Die schlechteste Note in seinem Zeugnis ist eine Drei, doch für die
schämte sich ein zehn Jahre alter Junge aus Schleswig so sehr, dass er
sich nicht nach Hause traute. Stattdessen fuhr er zum Bahnhof, stieg in
einen Zug nach Hamburg und reiste von dort weiter nach Basel.
Obwohl der Junge eine gültige Fahrkarte dabei hatte, wurde ein
Schaffner, der zwischen Freiburg und Basel die Fahrkarten der Reisenden
kontrollierte, misstrauisch und alarmierte die Polizei. Die Eltern des
Zehnjährigen hatten ihn schon als vermisst gemeldet.
Als der Zug um 23 Uhr in Basel ankam, wurde der Schüler von
Polizisten der deutschen Bundespolizei in Empfang genommen und nach
Lörrach gebracht.
Nota. - Am Nachmittag wurde der Junge von seinem Vater in Lörrach abgeholt und ist wohlauf. - In einer Zeit, wo es auf den Zeugnissen nur noch Einsen und Zweien gibt, ist eine Drei ('befriedigend') Grund zu tiefster Verzweiflung. Bevor Sie voreilig rufen: Was müssen das für Eltern sein! - fragen Sie besser: Was sind denn das für Zeugnisse? Die kann man auch ruhig ganz abschaffen. JE
Alleinstehende Leute sollten ab einem bestimmten Alter gesetzlich verpflichtet sein, ein Haustier zu sich zu nehmen. Es ist nicht gut, wenn einer über Jahre niemand anders hat als sich selbst, an den er denken muss. Es ist nicht gut für ihn, doch das geht die Allgemeinheit nichts an. Es ist aber vor allem nicht gut für seine Nach- barn, und das geht die Allgemeinheit durchaus was an. Es ist nicht gut, wenn in einem Gemeinwesen die Kinder gehalten werden wie in einem Zoo. Es ist nicht gut für sie, und schon das geht das Geimeinwesen allerhand an. Aber es ist unmittelbar schlecht für das Gemein- wesen selbst, wenn kindliche Lebensart als exotischer Sonderfall gelten muss und nicht als Bestandteil und Bedingung der Normalität. Kindlichkeit ist die Voraussetzung von Erwachsenwerden nicht nur im individuellen Einzelfall, sondern im gesellschaftlichen Großen und Ganzen.
Was im Computer ist, ist noch längst nicht im HirnBildungstheoretiker laufen Sturm gegen die
Umstellung der deutschen Lehrpläne auf Kompetenzorientierung. Gut so.
Wir haben eine Kultusministerkonferenz, die sich
unablässig um zeitgemäße Bildungsstandards kümmert. Bekanntlich sollen
das heute stets Kompetenzstandards sein. Klingt verheißungsvoll.
Kompetenz ist doch etwas Gutes. Wörtlich übersetzt: Zuständigkeit. Ohne
Leute, die auf Grund von Sachkenntnis, Erfahrung, Urteilsvermögen,
Geschicklichkeit für ein bestimmtes Gebiet zuständig sind, wären wir
alle aufgeschmissen. Kompetente Handwerker, Ärzte, Rechtsanwälte,
Computerfachleute kann man sich nur wünschen.
Was also soll der Sturmlauf gegen das Kompetenzkonzept, der für
dieses Wochenende in Frankfurt unter dem Titel "Kompetent in Kompetenz?
1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz" angekündigt ist? Im
Einladungstext heißt es: Nachdem die Lehrpläne der Schulen
flächendeckend auf Kompetenzorientierung umgestellt seien, "schwappt
die Welle auch durch die universitären Curricula - zusammen mit den
(in)kompetenzgeschulten Abiturienten, die in Stützkursen notdürftig
studierfähig gemacht werden müssen". Auf der Rednerliste stehen neben
Bildungstheoretikern wie Konrad Paul Liessmann auch Praktiker wie
Mathias Brodkorb, der Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern.
Was haben diese Leute gegen Kompetenz? Gar nichts. Aber viel
gegen die Eindampfung von Kompetenz auf Können: dass am Bildungsprozess
nicht mehr interessieren soll, was jemand erfahren hat und weiß, sondern
nur noch, "was hinten rauskommt" (Helmut Kohl). Am Ende eines jeden
Lernschritts soll ein umschreibbares und überprüfbares Können stehen.
Wenn man dies Können "Kompetenz" nennt, werden noch die bescheidensten
Lernfortschritte zum Kompetenzerwerb aufgeblasen. Ein Kind, das den
Zeigefinger in eine bestimmte Richtung strecken kann, hat
Zeigekompetenz, seine ersten Schritte attestieren ihm Gehkompetenz. Es
gibt überhaupt nur noch kompetente Kinder. Die Kehrseite dieser
Schmeichelei ist, dass Kinder auch nur noch unter
Kompetenzgesichtspunkten wahrgenommen werden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Millionen in
Kompetenzmodellierungsprogramme gesteckt. Aufwendig versuchen diese, die
spezifische Kompetenz zu operationalisieren, über die jemand verfügen
soll, wenn er in der Lage ist zu gehen, bis zehn zu zählen, Verben von
Adjektiven zu unterscheiden, einen mittelschweren Text zu verstehen, ein
Integral zu lösen oder eine Sonate zu spielen. Doch Menschen kommen
dabei nur noch als Kompetenzbündel vor. Der gemeinsame Fundus, aus dem
diese disparaten Kompetenzen hervorgehen, die Person, in der sie
zusammenhängen, interessiert nicht mehr. Sie lässt sich ja nicht
isolieren und validieren wie einzelne Verhaltensweisen. Nur die aber
zählen noch. Kompetenzen werden behavioristisch reduziert: zu geldwerten
Verhaltensweisen, von denen man beim Gang zum Arbeitsmarkt durch Schule
und Hochschule möglichst viele anhäufen soll.
Geografie lässt sich nicht durch Google Earth ersetzen
Und warum kommt dabei so wenig "hinten raus",
obwohl der Unterricht doch immer kompetenzträchtiger zu werden
verspricht? Warum werden die Klagen der Betriebe über gravierende Mängel
bei den Auszubildenden in den Grundrechenarten und der Rechtschreibung
immer lauter? Warum wächst die Zahl der Nachhilfekurse für
Studienanfänger in Mathematik und Naturwissenschaften stetig an?
Weil Lernen nicht so funktional-linear-kleinschrittig verläuft,
wie das Kompetenzkonzept es wünscht. Und weil Maschinen niemandem
elementare Lernvorgänge ersparen. Was im Computer ist, ist noch längst
nicht im Hirn. Und das Hirn ist keine Festplatte. Addieren und
Subtrahieren an den Rechner delegieren, Orthografie ans
Rechtschreibprogramm, Vokabeln und Geschichtsdaten nachschlagen statt
memorieren, Geografie durch Google Earth ersetzen, befreit vom Ballast
herkömmlichen Wissens kreativ durchs Netz surfen, dabei spielend lernen
und unentwegt mediale Kompetenzen ansammeln: So funktioniert das nicht.
Da bleibt wenig hängen. Ein mentaler Boden, worin Erlebtes Wurzeln
schlagen und sich mit anderem zu dauerhaften Kompetenzen verbinden
könnte, bildet sich erst gar nicht. Wider den kompetenzversessenen Digitalpakt Am 20. Juni hat ein "Bündnis für
humane Bildung" einen offenen Brief an die Kultusminister adressiert und
den "Digitalpakt Schule", für den das Bundesbildungsministerium fünf
Milliarden Euro vorgesehen hat, als "Irrweg" bezeichnet. Es würden pro
Jahr für jede Schule lediglich etwa 25 000 Euro abfallen, ohne dass klar ist, wer die Folgekosten für Betreuung und Wartung trägt.
Die Verfasser des Briefs nennen etliche empirische Studien, die
den Nutzen des digitalisierten Unterrichts belegen sollten, aber diesen
Beweis gerade schuldig bleiben: etwa den OECD-Bericht "Students,
Computers and Learning" von 2015 oder die Hamburger BYOD-Studie. Auch Erfahrungen in Übersee werden erwähnt: "Letztes Jahr wurden in Australien die für 2,4
Milliarden Dollar angeschafften Laptops wieder eingesammelt, weil die
Schüler/-innen alles Mögliche damit gemacht haben - nur nicht gelernt."
Und dann ist da die Studie Blikk-Medien, in der Kinderärzte die Folgen
früher und starker Nutzung digitaler Medien dokumentieren: eine
signifikante Zunahme von Schlaf- und Konzentrationsstörungen,
verzögerter Sprachentwicklung, Hyperaktivität und innerer Unruhe.
Die Frankfurter Kompetenzkonferenz, der offene Brief des
Bündnisses für humane Bildung: Sie zeigen, es tut sich was. Es wächst
die Zahl derer, die sich die Schrumpfung des Menschen auf eine
Verfügungsmasse von Verhaltensweisen nicht länger gefallen lassen
wollen, ebenso wenig wie die Degradierung von Lehrern
zu Lernbegleitern, zu Anhängseln von Arbeitsblättern oder
Computerprogrammen. Es wächst die Rückbesinnung darauf, dass Kompetenzen
einem inneren Fundus an- und einwachsen müssen, wenn sie nicht sogleich
wieder verfliegen sollen, und dass sich dieser Fundus nicht primär an
Maschinen bildet, sondern in der sprachgeleiteten, keineswegs immer nur
harmonischen Auseinandersetzung mit Mitmenschen, in der Regel älteren,
die jüngeren lebensrelevante Sachverhalte eröffnen - vom Elternhaus an
bis weit über die Schulzeit hinaus.
Der dabei entstehende Fundus ist nicht operationalisierbar.
Umgekehrt: Alles Operationalisierbare geht aus ihm hervor. Er selbst
aber - der innere Niederschlag einer Erlebensvielfalt - macht die
Bildung eines Menschen aus. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber
in der Digitalgesellschaft muss man so tun, als wäre es die
neueste Entdeckung.
Hier drängt es sich auch auf, eine Buchrarität zu erwähnen, die
exemplarisch für Rückbesinnung stehen kann. Der Pädagoge Erhard Wiersing
hat eine mehr als Tausend Seiten umfassende "Theorie der Bildung"
vorgelegt. Sie setzt bei etwas an, was es in den Kompetenzkatalogen gar
nicht mehr gibt: der Person. Sie ist für den Autor mehr als das Selbst,
das Ich oder die Vernunft, nämlich das Zusammenspiel all dieser Momente:
gleichermaßen Bildungsobjekt wie Bildungssubjekt. Die Entwicklung der
Person ist zudem immer auch "Fortentwicklung animaler Eigenschaften und
Fähigkeiten", weshalb ausgiebig die physische Vorformung erörtert wird,
die Menschenkinder immer schon mitbringen, ehe ihre kulturelle Formung
beginnt. Die Wiedergabe des aktuellen Wissensstands in Genetik und
Neurobiologie gehört zu dieser Bildungstheorie ebenso wie eine
gründliche Nachzeichnung des menschlichen Spracherwerbs, eine breit
angelegte Aufbereitung der Debatte um die Willensfreiheit und die
Herleitung des spezifisch menschlichen Bewusstseins samt seiner
kognitiven, moralischen, sozialen und politischen Besonderheiten aus der
Freiheitsdimension, die sich in menschlichen Wesen auf singuläre Weise
aufgetan hat.
So ist ein Kompendium entstanden, das alle
relevanten Aspekte des Bildungsbegriffs berührt und seine Geschichte
wachhält. Man kann darin schlecht "googeln". Als Nachschlagewerk für
Zusammenhänge ist es jedoch eine Fundgrube. Gegen den
kompetenzversessenen Digitalpakt braucht man beides: sowohl die
punktuelle öffentlichkeitswirksame Intervention als auch den
antizyklischen Theorieentwurf, der sich in aktuelle Bildungsdebatten
nicht explizit einmischt, aber gerade dadurch ein Gefühl dafür
verschafft, was in diesen Debatten verloren geht. Seine volle Wirkung
entfaltet er allerdings nur, wenn man in ihn eintaucht, ohne sich
sogleich zu fragen, welche Kompetenzen er denn verschafft.
Christoph Türcke ist Philosoph. Er lehrte an der
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und veröffentlichte zuletzt
die Bücher "Mehr! Philosophie des Geldes" (2015) und "Lehrerdämmerung: Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet" (2016).