Dienstag, 15. September 2015

Mythos Trauma.

H. Füssli, Der Nachtmar
aus The New York Times, 25. 1. 2010

Von Dr. Abigail Zuger

Bei all den begründeten Interessen, die in der gegenwärtigen medizinischen Landschaft lauern, ist es kein Wunder, dass die wissenschaftliche Methodik manchmal beiläufig Schaden nimmt. Fälle von verschwiegenen oder manipulierten Daten sind wie finstere Typen in einem schlechtbeleumdeten Viertel: Stets wird über sie gemunkelt, aber keiner wagt sich wirklich an sie ran.

Auch Leser, die keinen persönlichen oder beruflichen Bezug zum sexuellen Kindesmissbrauch haben, werden darum „The Trauma Myth“ mit Gewinn lesen – ein kurzer Abriss eines ganz besonders belasteten Kapitels.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Harvard Universität hat die Psychologin Susan A. Clancy Mitte der neunziger Jahre erwachsene Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch interviewt in der Erwartung, die konventionelle Weisheit bestätigt zu finden, je traumatischer der Missbrauch war, um so gestörter ist das Kind als Erwachsener. „Alles, was ich bis dahin wusste, wies darauf hin, dass der Missbrauch ein furchtbares Erlebnis ist und dass das Kind durch das Geschehen von Furcht, Schreck und Grauen traumatisiert wird.“

Doch ihre vielen sorgfältig dokumentierten Interviews erbrachten nichts dergleichen. Gewöhnlich war der Missbrauch für das Kind verstörend gewesen, aber nicht traumatisch in dem üblichen Sinn des Worts. Erst wenn das Kind alt genug wurde, um das Geschen wirklich zu begreifen – manchmal viele Jahre später -, traten Furcht, Schreck und Grauen ein. Und erst zu diesem Zeitpunkt wurde die Erfahrung traumatisch und begann ihre bekannte zerstörerische Wirkung.

Dr. Clancy überprüfte ihre Ergebnisse, fand sie bestätigt und war überzeugt. Und als sie ihre Daten veröffentlichte, war ihr Publikum zutiefst empört.

Erstens schlugen ihre Daten etlichen Jahrzehnten politisch korrekter Traumatheorie, dem Feminismus und der sexueller Aufklärungsarbeit ins Gesicht.

Zweitens fand Dr. Clancy, dass die Welt wenig Geschmack für wissenschaftliche Subtilitäten hat: „Leider übersetzten die Leute meine Wort ‚nicht traumatisch im Moment des Geschehens’ mit ‚Es schadet den Opfern auch später nicht’. Einige meinten, schlimmer noch, ich gäbe den Opfer die Schuld am Missbrauch.“

Dr. Clancy erzählt, wie sie in wissenschaftliche und Laienkreisen zum Paria wurde. Sie wurde in der Presse als „Freundin der Pädophilen“ gekreuzigt, Kollegen boykottierten ihre Kolloquien, und wohlmeinende Ratgeber meinten, wenn sie so weitermachte, verbaue sie sich jede Möglichkeit einer akademischen Laufbahn.

All der Krakeel um ein kleines Wort – „Trauma“ – und eine Verschiebung des Zeitplans. Was kann daran so entscheidend sein?

Dr. Clancy vermutet mehrere Gründe für derlei Leidenschaft. Doch vor allem wurde ein ganzes akademisches und therapeutisches Gebäude auf dem alten Modell des sexuellen Missbrauchs errichtet; ihre Ergebnisse könnten einen Berg von teuren Behandlungen und Präventionsprojekten untergraben.

Doch sei es gerade ihr Modell, das den Opfern wirklich helfen könnte. Erwachsener Opfer von Kindesmissbrauch sind in der Regel tief beschämt davon, wie sie sich als Kinder verhalten hatten. Weil sie sich nicht gewehrt oder um Hilfe geschrieen hatten, verdächtigen sie sich selber der Mittäterschaft. Es kann sehr erleichternd für sie sein, zu erfahren, dass ihre Reaktion oder deren Ausbleiben ganz normal war.

Dr. Clancys Modell bringt auch Licht in das leidige Thema verdrängter Erinnerungen. Wirkliche traumatische Erlebnisse werden in der Regel lebhaft erinnert. Doch wenn Momente sexuellen Missbrauchs lediglich eine von vielen Verstörungen sind, die die Kindheit kennzeichnen, können sie durchaus vergessen werden. „Warum soll ein Kind sich daran erinnern, wenn sie im Moment des Geschehens selbst nicht sonderlich traumatisch waren?“ Erst wenn sie neu aufarbeitet und wirklich verstanden werden, werden sie zum Brennpunkt.

Auch ohne diese Konsequenzen ist die Moral von Dr. Clancys Geschichte klar: Wissenschaft sollte der Wahrheit dienen, nicht dem Wunschdenken. Wenn harte Daten einer liebgewordenen Theorie widersprechen, muss die Theorie weichen.

Dr. Clancy schreibt mit der Präzision und Geduld eines guten Lehrers auf schwierigem Terrain. Ihr Stil könnte nicht klarer sein und ihre Argumente werden ein ums andere Mal demonstriert. Aber bei Amazon.com hat sie ein entrüsteter Leserrezensent bereits niedergemacht. „Es ist bedrückend“, schrieb er, „dass ‚Experten’ wie Susan Clancy ein Buch in den Druck bringen können, dessen Titel nicht nur falsch ist, sondern das auch noch Sexualverbrechern sagt, ‚Macht weiter so, missbraucht Kinder sexuell, sie mögen das und sie werden nicht einmal davon traumatisiert’.“

Wissenschaft ist nicht stets der Begleiter einer guten Gesinnung, und guter Schreibstil offenbar auch nicht.

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