«Sitzen gefährdet Ihre Gesundheit!»
Bewegungsmangel ist ein eigenständiger Risikofaktor, der die Lebensspanne ebenso reduziert wie Bluthochdruck, Übergewicht oder Diabetes. Fachleute fordern eine breite Förderung körperlicher Aktivität.
von Sibylle Wehner-von Segesser
Die genetische Ausstattung des Menschen wurde zu einer Zeit geprägt, als Agilität zu den zentralen Überlebensstrategien zählte: Stets waren unsere Vorfahren auf dem Sprung – sei es, um Beute zu jagen oder vor Gefahr zu fliehen. Mit der rasanten zivilisatorischen Entwicklung hin zu einfacherer Nahrungsbeschaffung, bequemen Fortbewegungs- und Arbeitsmitteln sowie globaler elektronischer Vernetzung vermochte unser genetisch-physiologisches Programm nicht Schritt zu halten. Die moderne Lebensweise steht quer zu unserem Erbe.
Mit den Busfahrern fing es an
In der Tat bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen seit Jahrzehnten die negativen Folgen von Bewegungsmangel, die sich in Form erhöhter Erkrankungsraten und vorzeitigem Tod äussern. Am Anfang stand 1953 der Befund, dass Londoner Busfahrer doppelt so häufig an Herz-Kreislauf-Leiden starben wie die mobileren Billettkontrolleure. Seither gewannen die Zusammenhänge zwischen Bewegung, Erkrankungsrisiken und Lebensspanne zunehmend an Kontur.
Dabei erwies sich ein niedriger Fitnessgrad als Folge mangelnder Aktivität als eigenständiger Risikofaktor, der die Lebenserwartung ebenso stark einschränken kann wie Bluthochdruck, Rauchen, Übergewicht oder Diabetes.Wissenschafter der Harvard-Universität haben unlängst errechnet, dass Bewegungsarmut 6 bis 10 Prozent aller Fälle von nichtübertragbaren Krankheiten verursacht; etwa jeder elfte Todesfall geht auf ihr Konto.
Andererseits senkt körperliche Aktivität auch per se – also nicht allein durch ihren günstigen Einfluss auf die altbekannten Risikofaktoren – das Erkrankungs- und Sterberisiko. Zudem zeigen sich die vorteilhaften Effekte weitgehend unabhängig von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand. Eine gesunde junge Frau profitiert demnach ebenso wie ein älterer Mann, der bereits einen Herzinfarkt erlitten hat oder unter Diabetes leidet. Auch Übergewicht oder Fettleibigkeit schmälert den Nutzen von Bewegung nicht: Dicke, die sich körperlich betätigen, sind gegenüber schlanken, aber bewegungsmässig passiven Couch-Potatoes sogar im Vorteil.
«Sitzen gefährdet Ihre Gesundheit!» – So könnte man es auf Plakate schreiben; denn nicht nur mangelnde physische Aktivität, sondern auch langes Sitzen birgt laut neueren Untersuchungen Risiken. Je mehr Stunden jemand täglich im Sitzen verbringt – sei es am Schreibtisch, vor dem Computer oder dem Fernseher –, desto höher steigt sein Sterberisiko, selbst wenn er oder sie sich zusätzlich körperlich betätigt. Da nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage in Europa etwa jeder zweite Erwachsene täglich bis zu 5,5 Stunden und jeder zehnte sogar mehr als 8 Stunden sitzt, geben diese Befunde Anlass zur Sorge. Ab und zu vom Stuhl aufzustehen oder gar stehend zu arbeiten, dürfte sich jedenfalls lohnen.
Konkreter als der Einfluss von Bewegung auf die allgemeine Sterblichkeit erscheint der Blick auf spezifische Krankheiten. Hier standen lange Zeit Herz-Kreislauf-Leiden und andere klassische Zivilisationskrankheiten wie Diabetes im Vordergrund. Doch senkt regelmässige körperliche Aktivität auch das Risiko, an gewissen Krebsleiden zu erkranken. Übereinstimmend konnten grosse Erhebungen eine schützende Wirkung bei Dickdarmkrebs, bösartigen Tumoren der Gebärmutterschleimhaut und bei Brustkrebs nach der Menopause belegen. Einzelne Untersuchungen, wie auch eine kürzlich in der Zeitschrift «Jama Oncology» veröffentlichte Erhebung , legen zudem einen Zusammenhang zwischen Fitnessgrad und Lungenkrebsrisiko nahe. Uneinheitlich sind die Daten bis jetzt bei Prostatakrebs und weiteren Krebsarten.
Generell besteht eine inverse Beziehung zwischen der Gesamtsterblichkeit in Bezug auf Krebs und dem Fitnesslevel, wie aus einer im Juni in «Jama Internal Medicine» erschienenen Arbeit hervorgeht: Hannah Arem vom amerikanischen National Cancer Institute und ihre Kollegen haben anhand der Daten von mehr als 600 000 Personen berechnet, dass regelmässige physische Aktivität die Krebssterblichkeit um mehr als ein Fünftel senken kann.
Dosisabhängiger Nutzen
Angesichts solcher gesundheitlicher Vorteile körperlicher Aktivität stellt sich die Frage, welches Mass den optimalen Nutzen verspricht. Gemäss Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation empfehlen die offiziellen Stellen vieler Länder einschliesslich der Schweiz heute für Erwachsene ein wöchentliches Mindestpensum von 150 Minuten mässig anstrengender Betätigung wie zügiges Gehen oder 75 Minuten intensiverer Aktivität wie Joggen oder Velofahren. Der entsprechende Energieaufwand von etwa 1000 Kilokalorien pro Woche erfordert also nicht zwingend schweisstreibendes Ausdauertraining. Jugendliche sollen sich täglich mindestens eine Stunde bewegen, Kinder deutlich mehr als eine Stunde.
Den dosisabhängigen Nutzen von Bewegung belegt anschaulich die erwähnte Arbeit von Hannah Arem und ihren Kollegen. Das Ein- bis Zweifache des empfohlenen Minimalpensums senkt das Sterberisiko gegenüber völliger Inaktivität um 31 Prozent (vgl. Grafik). Eine weitere Erhöhung der Aktivität bringt einen vergleichsweise bescheidenen Zusatzgewinn, bis sich jenseits des Drei- bis Fünffachen der empfohlenen Minimaldosis keine weiteren Vorteile bezüglich der Lebensspanne erkennen lassen.
Der steile Verlauf der Dosis-Wirkungs-Kurve zwischen der Komfortzone der Couch-Potatoes und jener der körperlich Aktiven zeigt, dass sich bereits mit geringem Aufwand ein gesundheitlicher Nutzen erzielen lässt. Das illustriert auch eine Studie aus dem Jahr 2011, an der mehr als 400 000 Taiwaner teilnahmen . Sie ergab, dass mässig anstrengende körperliche Aktivität von durchschnittlich nur 92 Minuten pro Woche, also etwa einer Viertelstunde pro Tag, jeden sechsten Todesfall zu verhindern vermag und die Lebenserwartung um drei Jahre erhöht.
Körper und Geist trainieren
Ein für unsere alternde Gesellschaft zunehmend wichtiges Thema ist der Einfluss, den körperliche Aktivität auf die geistige Leistungsfähigkeit hat. Wie vielfach gezeigt worden ist, kann physisches Training Lernen, Gedächtnis und andere kognitive Fähigkeiten verbessern. Studien der letzten Jahre legen zudem nahe, dass es auch das Auftreten von geistigem Abbau und Demenz hinauszögert.
Noch stärkere Effekte lassen sich erreichen, wenn das Training neben dem Körper gleichzeitig auch das Gehirn beansprucht. So haben Patrick Eggenberger vom Institut für Bewegungswissenschaften und Sport der ETH Zürich und seine Kollegen in einer soeben erschienenen Arbeit gezeigt, dass Senioren nach sechsmonatigem kombiniertem körperlich-geistigem Training bessere kognitive Leistungen erbringen als nach körperlichem Training allein. Sie konnten zum Beispiel bestimmte Aufgaben schneller lösen. Ein videogesteuertes Tanzprogramm schnitt dabei sogar besser ab als ein Laufbandtraining, bei dem die Probanden gleichzeitig Wortabfolgen memorieren mussten. Die günstigen Effekte liessen sich auch noch Monate später nachweisen.
Doch wie lassen sich die Vorteile eines kombinierten geistig-körperlichen Trainings hirnphysiologisch erklären? Zum einen führt körperliche Aktivität im Hippocampus, der bei Lernprozessen und der räumlichen Orientierung eine Schlüsselrolle spielt, zur Bildung neuer Nervenzellen. Das wurde bei Nagetieren und indirekt auch beim Menschen nachgewiesen. Die meisten dieser Zellen sterben bei Nagern allerdings bald wieder ab, wenn die Tiere keine anspruchsvollen mentalen Herausforderungen zu meistern haben. Zum anderen fördert Bewegung in Teilen der Grosshirnrinde die Entstehung neuer Nervenverbindungen (Synapsen), die möglicherweise länger erhalten bleiben, wenn sie durch kognitive Prozesse beansprucht werden.
Wie auch immer die Vorteile eines kombinierten Trainings zu erklären sind, sollte man diese Methode laut Eling de Bruin, einem Mitautor der genannten ETH-Studie, bereits jetzt in Trainingsprogramme für ältere Menschen integrieren.
Obwohl heute unbestritten ist, dass Bewegungsarmut zu den wichtigsten beeinflussbaren gesundheitlichen Risikofaktoren zählt, bewegen sich breite Bevölkerungsschichten unzureichend. In der Schweiz mit ihrer im internationalen Vergleich recht guten Bewegungsbilanz ist gemäss einerErhebung von 2012 jeder vierte Erwachsene ungenügend aktiv oder sogar gänzlich inaktiv. Bei Jugendlichen liegt dieser Anteil noch höher. Die Schwierigkeit, eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse in eine allgemeine Verhaltensänderung umzumünzen, erinnert an die zähen Bemühungen um die Eindämmung des Rauchens. Nach den weitgehend vergeblichen Mahnungen durch Experten waren es schliesslich handfeste Rauchverbote in Restaurants, Betrieben und öffentlichen Räumen, die zu Fortschritten führten.
Politische Massnahmen
Auch im Falle der Bewegungsfaulheit scheinen politische Bemühungen angezeigt – etwa in Form von verkehrs- und städteplanerischen Massnahmen, die der Mobilität zu Fuss oder mit dem Fahrrad entgegenkommen. Dieses Ziel verfolgt zum Beispiel das laufende EU-Projekt Physical activity through sustainable transport approaches (Pasta), an der auch die Schweiz unter Federführung des Instituts für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich beteiligt ist. Dazu wird derzeit in sieben Städten – auch in Zürich – eine Befragung zum Mobilitätsverhalten der Bevölkerung durchgeführt. Laut Sonja Kahlmeier, Mitarbeiterin im Zürcher Team, sollen die Ergebnisse Entscheidungsgrundlagen für integrierte Mobilitätskonzepte liefern.
Doch auch Medizinalpersonen könnten bei der Bewegungsförderung eine Schlüsselrolle übernehmen. Ärzte ziehen es heute in aller Regel vor, bei ihren Patienten Blutdruck- und Cholesterinwerte zu messen sowie Medikamente zu verschreiben, statt auf den Fitnesslevel zu achten und mehr Bewegung zu verordnen. Daher fordern manche Experten sogar die Medikalisierung körperlicher Inaktivität. In diesem Sinne schlägt Michael Joyner von der Mayo-Klinik in Rochester, USA, vor, Bewegungsmangel beziehungsweise den daraus resultierenden physiologischen Zustand des Körpers als eigenständiges Krankheitsbild zu definieren. Der Bewegungsarmut als einer Hauptursache vieler Krankheiten und vorzeitiger Todesfälle könnte man auf diese Weise einen anerkannten Status verleihen.
Nota. - Die ebenso nächstliegende wie dringlichste politische Maßnahme ist die Reduzierung der täglichen Schulstunden. Das Propagieren der Ganztagsschule sollte unter Strafe gestellt werden! Denn dies ist eine Erfordernis der Volksgesundheit: Schrumpft die Schule!
JE