Bildungsforscher:
„Gymnasium ist die Paradeinstitution“
Bildungswissenschaftler Alfred Schirlbauer hält die Vermittlung von Kompetenzen für „eine Infektionskrankheit der Pädagogik“ und die Begabtenförderung für ein „Paradiesgärtchen“.
Von Rosa Schmidt-Vierthaler
Die Presse: Sie begleiten die Bildungsdebatten seit Jahrzehnten. Nach und nach sind statt des Wissens die Kompetenzen in den Mittelpunkt gerückt. Zu Recht?
Alfred Schirlbauer: Ich halte das geradezu für eine Infektionskrankheit der Pädagogik. Die OECD hat mit diesem Bazillus die Bildungssysteme angesteckt. Alles, was gelernt werden kann oder soll, wird als Kompetenz umformuliert. Da es keine verbindende Idee gibt, kann man der Kompetenzen gar nicht genug kriegen.
Sie sehen die Kompetenzen als Feigenblatt?
Ja. Man weiß nicht mehr, was die einzelnen Schulfächer leisten sollen und fängt an, Kompetenzen aufzulisten. Dabei verliert man sich in wüsten Aufzählungen. Früher wurden Kompetenzen ganz selbstverständlich mitgemeint: Wenn im Lehrplan der Pythagoräische Lehrsatz stand, sollten die Schüler den natürlich verstehen und nicht nur aufsagen können.
Und die Rolle des Lehrers?
Kompetenzen muss man antrainieren. Das spießt sich mit der reformpädagogischen Idee – von der ich auch nichts halte –, dass das Wissen in den Kindern wachsen und reifen soll und eigentlich schon angelegt ist.
Für viele ist der „ideale Lehrer“ heute ein Moderator.
Der Lehrer ist dazu da, Wissen zu vermitteln. Wenn die Schüler das alles selbst erarbeiten könnten, dann könnten sie ja nach Hause gehen. Die Aufgabe der Schule ist es, das zu lehren, was man sich in der Regel nicht selbst beibringt.
Sie treten für den klassischen Bildungskanon ein?
Ja. Es ist unsere Unwissenheit in Bezug auf die Grundlagen unserer Kultur, die uns dazu verführt, einerseits auf selbst gesteuerte Lernprozesse der Schüler zu setzen und andererseits auf die von der Wirtschaft geforderten Kompetenzen.
Die deutsche Bildungsministerin erwägt ein Fach namens Alltagswissen. Was halten Sie davon?
Ich halte das für eine Dummheit.
Es gibt aber auch immer Schüler, die so etwas fordern.
Schüler sollten das nicht entscheiden. Man lernt nie genau das, was man später braucht, weil man ja nicht weiß, was man braucht. Die Diskrepanz zwischen Schule und Leben scheint mir unvermeidbar. Schule kann höchstens indirekt auf das Leben vorbereiten, indem sie Denkfähigkeit vermittelt.
Sie sprechen nun aber über die Gymnasien. Oder?
Nein. Aber für mich ist das Gymnasium nach wie vor die Paradeinstitution des Bildungswesens.
Gleichen sich die verschiedenen Schultypen nicht einander an?
Ja, leider. Es hat vor 20, 30 Jahren begonnen, dass in der AHS mehr berufsbildende Elemente eingebaut wurden. Dazu gehört auch die Hyperspezialisierung, die manche Gymnasien betreiben. Spezialisierte Allgemeinbildung ist eine widerspruchsvolle Angelegenheit.
Die meisten Bildungswissenschaftler fordern eine Gesamtschule, Sie nicht. Weshalb?
Die Erziehungswissenschaft hat sich in den vergangenen 30 Jahren auf eine beschreibende Beobachterposition zurückgezogen. Das einzig Wertende bei den wertfreien Erziehungswissenschaftlern ist die Gesamtschule, das ist sozusagen der wunde Punkt. Da katapultieren sie sich flugs vom Status der Wertfreiheit in den einer überschießenden Normativität hinein.
Wie sehen Sie es?
Es ist nun einmal so, dass Kinder in einem Elternhaus, in dem gelesen wird, in dem es eine gepflegte Sprache gibt, einen schulisch relevanten Vorsprung haben. Diese Vorteile kann man ihnen aber schwer wegnehmen. Dieses Bildungserbe sollte man nicht durch die Gesamtschule zu besteuern beginnen. Wenn schon Reichensteuer, dann bei den Finanzvermögen.
Liegt der Fokus zu sehr auf den schwächeren Schülern?
Jein. Begabtenförderung ist ein Paradiesgärtchen in unserer Bildungslandschaft, darum hat sich auch kaum jemand gekümmert, weil es irgendwie eine anrüchige Sache ist, Begabte zu fördern.
Weil die es eh nicht brauchen?
Das ist die alte Ideologie: Der Begabte setzt sich von selbst durch. Diesen Spruch hat schon Friedrich Nietzsche gegeißelt.
Sie scheinen auch mit den Lehrern nicht sonderlich zufrieden zu sein.
Die Lehrer möchte ich in Schutz nehmen, die sind hier weitgehend Opfer. Sie sind im Zangengriff von Politik und Gesellschaft. Sie sollen nicht zu viele „Nicht Genügend“ verteilen, und die Eltern mischen sich in alles ein. Gleichzeitig aber werden sie etwa durch die Zentralmatura abgeprüft.
Und die Schüler?
Hier gibt es eine große Diskrepanz: Die Eltern entmündigen ihre Kinder zusehends – Stichwort Helikoptereltern –, und die Lehrer müssen aufgrund einer bestimmten pädagogischen Ideologie dauernd die Vorstellung pflegen, die Kinder wären schon mündig und könnten ihre Lerninhalte selbst wählen und sie sich selbst erarbeiten.
Ihre nächste Vorlesung wird den Titel „Politik und Bildung“ haben. Was wollen Sie vermitteln?
Wissen. Bei Diogenes von Sinope heißt es einmal so schön: Wir müssen uns um das Wissen kümmern oder uns einen Strick besorgen. Es geht um nichts anderes als Wissen.
ZUR PERSON
Alfred Schirlbauer ist Erziehungswissenschaftler im Ruhestand. Bevor er seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni Wien begann und Professor für Pädagogik wurde, war er Lehrer. Im Verlag Sonderzahl erschien u.a. „Die Moralpredigt. Destruktive Beiträge zur Pädagogik und Bildungspolitik“ (2005).
Nota. - Das ist der entscheidende Gedanke: Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzt heute eine Menge Wissen voraus, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt. Denn bis vor rund anderthalb Jahrhunderten galt dieser Satz nur für die Angehörigen der herrschenden Klassen. Deren Kinder brauchten immer eine ganz besondere Schule, die sie später zum Herrschen - und dazu gehört das glaubwürdige Repräsentieren der Herrschaft - befähigte. Und gleich an dieser Stelle fällt auf: Eine Schule musste diese Schule nicht unbedingt sein, denn eine solche taugte wohl für werdende Kleriker, nicht aber für künftige Krieger und Regenten. Doch einer besonderen Lehrzeit im Dienst bei einem Fürsten mussten auch die Kinder des Adels sich unterziehen.
Die Kinder der einfachen Leute, und die waren die große Mehrheit, wuchsen in den Haushalt ihrer Familie hinein, und die war in der agrarischen Gesellschaft die eigentliche Produktions- und Wirtschaftsstätte. Zum Bauern wuchs man auf dem eigenen Hof heran. (Die Kinder der Tagelöhner lernten Vieh hüten.) Das zünf- tige Handwerk mit seinem ausgefeilten Lehrlings- und Gesellensystem gehörte schon zu dem privilegierte- ren Teil der städtischen Gesellschaften.
Und schließlich die kaufmännischen Patrizier - waren die Gesellschaftsklasse, in der "die Schule" zur Norm geworden ist. Die städtischen Bürgerschulen wurden, nach der Reformation zumal, zum Grundbestand, auf dem unser heutiges Schulwesen aufgebaut ist, auf sie geht das humanistische Gymnasium zurück, das zum Paradigma der Schule wurde. Hier lernte man, was man als Bürger unter Bürgern wissen und können musste, als Berufsmensch, der sich unter seinesgleichen im Marktgeschehen zu orientieren und behaupten wusste. Und als dann das Kapital in die Industrie zu fließen begann, wurden neben den Kaufleuten immer mehr Ingenieure gebraucht. Die Realschulen machten den Gymnasien Konkurrenz, und die spezialisierten sich auf die Vorbereitung zum Höheren Staatsdienst.
Dagegen war die Volksschule von Anbeginn Restschule. Die bildete nicht zum Bürger, sondern konditio- nierte zum Untertan und Tagelöhner. Lesen, schreiben, das Kleine Einmaleins und der Katechismus, mehr wurde nicht benötigt. Das war der Typ des Proletariers, den die Industrialisierung brauchen konnte.
Die Geschichte der Schule im 20. Jahrhundert ist schließlich die Geschichte, wie das Schulsystem immer mehr zum Schatten und zum Wurmfortsatz der Verwaltungen wurde, der öffentlichen mehr noch als der wirtschaftlichen. Mit der Explosion des Öffentlichen Dienstes explodierten die Gymnasien, und mit wach- sender Masse sanken die Maßstäbe.
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Die Aufgabe einer Schule ist es, Wissen zu vermitteln, das der Mensch nicht einfach so nebenher und ganz von alleine erwirbt. Setzt die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben heute mehr Wissen voraus als früher, so dass eine längere Lernzeit erforderlich würde?
Jein. Einerseits ist die Masse von Wissen, das einer heute braucht, unermesslich, doch andererseits ist es so schnell überholt wie nie zuvor, und man tut gut daran, es sich nicht allzu gut zu merken, damit im Gedächt- nis gleich Platz geschaffen werden kann, wenn neue Nachrichten eintreffen; und was man grad eben nicht gewärtig hat, darauf kann man jederzeit im Internet zugreifen.
Es ist nicht wirklich so, dass man heute (noch) mehr wissen muss als gestern; memorieren bis der Kopf raucht ist jedenfalls so unangebracht wie nie. Aber man müsste besser wissen. Was damit gemeint ist? Aber das wissen Sie doch längst selber! Gemeint ist, dass man das, was die (flüchtigen) Daten bedeu- ten, gründlicher verstehen sollte - denn dann fällt man nicht jedesmal in Verwirrung, wenn man die alten Daten gegen neue auswechseln muss. Der Haken sei der, dass man das Verstehen der Schüler nicht mit einem Test erheben kann? Da haben Sie nun auch wieder Recht.
Und wenn man bei PISA I zuerst noch annahm, mit den 'Kompetenzen zur Welterschließung' sei Verständ- nis gemeint gewesen, wurde bald klar, dass lediglich die Testmethode des Multiple choice mit dem Brech- eisen durch gesetzt werden sollte.
Dieses hinzugefügt habend, kann ich mich den Ausführungen von Prof. Schirlbauer weitgehend anschlie- ßen; doch nicht ohne anzumerken, dass es wohl in der Natur der Schule selber liegt, dass sie mehr zum Memorieren neigt als zum verstehen-Lehren.
JE
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