seine Rückseite). Der ist und bleibt das wahre Rätsel. Mythen und
Märchen zeigen es uns gelegentlich so, als ob wir es lösen könnten. Doch
das ist nur ihr zauberhafter Schein; eine Lüge, die uns das Rätsel
reizend macht.
Denn
wäre es in der Wirklichkeit lösbar, dann wäre der Wille nicht frei.
„Vermitteln“ heißt allerdings, etwas zunächst einmal in seine
Bestandteile zerlegen und es dann zu einem logisch zwingenden Diskurs
aufreihen – nur so läßt sich ein Argument beweisen. Und was sich
beweisen läßt, war eine Lösung und kein Rätsel. Wer nun den mythischen
Schein der Lösung für Bares nimmt und gar Andern, noch dazu arglosen
Kindern, seine einzelnen Werte als dessen Scheidemünzen andrehen will,
weiß noch nichts vom Paradox der Freiheit. Natürlich kann es auch solche
Lehrer geben. Aber nicht an einer öffentlichen Schule in einem
freiheitlich verfaßten Gemeinwesen.
Immer neu
„Die
Moral sagt schlechthin nichts bestimmtes. Sie ist das Gewissen, eine
bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer
einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen“, notierte Novalis,
als er Fichte gehört hatte. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als
daß man Sittlichkeit nicht lernen kann wie irgend ein Pensum. Kann aber
darum keiner was für den andern tun? Mußá jeder wieder ganz allein
aufbrechen und sehen, wo er bleibe? Nachdem so viel geschehen ist in der
Geschichte und sich schon so viele vor uns an den Rätseln der Welt
versucht haben? Dann hätten sie uns all ihre Zeugnisse ja ganz umsonst
nachgelassen! Nein, definieren läßt sich das Rätsel vom Sinn allerdings
nicht. Aber es läßt sich zeigen.
Und das immerhin kann ein Lehrer tun, wenn ihm seine Schule dafür Raum läßt.
Unter
den hinterlassenen Reichtümern der vergangenen Generationen ist kaum
einer, der ganz allein dem Stoffwechsel diente und der Erhaltung des
Leben so, wie es war. Fast jeder Gegenstand, jedes Werk weist in seiner
Gestaltung einen kleinen Überschuß – Entwurf, disegno, design
– auf, der nicht nötig gewesen wäre zu seinem bloß sachlichen Nutzen.
Dieses Mehr betrachten wir als seine ästhetische Seite. Sie war immer
auch eine Art Stellungnahme zur Frage nach dem Sinn der Welt, mal mehr,
mal weniger absichtlich. Und je mehr sein Schöpfer jeweils selber
meinte, in seinem Werk die Frage beantwortet zu haben, umso sicherer
erkennen wir Kunst darin, und die ist uns noch rätselhafter als die
Natur, weil sie sich selbst für eine Lösung hält.
Seit
der Romantik nun, als die Kunst modern wurde, bescheidet sie sich,
nein: macht sie sich’s zur Ehre, das Rätsel nur noch darzustellen. Sie
begibt sich ausdrücklich in Gegensatz zu Industrie und Wissenschaft, die
beide versprechen, spätestens morgen zu klären, was heute noch im
Dunkeln liegt. Industrie und Wissenschaft behalten Recht, denn das Leben
geht weiter. Doch je besser sie uns das Leben und die Welt erklären, um
so deutlicher wird auch, daß deren Sinn nicht in ihnen liegt, sondern
außerhalb, als das immer neue Problem.
Ästhetische Bildung
Als
solches läßt es sich nicht begreifen und erlernen, sondern nur
anschauen. Sein Medium ist nicht Logik, sondern Ästhetik. Das ist ein
Erleben, wo nicht das Urteil erst – nach Analyse und Kritik – auf die
Wahrnehmung folgt, sondern „auf einmal“ mit ihr selbst gegeben ist, uno actu.
Nicht daß es aller Kritik entzogen wäre. Es ist nicht diskursiv, aber
darum ist es noch lange nicht irrational; doch erst einmal muß es da
sein, und das muß jeder selbst vollbringen – andemonstrieren läßt es
sich nicht. Das unterscheidet Bildung von Lernen. Güter lassen sich
wägen und messen, aber Werte muß man erlebt haben. Auf
Unterrichtseinheiten kann man es nicht verteilen, und methodischer Fleiß
würde nur stören, denn er verengt das Wahrnehmungsfeld. Darstellbar ist
es nicht als Argument und Kalkül, sondern in Bildern und Geschichten.
Es erschließt sich nicht durch Analyse, sondern durch Betrachtung. Als
die Hingabe an das Unbestimmte steht sie dem Spiel näher als der Arbeit.
Sie ist der „ästhetische Zustand“. Die Reichtümer all unserer Kulturen
bieten ihr einen unerschöpflichen Fundus.
Und
Cyberworld liefert ein Instrument, dessen Grenzen noch gar nicht zu
ermessen sind. Daß es aber so künstlich ist, muß niemanden schrecken,
denn so sind wir selbst, quasi von Natur. Die Verspieltheit der Kinder
weist schon in die richtige Richtung.
*) mhd. arebeit: Mühsal ; engl. labour von lat. labare: „unter einer Last wanken“, frz. travail von lat. trepanum - ein Folterinstrument
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