Was im Computer ist, ist noch längst nicht im Hirn Bildungstheoretiker laufen Sturm gegen die Umstellung der deutschen Lehrpläne auf Kompetenzorientierung. Gut so.
Wir haben eine Kultusministerkonferenz, die sich unablässig um zeitgemäße Bildungsstandards kümmert. Bekanntlich sollen das heute stets Kompetenzstandards sein. Klingt verheißungsvoll. Kompetenz ist doch etwas Gutes. Wörtlich übersetzt: Zuständigkeit. Ohne Leute, die auf Grund von Sachkenntnis, Erfahrung, Urteilsvermögen, Geschicklichkeit für ein bestimmtes Gebiet zuständig sind, wären wir alle aufgeschmissen. Kompetente Handwerker, Ärzte, Rechtsanwälte, Computerfachleute kann man sich nur wünschen.
Was also soll der Sturmlauf gegen das Kompetenzkonzept, der für dieses Wochenende in Frankfurt unter dem Titel "Kompetent in Kompetenz? 1. Frankfurter (In-)Kompetenzkonferenz" angekündigt ist? Im Einladungstext heißt es: Nachdem die Lehrpläne der Schulen flächendeckend auf Kompetenzorientierung umgestellt seien, "schwappt die Welle auch durch die universitären Curricula - zusammen mit den (in)kompetenzgeschulten Abiturienten, die in Stützkursen notdürftig studierfähig gemacht werden müssen". Auf der Rednerliste stehen neben Bildungstheoretikern wie Konrad Paul Liessmann auch Praktiker wie Mathias Brodkorb, der Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern.
Was haben diese Leute gegen Kompetenz? Gar nichts. Aber viel gegen die Eindampfung von Kompetenz auf Können: dass am Bildungsprozess nicht mehr interessieren soll, was jemand erfahren hat und weiß, sondern nur noch, "was hinten rauskommt" (Helmut Kohl). Am Ende eines jeden Lernschritts soll ein umschreibbares und überprüfbares Können stehen. Wenn man dies Können "Kompetenz" nennt, werden noch die bescheidensten Lernfortschritte zum Kompetenzerwerb aufgeblasen. Ein Kind, das den Zeigefinger in eine bestimmte Richtung strecken kann, hat Zeigekompetenz, seine ersten Schritte attestieren ihm Gehkompetenz. Es gibt überhaupt nur noch kompetente Kinder. Die Kehrseite dieser Schmeichelei ist, dass Kinder auch nur noch unter Kompetenzgesichtspunkten wahrgenommen werden.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Millionen in Kompetenzmodellierungsprogramme gesteckt. Aufwendig versuchen diese, die spezifische Kompetenz zu operationalisieren, über die jemand verfügen soll, wenn er in der Lage ist zu gehen, bis zehn zu zählen, Verben von Adjektiven zu unterscheiden, einen mittelschweren Text zu verstehen, ein Integral zu lösen oder eine Sonate zu spielen. Doch Menschen kommen dabei nur noch als Kompetenzbündel vor. Der gemeinsame Fundus, aus dem diese disparaten Kompetenzen hervorgehen, die Person, in der sie zusammenhängen, interessiert nicht mehr. Sie lässt sich ja nicht isolieren und validieren wie einzelne Verhaltensweisen. Nur die aber zählen noch. Kompetenzen werden behavioristisch reduziert: zu geldwerten Verhaltensweisen, von denen man beim Gang zum Arbeitsmarkt durch Schule und Hochschule möglichst viele anhäufen soll.
Geografie lässt sich nicht durch Google Earth ersetzen
Und warum kommt dabei so wenig "hinten raus", obwohl der Unterricht doch immer kompetenzträchtiger zu werden verspricht? Warum werden die Klagen der Betriebe über gravierende Mängel bei den Auszubildenden in den Grundrechenarten und der Rechtschreibung immer lauter? Warum wächst die Zahl der Nachhilfekurse für Studienanfänger in Mathematik und Naturwissenschaften stetig an?
Weil Lernen nicht so funktional-linear-kleinschrittig verläuft, wie das Kompetenzkonzept es wünscht. Und weil Maschinen niemandem elementare Lernvorgänge ersparen. Was im Computer ist, ist noch längst nicht im Hirn. Und das Hirn ist keine Festplatte. Addieren und Subtrahieren an den Rechner delegieren, Orthografie ans Rechtschreibprogramm, Vokabeln und Geschichtsdaten nachschlagen statt memorieren, Geografie durch Google Earth ersetzen, befreit vom Ballast herkömmlichen Wissens kreativ durchs Netz surfen, dabei spielend lernen und unentwegt mediale Kompetenzen ansammeln: So funktioniert das nicht. Da bleibt wenig hängen. Ein mentaler Boden, worin Erlebtes Wurzeln schlagen und sich mit anderem zu dauerhaften Kompetenzen verbinden könnte, bildet sich erst gar nicht.
Wider den kompetenzversessenen Digitalpakt
Am 20. Juni hat ein "Bündnis für humane Bildung" einen offenen Brief an die Kultusminister adressiert und den "Digitalpakt Schule", für den das Bundesbildungsministerium fünf Milliarden Euro vorgesehen hat, als "Irrweg" bezeichnet. Es würden pro Jahr für jede Schule lediglich etwa 25 000 Euro abfallen, ohne dass klar ist, wer die Folgekosten für Betreuung und Wartung trägt.
Die Verfasser des Briefs nennen etliche empirische Studien, die den Nutzen des digitalisierten Unterrichts belegen sollten, aber diesen Beweis gerade schuldig bleiben: etwa den OECD-Bericht "Students, Computers and Learning" von 2015 oder die Hamburger BYOD-Studie. Auch Erfahrungen in Übersee werden erwähnt: "Letztes Jahr wurden in Australien die für 2,4 Milliarden Dollar angeschafften Laptops wieder eingesammelt, weil die Schüler/-innen alles Mögliche damit gemacht haben - nur nicht gelernt." Und dann ist da die Studie Blikk-Medien, in der Kinderärzte die Folgen früher und starker Nutzung digitaler Medien dokumentieren: eine signifikante Zunahme von Schlaf- und Konzentrationsstörungen, verzögerter Sprachentwicklung, Hyperaktivität und innerer Unruhe.
Die Frankfurter Kompetenzkonferenz, der offene Brief des Bündnisses für humane Bildung: Sie zeigen, es tut sich was. Es wächst die Zahl derer, die sich die Schrumpfung des Menschen auf eine Verfügungsmasse von Verhaltensweisen nicht länger gefallen lassen wollen, ebenso wenig wie die Degradierung von Lehrern zu Lernbegleitern, zu Anhängseln von Arbeitsblättern oder Computerprogrammen. Es wächst die Rückbesinnung darauf, dass Kompetenzen einem inneren Fundus an- und einwachsen müssen, wenn sie nicht sogleich wieder verfliegen sollen, und dass sich dieser Fundus nicht primär an Maschinen bildet, sondern in der sprachgeleiteten, keineswegs immer nur harmonischen Auseinandersetzung mit Mitmenschen, in der Regel älteren, die jüngeren lebensrelevante Sachverhalte eröffnen - vom Elternhaus an bis weit über die Schulzeit hinaus. Der dabei entstehende Fundus ist nicht operationalisierbar. Umgekehrt: Alles Operationalisierbare geht aus ihm hervor. Er selbst aber - der innere Niederschlag einer Erlebensvielfalt - macht die Bildung eines Menschen aus. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber in der Digitalgesellschaft muss man so tun, als wäre es die neueste Entdeckung.
Hier drängt es sich auch auf, eine Buchrarität zu erwähnen, die exemplarisch für Rückbesinnung stehen kann. Der Pädagoge Erhard Wiersing hat eine mehr als Tausend Seiten umfassende "Theorie der Bildung" vorgelegt. Sie setzt bei etwas an, was es in den Kompetenzkatalogen gar nicht mehr gibt: der Person. Sie ist für den Autor mehr als das Selbst, das Ich oder die Vernunft, nämlich das Zusammenspiel all dieser Momente: gleichermaßen Bildungsobjekt wie Bildungssubjekt. Die Entwicklung der Person ist zudem immer auch "Fortentwicklung animaler Eigenschaften und Fähigkeiten", weshalb ausgiebig die physische Vorformung erörtert wird, die Menschenkinder immer schon mitbringen, ehe ihre kulturelle Formung beginnt. Die Wiedergabe des aktuellen Wissensstands in Genetik und Neurobiologie gehört zu dieser Bildungstheorie ebenso wie eine gründliche Nachzeichnung des menschlichen Spracherwerbs, eine breit angelegte Aufbereitung der Debatte um die Willensfreiheit und die Herleitung des spezifisch menschlichen Bewusstseins samt seiner kognitiven, moralischen, sozialen und politischen Besonderheiten aus der Freiheitsdimension, die sich in menschlichen Wesen auf singuläre Weise aufgetan hat.
So ist ein Kompendium entstanden, das alle relevanten Aspekte des Bildungsbegriffs berührt und seine Geschichte wachhält. Man kann darin schlecht "googeln". Als Nachschlagewerk für Zusammenhänge ist es jedoch eine Fundgrube. Gegen den kompetenzversessenen Digitalpakt braucht man beides: sowohl die punktuelle öffentlichkeitswirksame Intervention als auch den antizyklischen Theorieentwurf, der sich in aktuelle Bildungsdebatten nicht explizit einmischt, aber gerade dadurch ein Gefühl dafür verschafft, was in diesen Debatten verloren geht. Seine volle Wirkung entfaltet er allerdings nur, wenn man in ihn eintaucht, ohne sich sogleich zu fragen, welche Kompetenzen er denn verschafft.
Christoph Türcke ist Philosoph. Er lehrte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und veröffentlichte zuletzt die Bücher "Mehr! Philosophie des Geldes" (2015) und "Lehrerdämmerung: Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet" (2016).
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