Mittwoch, 29. April 2015

Kinder rentieren sich nicht.

Venus und Amor, Roelof van Zijl
aus nzz.ch, 29.4.2015, 05:30 Uhr

Hätte hätte, Würstchenkette
Lebensentscheidungen zu bereuen, ist ein natürlicher Reflex. Doch bringt das Gefühl der Reue überhaupt etwas? Wenn es ums Kinderkriegen geht, wird es zudem delikat. Eine Kolumne von 

Milosz Matuschek

Als Thomas Bernhard sich zum Kauf seines berühmten Vierkanthofes entschloss, war er begeistert von dessen «ausgezeichneten Proportionen». Dass sich der Bauernhof im Zustand einer Ruine befand, wurde ihm erst in den nächsten Tagen vollends bewusst, als ihm die sogenannten «Grausbirnen» hochstiegen. Der österreichische Dichter erlebte ein Phänomen, das der Verkaufspsychologie als «Kaufreue» («buyer's remorse») bekannt ist: das Gefühl, die Investition sei letztlich doch falsch und müsse ungeschehen gemacht werden. Die spürbare Dissonanz zwischen Jetzt und Davor («Hätte ich doch bloss!») äussert sich in Form des Abfallproduktes der Reue.


Vor kurzem machte in den Medien unter dem Hashtag #regrettingmotherhood eine nichtrepräsentative israelische Studie die Runde, in der 23 Mütter unterschiedlichen Alters erklärten, dass sie es bereuten, Kinder bekommen zu haben. Schockierend war dabei nicht nur das Phänomen an sich, sondern vor allem die Absolutheit der verbreiteten Aussagen: Von dem Wunsch, «die Zeit zurückdrehen zu können», war die Rede, vom «Albtraum meines Lebens» oder davon, die Kinder, «ohne mit der Wimper zu zucken, aufgeben zu können», oft verbunden mit der scheinbar widersprüchlichen Bekräftigung, dass man seine Kinder ja trotzdem liebe.


Die nun angestossene Debatte gibt Einblick in ein für moderne Zeiten charakteristisches Dilemma: Die Freiheit der Wahl des Lebensentwurfs bringt eine Optionenvielfalt mit sich, durch welche jede Entscheidung stets eine Entscheidung gegen unzählige andere Optionen darstellt. Der Schattenpreis der Freiheit ist die Qual der Wahl. Das Gefühl des Verlusts und der Reue tritt häufiger auf als in Situationen, die sich als alternativlos darstellen. So ist mit dem Kinderkriegen oft der Verzicht auf maximale berufliche Entfaltung verbunden. Eine befragte Mutter beklagte gar, sie habe aus der Geburt des Kindes keinerlei «emotionalen Gewinn» gezogen.


Das wiederum lässt auch die Frage nach übertriebenen Erwartungen an Kinder aufkommen. Kann man Kinder als Investition betrachten, die Lebenszufriedenheit quasi als sichere Dividende auszahlt? Es entspricht dem Zeitgeist, alle Lebensentscheidungen durch die Brille einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu betrachten. Ökonomisch gesehen ist die Entscheidung für Kinder dann vermutlich so irrational wie derzeit nur Investitionen in Staatsanleihen mit Negativzinsen. Das Schicksal der Menschheit liegt in den Händen der Unvernünftigen.


Das Gefühl der Reue sei natürlich jedem unbenommen. Doch unabhängig vom konkreten Einzelfall schliesst sich die Frage an, wie rational diese Form von Vergangenheitsaggression überhaupt ist. Die erste Tücke des Gefühls der Reue liegt wohl darin, dass man gedanklich Äpfel mit Birnen vergleicht, nämlich eine reale Ist-Situation mit einer fiktiven Was-wäre-gewesen-wenn-Situation. Diese Asymmetrie bietet ein Einfallstor für die Verzerrung des Optimismus («optimism bias»). Dass das Gras woanders grüner ist, gilt auch für fiktive Vergleichspositionen. Unser Denken hat die Tendenz, Situationen, über die wir wenig Datenmaterial besitzen, als attraktiver zu bewerten. Kein Wunder, dass so manche Mutter die Karriere als bessere Alternative gegenüber dem Kindergeburtstag sieht und Topmanagement interessanter findet als Topfschlagen. Hätte, hätte, Würstchenkette.


Interessant zu wissen, wäre jedenfalls, wie wohl eine Studie mit umgekehrter Fragestellung unter Menschen ausfallen würde, die sich zugunsten der Karriere gegen Kinder entschieden haben. Ist nicht auch das Phänomen #regrettinglifewithoutkids ebenso gut denkbar? Mag sein, dass das Kinderkriegen derzeit im deutschsprachigen Raum nicht sehr hoch im Kurs steht; trotzdem will man sich nicht recht vorstellen, dass jemand auf dem Sterbebett es bereut, nicht noch mehr gearbeitet zu haben. Aus der Feder des amerikanischen Juristen, Schriftstellers und Freimaurers Albert Pike hallt folgender Satz nach: «Was wir nur für uns selbst tun, stirbt mit uns, was wir für andere und die Welt tun, bleibt und ist unsterblich.»


Milosz Matuschek ist Jurist und Publizist. Von Paris und Berlin aus bloggt er zudem als «Dr. Strangelove» für die NZZ.

Mittwoch, 22. April 2015

Jammermütter.

Daumier, Die Last
aus Süddeutsche.de, 17. April 2015, 17:16 Uhr

"Wir brauchen Mütter, die ihre Grenzen kennen"
Manche Mutter reibt sich so lange auf, bis am Ende nur noch der Wunsch bleibt, nie Kinder bekommen zu haben. Ein Gespräch mit Soziologin Christina Mundlos über gesellschaftliche Ansprüche, Selbstversklavung und ein neues Mutterbild.

Nicht jede Mutter empfindet ihre Mutterrolle als Glück. Laut einer Studie bereut manche ihre Entscheidung für Kinder sogar. Diese Frauen sind keine Rabenmütter, sagt Soziologin Christina Mundlos. Im Gegenteil: Viele von ihnen würden ihre eigenen Bedürfnisse derart verdrängen, dass am Ende nichts von ihnen übrigbleibe als der Wunsch, nie Kinder bekommen zu haben. Dabei wäre die Misere zu verhindern, erklärt die zweifache Mutter und Expertin für Geschlechter- und Familienforschung. Die Autorin des Buches "Mütterterror" fordert ein neues Mutterbild, in dem es nicht mehr erwünscht ist, einer "Supermutti" zu entsprechen.

SZ: Laut einer wissenschaftlichen Studie der Universität Tel Aviv bereuen manche Frauen ihre Entscheidung, Kinder bekommen zu haben. Was könnte da passiert sein?

Christina Mundlos: Viele Frauen sehen sich außerstande, die Anforderungen der Mutterrolle von sich zu weisen. Sie sind erschöpft, können irgendwann nicht mehr und kommen an einen Punkt, wo sie sich sagen: "Wenn ich mich so schlecht damit fühle, dann muss ich mich davon lösen."


Viele haben einen Partner, unproblematische Kinder, einen Job, eine gesicherte Existenz - und bereuen es dennoch, Mutter zu sein. Wie ist das zu erklären?

Die Soziologin Elisabeth Gernsheim hat dieses ambivalente Gefühl einmal sinngemäß so beschrieben: "Ich liebe mein Kind und würde mich vor einen LKW werfen, um sein Leben zu retten. Aber ich hasse mein Kind auch, denn es hat mein Leben zerstört."


Wir gehen davon aus, dass gesunde Frauen ihre Mutterrolle als Glück empfinden. Es hat für mich eine tragische Komik, wenn man annimmt, dass mit Müttern, die ihre Mutterschaft ablehnen, gesundheitlich etwas nicht stimme. Wer es auf Dauer nicht schafft, sich Hilfe zu holen und zu entlasten, den macht das natürlich psychisch krank. Die Depression wäre - wenn überhaupt - wohl eher das Ergebnis, das am Ende steht.


Dann müsste der Satz von Soziologin Gernsheim also eigentlich lauten: Ich habe mir mein Leben zerstören lassen?


Wenn man so will: ja. Die Unfähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, ist in der Gesellschaft verbreitet. Erschöpfungszustände und Burn-out beobachten wir auch bei Männern - Frauen sind jedoch besonders anfällig, weil sie bereits in der Kindheit gelernt haben, sich zurückzunehmen.


Als Reaktion auf die Studie beklagen viele, dass sich ihr Leben nur ums Kind drehe. Die Mutter einer Fünfjährigen erzählt, sie müsse wegen der Tochter auf Kaffeepausen, Umzug und Wunschjob verzichten. Das klingt, als wäre sie eine Gefangene.

Die Mütter, von denen Sie sprechen, haben sehr hohe Anforderungen an sich und übernehmen die gesellschaftlichen Erwartungen eins zu eins. Sie können es nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren, ihre auferlegte Rolle abzulehnen und ihre Mutterschaft nach eigenen Bedürfnissen und Kräften auszurichten.


Gab es etwas Vergleichbares wie das Internet-Phänomen #regrettingmotherhood schon früher?

Das Gefühl der Unzufriedenheit an sich ist nicht neu: Bereits in den Siebzigerjahren wurde kritisiert, dass Mütter immer zur Verfügung stehen müssen. Viele waren erschöpft, bekamen vom Arzt Valium verschrieben - in den USA deshalb unter der Bezeichnung "Mother's little helper" bekannt - , um die Belastung durchzustehen. Neu sind jedoch die Erwartungen, von außen und an sich selbst. Heute versuchen immer mehr Frauen, berufstätig und die perfekte Mutter zu sein, machen weder beim Job noch bei den Kindern Abstriche. Im Gegenteil: Die Ansprüche an arbeitende Mütter sind enorm gestiegen - ein Problem, das inzwischen eine breitere Masse betrifft.


Was bewirkt diese Einstellung bei den Betroffenen?

Sie stehen extrem unter Druck - je höher die Ansprüche, desto schneller fühlen sich die Frauen minderwertig und haben das Gefühl, den Erwartungen nicht zu genügen. Und das in einem Umfeld, in dem man seine Not noch nicht einmal verbalisieren kann, weil dies weitere negative Reaktionen nach sich zieht.


"Die Mütter lassen den Gedanken nicht einmal vor sich selbst zu"

Ein großer Teil der Frauen erzählt nicht einmal dem Partner davon.

Das wundert mich nicht. Häufig sind weder die beste Freundin noch der Mann eingeweiht. Weil die Mütter nicht einmal vor sich selbst den Gedanken zulassen, weil das so ein Riesen-Tabu ist. Das merkt man schon an den Reaktionen auf die Studie. Ich bin mir sicher, jede TV-Redaktion würde sofort eine Mutter einladen, die bereit ist, ihre Unzufriedenheit öffentlich zu äußern.  


Aber viele bestätigen dieses Reuegefühl und sind froh, dass es mal jemand anspricht.

Der Unterschied ist: Nicht das Empfinden ist exotisch, nur die Bereitschaft, das zu äußern.


Man sagt ja, die unerbittlichsten Kritiker der Mütter seien andere Mütter.

Und genau deshalb sollten sie lernen, ihre Unzufriedenheit anzusprechen und sich fragen: Warum werde ich kritisiert von anderen und wieso kann auch ich kein anderes Erziehungsmodell gelten lassen? Gerade im Freundeskreis kann man über das Thema gezielt aufklären und einen wertschätzenderen Umgang einfordern - die Freunde sind es oft, die einen unter Druck setzen und Zweifel hervorrufen. Eine neue Gesprächskultur muss sich entwickeln, die nicht mehr darauf fixiert ist, immer nur hervorzuheben, was das eigene Kind kann. Sondern lobt, was man an anderen Kindern oder Müttern gut findet. So wertet man die anderen auf, statt sie abzuwerten, damit man selbst besser dasteht. Der älteren Generation sollten Mütter ruhig öfter Paroli bieten und es gezielt ansprechen, wenn verletzende Kommentare kommen. Zu Nörglerinnen, die einem ständig vor Augen führen, welchen Ansprüchen man genügen soll, darf man getrost den Kontakt abbrechen. Auch Elternzeitschriften sollte man mit Vorsicht genießen - weil sie Ansprüche ohne Ende formulieren.


Warum fühlen sich noch immer die Frauen angesprochen von solchen Erwartungen?

Die Verantwortung für die Erziehung wird noch immer in erster Linie bei der Mutter gesehen. Während Männer für ihr familiäres Engagement gelobt werden, ernten Mütter für berufliches Engagement weniger Verständnis. Das merkt man, sobald ein Kind später läuft, spricht oder die Schulleistung abfällt. Da heißt es dann: Die Mutter war doch so häufig auf Dienstreise. Auch Erzieherinnen oder Lehrer fragen häufig noch immer, wann denn die Mutter wieder zu sprechen sei, weil sie nur diese als Ansprechpartnerin wahrnehmen. Das geht bis ins Erwachsenenalter. Sobald jemand kriminell oder psychisch auffällig wird, fragt man nach der Mutter-Kind-Beziehung.


Ist das Phänomen #regrettingmotherhood ein Hinweis darauf, dass sich in der Gesellschaft etwas ändern muss?

Sagen wir mal so: Es sind die gesellschaftlichen Anforderungen, die die Frauen unter Druck setzen und den Leidensdruck auslösen. Aber sie werden von den Frauen auch bereitwillig übernommen. Statt ihre Mutterschaft nach ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu leben, unterwerfen sie sich dem Diktat der Gesellschaft, das vorgibt, dass man Kinder stillen soll, dass Taufeinladungen und Schultüten selbstgebastelt sein müssen, dass Mütter täglich für ihre Kinder kochen.


Aber wie können sie sich von dem Druck durch die Gesellschaft befreien?

Am besten, indem sie sich auf andere Bereiche konzentrieren, aus denen sie Anerkennung ziehen können, wie zum Beispiel das berufliche Umfeld, Freunde, Hobbys. Um diese Interessen zu verfolgen, muss man sich aber Freiraum verschaffen. Sie können sich zum Beispiel Anregung von außen holen, mit Leuten sprechen, denen es leichter fällt, sich dem Druck zu entziehen. Sie sollten die Mitarbeit der Väter stärker einfordern. Sich einen Babysitter zulegen, regelmäßig kinderfreie Tage alleine oder mit dem Partner organisieren. Oder sich therapeutische Unterstützung holen - etwa in Form von Psycho- oder Entspannungstherapie.


Als Fazit ließe sich also sagen, am Ende liegt es vor allem an den Frauen selbst?

Absolut. Dass es soweit kommt, dass Frauen ihre Mutterschaft bereuen, wird erst möglich, wenn sie nicht in der Lage sind, die ihnen auferlegte Mutterrolle abzulehnen. Es kommt darauf an, die eigenen Bedürfnisse zu schützen und sich damit selber Anerkennung zu geben. Es gibt immer die Möglichkeit, eine Tasse Kaffee zu trinken. Man muss es sich allerdings wert sein und sich klar machen: Ich habe ein Recht darauf.


Das ist am Ende auch den Kindern gegenüber fairer.

Sicher. Die Anforderungen werden ja nicht von den Kindern an die Mütter gestellt. Die sind sich der Tatsache gar nicht bewusst, wie unglücklich ihre Mütter darüber sind, dass sie nicht duschen oder Kaffee trinken können. Ihnen wird ein Geschlechterbild vorgelebt, in dem die Frau eine Art Dienstleisterin ist. Das wird immer weitergegeben. Wir brauchen ein Mutterbild, das nicht darauf abzielt, eigene Bedürfnisse zu unterdrücken. Wir brauchen Mütter, die wissen, wo ihre Grenzen sind. Das ist verantwortungsvoll.



Nota. - "Weil Frauen schon von Kindheit an gelernt haben, sich zurückzunehmen": wann und wo soll das gewesen sein? In den letzten vierzig Jahren nicht, jedenfalls nicht bei uns.

Nicht was ihre Kinder von ihnen erwarten, ist ihnen zu viel, sondern was ihre Rolle von ihnen erwartet. Und was ist "ihre Rolle"? Das, was die Andern tuscheln - die andern Mütter. 


Das gibt es ja gar nicht mehr, dass jemand Mutter wird, ohne es zu wollen. Die Frage ist heute vielmehr: Warum will sie es? Wenn sie es aus Eitelkeit tut, aus Geltungssucht, um sich zu verwirklichen und auszu- dehnen - dann wird sie es bald bereuen und muss sie niemand bemitleiden; wohl aber die Kinder und den Mann. Nicht "in der Gesellschaft muss sich etwas ändern", sondern in manch einer GesellschafterIn.
JE

Dienstag, 21. April 2015

Rambazamba auch für Kindergärten.


aus Der Standard, Wien, 15. 4. 2015

Kindergärten 

"Männer lassen mehr Rambazamba zu"
Die große Mehrheit des heimischen Kindergartenpersonals ist weiblich. Innsbrucker Forscher analysieren die Gründe und erforschen das Potenzial von mehr männlichen Fachkräften

von Kurt de Swaaf


Wien - Das Bild ist vertraut. Ein Kindergarten beim Ausflug in den Zoo: Auf dem Vorplatz stapfen ein paar Dutzend Mädchen und Buben in einer wohlgeordneten Kolonne in Richtung Eingang, vier Frauen unterschiedlichen Alters hüten die Schar. Zehn Minuten später marschiert die nächste Kindergruppe vorbei, auch sie in rein weiblicher Begleitung. Von Männern keine Spur. Warum? Egal ob Krabbelgruppe oder Volksschule, in weiten Bereichen der Pädagogik glänzt das männliche Geschlecht durch Abwesenheit. 

In österreichischen Kindergärten beträgt der Männeranteil im betreuenden Personal sogar nur 0,8 Prozent, berichtet der Psychologe Josef Christian Aigner von der Universität Innsbruck. Ein eklatanter Mangel. Die Geschlechter-Gleichberechtigung findet in der institutionellen Kleinkindererziehung praktisch nicht statt. Die Gründe dafür dürften vielfältig sein: Zum einen ist die branchenübliche Entlohnung meist schlecht. Laut Arbeitsmarktservice Österreich beträgt sie hierzulande bei Berufseinstieg zwischen 1920 und 2130 Euro brutto monatlich. Dennoch strebt die EU bis 2020 für Kindertagesstätten eine Männerquote von 20 Prozent an. "Das können wir uns heute schon abschminken", sagt Aigner.



Dabei geht es auch anders. In Norwegen hatte man sich das 20-Prozent-Ziel schon vor mehr als zehn Jahren auf die Fahne geschrieben. Flächendeckend wurde es zwar noch nicht erreicht, doch mancherorts liegt der Anteil männlicher Kindergartenfachkräfte sogar bei knapp einem Drittel. Diesen Erfolg gibt es vor allem dort, wo sogenannte Waldkindergärten mit stark naturpädagogisch orientiertem Angebot gegründet wurden, berichtet Aigner. Anscheinend spricht diese Art von Erziehungsarbeit Männer eher an.

Gezielte Förderung

In einer 2008 vom norwegischen Bildungsministerium veröffentlichten Broschüre gibt die praxiserfahrene Expertin Pia Friis eine Reihe von Empfehlungen, wie männliche Pädagogen dauerhaft für den Kindergarten gewonnen werden können - darunter die gezielte Männerförderung bei Stellenausschreibungen sowie das Adressieren von Praktikumsplätzen an männliche Schüler. Friis stellt auch die in den Einrichtungen oft noch herrschende "weibliche Kultur" zur Debatte. Diese könne für männliche Berufsinteressenten eine Hemmschwelle darstellen. Es gehe allerdings um "Geschlechtergerechtigkeit" jenseits der gängigen Vorstellungen, schreibt die Autorin. "Wir müssen offen dafür sein, verschiedene 'Typen' von Männern und Frauen einzustellen." Nicht nur mütterliche Hüterinnen und zupackende Pfadfinder.

Die Bedeutung von Männern im Kindergarten sieht auch Aigner in der Schaffung eines bereichernden Umfeldes mit verschiedenen Verhaltensansätzen. Männliche Betreuer bringen mehr körperliche Spielaktivität in eine Gruppe. "Die Kinder springen sie buchstäblich an, und da machen dann auch die Mädchen mit." Abgesehen davon scheinen Kindergärtner etwas chaostoleranter zu sein. "Männer lassen mehr Rambazamba zu", sagt Aigner. "In den Interviews haben uns das auch die weiblichen Fachkräfte bestätigt."

Um die Auswirkungen männlicher Präsenz in der Früherziehung genauer unter die Lupe zu nehmen, hat das Innsbrucker Team zunächst im Auftrag des Sozialministeriums eine Pilotstudie durchgeführt. In zehn Kindergartengruppen, fünf mit ausschließlich weiblicher, fünf mit gemischtgeschlechtlicher Betreuung, beobachteten sie das Verhalten der Kinder sowie deren Interaktion mit den Erwachsenen. Videoauf- zeichnungen ermöglichten eine detaillierte Analyse, Befragungen des Personals und der Eltern lieferten zusätzliche Informationen.

Die Auswertungen zeigen deutlich den Einfluss von Kindergärtnern - vor allem auf Buben. Letztere suchen verstärkt die Nähe zu ihren erwachsenen Geschlechtsgenossen, fragen sie um Hilfe bei der Bewältigung von allerlei Aufgaben, und erbitten regelmäßig ihre exklusive Aufmerksamkeit. Das Bedürfnis nach Kommunikation mit den männlichen Betreuern ist ebenfalls höher als das gegenüber den weiblichen Fachkräften. Dieser Effekt zeigt sich auch bei den Mädchen, wenn auch nicht ganz so stark ausgeprägt. Außerdem scheinen Mädchen in gemischtbetreuten Gruppen etwas weniger zurückhaltend zu agieren. Weniger brav eben.

Fehlen einer Vaterfigur 

Die Elternbefragungen lassen auf die möglichen Ursachen für die beobachteten Verhaltensunterschiede schließen. Einigen Kindern scheint es zu Hause schlichtweg an Kontakt zu einer Vaterfigur zu fehlen. "Man kann in vielen Fällen darauf schließen, dass es dort ein Männerdefizit gibt", erklärt Josef Aigner. Das betrifft keinesfalls nur Kinder mit alleinerziehenden Müttern. Auch in klassisch strukturierten Familien verbringen Väter nur sehr wenig Zeit mit ihrem Nachwuchs. Männliche Vorbilder sind somit oft Mangelware. In der Fachwelt spricht man deshalb schon von "Vaterhunger".

Selbstverständlich können professionelle Kinderbetreuer diese Defizite nicht wirklich ausgleichen. Ihr Potenzial ist dennoch sehr groß, wie Josef Aigner betont. Wenn in der Frühpädagogik nur weibliche Fachkräfte arbeiten, vermittle man den Kindern auch, dass nur Frauen für sie zuständig seien. Eine krasse Zementierung der klassischen Rollenverteilung. Abgesehen davon gebe es Eigenschaften und Aktivitäten, die eher den Männern zugeschrieben und auch eher von ihnen vorgelebt werden: Herumtoben, Abenteuerlust, Spaß am Entdecken und Wettbewerb. Diese Verhaltensmöglichkeiten dürfen den Kindern, sowohl Buben wie Mädchen, nicht vorenthalten bleiben, sagt Aigner.

Die Erkenntnisse nützen allerdings wenig, solange sie nicht in der Praxis umgesetzt werden. Die Innsbrucker Wissenschafter haben deshalb ein weiteres Projekt gestartet. Sie suchen mit finanzieller Unterstützung durch den österreichischen Forschungsfonds FWF gezielt nach Strategien zur Erhöhung des Männeranteils in der Kinderbetreuung hierzulande. Eine konsequente Anwerbung von Kindergärtnern findet in Österreich bisher kaum statt. "Die meisten Institutionen betreiben das halbherzig", sagt Aigner. Ein langer Weg, um norwegische Verhältnisse zu schaffen.


Nota. - Männer lassen Rambazamba nicht nur zu, sondern machen ihn selbst; aus Neigung und nicht aus Kalkül. Und wenn man sie auch anders reden hört: Gern sehen das die KollegInnen nicht. Darum wären 20% bloße Augenwischerei.
JE



Montag, 20. April 2015

Spielerisch in den Arbeitsmarkt einüben.

aus DiePresse.com, 14.04.2015 | 18:23 |                                                                                        Sim City Spielmechanik

Industriellenvereinigung will Schule und Kindergarten zusammenführen
Die Industriellenvereinigung fordert eine frühere Bildungspflicht. Besser ausgebildete Pädagoginnen sollen so viel verdienen wie Lehrer.

Wien. Die Industrie fordert elementare Änderungen im Kindergartenbereich. In Zukunft soll etwa die Hälfte der Pädagoginnen studieren: Kindergarten-Leiterinnen sollen einen Master, Gruppenleiterinnen einen Bachelor vorweisen könne, erklärte die IV am Dienstag bei einer Pressekonferenz. Der Verdienst soll dem von Lehrern entsprechen. Mit einem höheren sozialen Prestige will man auch mehr Männer in den Beruf holen.

Kern der Forderungen ist aber die Aufweichung der Grenzen zwischen Schule und Kindergarten. Künftig soll die Bildungs- pflicht mit vier Jahren beginnen, unter denselben Vorzeichen wie das derzeit bestehende verpflichtende Kindergartenjahr. Mit fünf sollen die Kinder dann stärker an die Schule herangeführt werden: IV-Präsident Georg Kapsch spricht davon, dass „gewisse schuli- sche Inhalte und gewisse schulische Methoden“ übernommen werden sollen – allerdings ohne den Kindergarten zu verschulen, sondern auf spielerische Art und Weise. Dieses Vorschuljahr soll – anders als dies zuvor gefordert wurde – an den Kindergärten angesiedelt sein. Langfristig sollten aber beide Institutionen eine Einheit bilden, sagt Kapsch.

Kindergarten zum Bund

Vonseiten der Kindergartenpädagoginnen erhält der Vorschlag jedenfalls Beifall – anders als noch vor wenigen Monaten, als erste Pläne für ein „Schulstartjahr“ bekannt wurden. Der Unterschied: Die Schule soll nicht vorgezogen, sondern der Kindergarten qualitativ verbessert werden. Der Förderbedarf des einzelnen Kindes würde im Mittelpunkt stehen und die Schulreife nicht mehr durch einen punktuellen Test an einem Tag bestimmt werden.



Warum sich die Industriellenvereinigung mit Österreichs Kindergärten beschäftigt? „Weil wir einen gesellschaftspolitischen Auftrag sehen“, wie Kapsch bei der Präsentation der „Besten Bildung von Anfang an“ in den Raum stellt. Wobei er sich darauf freilich nicht beschränkt, denn die Elementarpädagogik sei auch „Basis für volkswirtschaftliche Entwicklung“.


Ein weiterer wichtiger Punkt sei, den Wirrwarr an Kompetenzen zu regeln. Es brauche Bundeskompetenz für die Elementarpädagogik, betonte die Vorsitzende der Jungen Industrie, Therese Niss. Die Qualität dürfe nicht vom Wohnort abhängen. Derzeit gebe es neun Rahmenbedingungen, neun verschiedene Bezahlungssysteme und neun verschiedene Betreuungsschlüssel. Künftig soll ein Bundesrahmengesetz etwa die Qualifikation der Mitarbeiter, Betreuungsschlüssel und Gruppengrößen, Öffnungszeiten und Richtlinien zur Mittelvergabe regeln. Für die künftige Pro-Kopf-Finanzierung soll dann auch der Bund zuständig sein.


Ob der Einfluss der Industrie für solche Änderungen ausreicht, konnte Kapsch nicht sagen. Manche Dinge müsse man aber einfach machen – „um die Zivilgesellschaft aufzurütteln“. (rovi)




Sonntag, 19. April 2015

Freilaufende Kinder.

Robert Doisneau
aus Die Presse, Wien,19.04.2015

"Free Range Kids": 
Frei laufende Kinder
In den USA entwickelt sich mit den "Free Range Kids" eine Gegenbewegung zum "Helicopter Parenting". Oft gegen geltendes Recht.

von Sabine Mezler-Andelberg

Wie schmal der Spielraum für elterliche Entscheidungen sein kann, musste das amerikanische Ehepaar Meitiv vor einigen Wochen erfahren. Auf dem Rückweg von der Synagoge hatte der Vater seinen Kindern erlaubt, am Spielplatz auszusteigen und später zu Fuß nach Hause zu kommen. Als ganz so einfach erwies sich dieses Unterfangen allerdings nicht: Als der zehnjährige Sohn und dessen sechsjährige Schwester den eine Meile langen Rückweg entlang einer belebten Straße antraten, hatten besorgte Anwohner ob der unbeaufsichtigten Kinder bereits die Polizei informiert, die die Kinder dann heim-, und den Eltern eine Anzeige wegen Kindesvernachlässigung brachte.

Kein Helicopter Parenting.

 Ein Vorwurf, gegen den sich die Eltern heftig wehren, da sie als Anhänger der sogenannten „Free-Range Kids“-Bewegung einen Erziehungsstil befürworten, der Kindern gewisse Freiheiten gibt und sich als Gegenbewegung zum „Helicopter Parenting“ versteht, bei dem der Nachwuchs 24 Stunden täglich unter Kontrolle ist. Die Gesetzeslage macht es den Eltern solcher „frei laufenden Kinder“ allerdings in den meisten US-Bundesstaaten schwer, ihre Vorstellungen umzusetzen, wie auch der Fall der Meitivs zeigt: Sie wurden jetzt wegen „Unnötiger Kindesvernachlässigung“ belangt, eine Entscheidung, die unter anderem dazu führt, dass das Jugendamt für die nächsten fünf Jahre eine Akte über die Familie führen wird und sich Schritte vorbehält, sollten die Kinder noch einmal unbeaufsichtigt in der Nachbarschaft gesehen werden.

„Das Problem ist, dass sich das Grundvertrauen in verantwortungsvolle Elternschaft in unserer Gesellschaft in ein Grundmisstrauen gegenüber den Eltern verwandelt hat“, ist Lenore Skenazy, Autorin des Buches „Free-Range Kids“ und Begründerin der gleichnamigen Bewegung, überzeugt. Die Mutter zweier Söhne geriet im Jahr 2008 in die Schlagzeilen und wurde in den USA als „World's worst mom“, also „Schlechteste Mutter der Welt“, bekannt, weil sie ihrem Neunjährigen erlaubt hatte, allein mit der U-Bahn zu fahren. Als sie in einer Kolumne in der „New York Sun“ darüber berichtete, brach ein Sturm der Entrüstung los, gegen den sich die Journalistin in sämtlichen Talkshows und Nachrichtensendungen des Landes verteidigen musste. 

Dabei hatte sie ihr Kind nicht etwa aus Gedankenlosigkeit durch die Stadt geschickt, sondern sorgfältig auf Bitten ihres Sohnes hin eine einfache Strecke geplant, ihn mit genügend Geld auch für Notfälle ausgerüstet und zum Startpunkt begleitet – in dem Wissen, dass ihr Mann daheim schon auf den Junior wartete. In ihrer Kolumne berichtete die New Yorkerin dann darüber, wie strahlend vor Stolz der Junior heimgekommen war; hoffend, andere Mütter zu ermutigen, ihren Kindern hin und wieder etwas mehr zuzutrauen, als es im Amerika des dritten Jahrtausends üblich ist. „Inzwischen wird uns die Prämisse suggeriert, dass unsere Kinder sich in ständiger Gefahr befinden“, bedauert sie im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“, „deshalb werden Eltern kriminalisiert, die ihre Kinder auch nur eine Minute allein im Auto oder unbeaufsichtigt im Vorgarten spielen lassen, oder müssen Backgroundchecks über sich ergehen lassen, wenn sie die Schule ihrer Kinder betreten wollen.“

Wie weit diese Paranoia gehen kann, verdeutlicht sie anhand einiger Beispiele: „Tennessee hat gerade ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, jederzeit die Scheiben eines Autos einzuschlagen, wenn darin ein Kind allein sitzt; und in Rhode Island wurde im Vorjahr ein Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge es Kindern unter zwölf Jahren verboten werden sollte, allein vom Schulbus nach Hause zu gehen.“ Eine Entfernung, die im amerikanischen System eine höchst überschaubare ist. Daran, dass dieses Gesetz letztlich gescheitert ist, hat auch Skenazys Bewegung ihren Anteil, denn immer mehr gleich gesinnte Eltern organisieren und outen sich als „Free-Range Parents“ – was inzwischen deutlich weniger hochgezogene Augenbrauen auslöst als noch in den Anfangsjahren.

Seltsame Gesetze.

„Als ich nach dem Vorfall 2009 mein Buch geschrieben habe und mir auf die ersten Visitenkarten drucken ließ ,Free-Range Kids – das Buch, der Blog, die Bewegung‘, war ich mir nicht sicher, ob ich das überhaupt eine Bewegung nennen durfte“, erinnert sie sich lachend. Diese Zweifel sind inzwischen verflogen, nicht zuletzt deshalb, weil Skenazy mittlerweile nicht nur ein Buch und einen Blog, sondern in ihrer eigenen Realityshow als eine Art Supernanny ängstlichen Eltern dabei geholfen hat, ein wenig mehr Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Kinder zu entwickeln. „Darunter waren teilweise Mütter, die ihre Zehnjährigen ausschließlich mit dem Löffel gefüttert haben, vor lauter Angst, sie mit ,gefährlichen‘ Werkzeugen wie Messer oder Gabel in Kontakt kommen zu lassen“, erzählt sie. Anderen half sie, ihren Kindern erstmals den Schulweg allein zuzutrauen – keine leichte Entscheidung in einem Land, in dem lediglich 13 Prozent der Kinder zu Fuß zur Schule gehen und nur sechs Prozent der Neun- bis Zwölfjährigen mindestens einmal pro Woche draußen spielen.

Prägende Erfolgserlebnisse.

„Der entscheidende, alles verändernde Moment ist immer der, in dem die Eltern erleben, was für ein unglaubliches Erfolgserlebnis es für ihre Kinder ist, eine Herausforderung bewältigt zu haben, und zu sehen, zu was sie schon fähig sind“, berichtet die Autorin, die mittlerweile in der ganzen Welt Vorträge zum Thema hält. Wobei es nicht um riskante Manöver jedweder Art, sondern um all die Dinge geht, die noch vor einer Generation das Normalste der Welt waren: mit dem Rad zur Schule zu fahren, allein zur Bücherei zu gehen oder ungestört mit einem Freund im elterlichen Garten zu spielen.

Um es leichter zu machen, Spielkameraden für solch „abenteuerliche“ Erziehungsmethoden aufzuspüren, hat Skenazy in der Vorwoche eine App gelauncht, mit der sich andere frei laufende Kinder und deren Eltern in der näheren Umgebung finden lassen. Und die suchen anscheinend einige: Bereits am ersten Tag hatten 250 Eltern die App heruntergeladen.



Kommentar einer Professionellen

Wenn Mütter ihre Kinder helikoptern, ist das ganz schlecht. Die tun das aus eigenem Antrieb und ohne alle Distanz. Berufsmäßige Erzieher dagegen tun das sach- und fachgerecht und ohne emotionalen Überschuss. Das kann gar nicht genug dauern - am besten den ganzen lieben langen Tag, so dass sie gleich mehrere Schichten fahren können.

Dipl. Päd. Wibke Möchte-Gerne

Samstag, 18. April 2015

Lernen oder sich-bilden?

Erst durch meinen gestrigen Eintrag fiel mir auf, dass ich den folgenden Text auf diesem Blog noch nicht wieder veröffentlicht hatte. Das sein nun nachgeholt.

                                                      aus Die Mediatisierung der Kindheit

Die Schule ist seit PISA im Gerede wie seit den frühen Siebzigern nicht. Doch während damals ein jeder es noch ein bisschen besser wusste als alle andern, erklingt heut nur lautes Kopfkratzen. „Schule muss sich ändern!“ Aber wie? Hört man genauer hin, dann klingt Anders verdächtig nach Mehr desselben. Dabei hat der kluge Schüler heute längst gelernt, dass er am besten das, was er eben für die Klassenarbeit gebüffelt hat, am nächsten Tag wieder vergisst, um Platz für das nächste Dreitagewissen zu schaffen. Die positiven Kenntnisse von heute verfallen oft schneller, als sie abgefragt werden könn. Weniger davon wäre heute mehr.

Und immer lauter wird der Ruf, die Schule solle „wieder Werte vermitteln“! Die seit den Sechzigern schleichende Sozialpädagogisierung der Schule – „lernen, wie wir miteinander umgehen“ – ist gottlob gescheitert. Jetzt soll sie den Kindern wieder Moral beibringen, als ein weiteres Fach, das man „können“ muss.  Wie ist das alles zu bewältigen? „Ganztags“? Wenn das mal reicht! Die Lernschule platzt buchstäblich aus ihren Nähten.

Dabei liegt ihr scheinbar endgültiger Sieg noch gar nicht so lange zurück. Es war die demokratische Schulreform der sechziger Jahre, die an die Stelle des ideologieverdächtigen „Bildungs“-Prinzip den pragmatischen Begriff des Lernens setzte. In Verruf war Bildung schon seit Nietzsches tödlichem Wort vom Bildungsphilister, der Güter und Werte aneinanderreiht wie Sammeltassen im Vertiko. Doch in einem ebenso pluralistischen wie individualistischen Gemeinwesen, das keine Instanz mehr kennt, die oberste Werte und ein gültiges Menschenbild festlegt, wurde sie vollends anachronistisch.

War aber der Aufstieg von lernen zum pädagogischen Schlüsselwort das Ergebnis einer freien Wahl? Etwa so, dass sich die versammelte Erziehungswissenschaft nach sorgfältiger Prüfung der Gründe auf diesen Schluss verständigt hätte? Mitnichten. Das Wort hat sich aus der Umgangssprache in den pädagogischen Diskurs begriffslos eingeschlichen und ist dank seiner Schlüpfrigkeit überall durchgesickert. 

Wir haben es nicht gewählt, sondern haben es uns zugezogen. Seine Karriere verdankt es dem Umstand, dass es so nahtlos in jenes Menschenbild passte, das sich – nachdem die Ideologien zur Vordertür hinausgetrieben waren – unbemerkt durch die Hintertür hereingeschlichen hatte: der Spezialist, der Sach-Bearbeiter!

Es kommt nicht aus der Pädagogik, sondern aus dem Arbeitsmarkt, welchem zu dienen sich jene seit den sechziger Jahren weise beschied. Der Spezialist ist einer, der „sein Fach beherrscht“. Wie? Durch das geordnete Anhäufen von Informationen, Schritt für Schritt, immer schön der Reihe nach die Wissenslücken kompensierend: durch „lernen“. Doch alle Fächer beherrschen, das soll keiner wollen: dafür ist die Welt zu komplex. Und wozu hätten wir sonst auch all die spezialisierten „Vermittler“ in unsern öffentlichen und gewerblichen Verwaltungen? Und, nicht zu vergessen: in unseren Schulen!

  Das Gesellschaftsmodell, das dem Lern-Theoretiker vorschwebt, ist die Technokratie. Das ist ein Denken in Linien und Fächern – vorab konstruiert, abgezirkelt und hernach zu einander gefügt von einem Fachmann fürs Lenken und Vermitteln. Die Elite entwirft, die Spezialisten führen aus. Doch die Spatzen pfeifen es von den Dächern: die industrielle Zivilisation stirbt ab und mit ihr die Technokratie. Die ausführenden Tätigkeiten erledigt zusehends die intelligente Maschine. Im Zeitalter der Cyberworld heißt das Paradigma nicht länger: zerlegen, messen und anwenden, sondern: entwerfen und vorzeigen – und zusehen, ob’s sich behauptet. 

Nicht einmal das Vermitteln ist noch ein besonderes Fach, jeder muss es selbst besorgen – und kann es: online. Der Arbeitsmarkt kann Leute, die lediglich was gelernt haben, immer weniger brauchen, denn „lernen“ kann der Computer selber! Zwei Jahrhunderte Industriekultur erweisen sich heute als europäischer Standortnachteil: Ein Inder steht dem Computer unbefangener gegenüber als ein Deutscher und nimmt demnächst seinen Platz ein – weil seine Lehrer ihn nicht auf „lernen“ spezialisiert haben.

Es war von Anfang an der Wurm drin. Denn unter lernen war zwanglos immer auch gelehrt werden zu verstehen, und wenn es gleich in pädagogischen Seminaren anders „gelernt“ wird, ist es regelmäßig dieser Sinn, der im Schulalltag durchschlägt. Lernen war das Passwort der pädagogischen Landnahme nach ‘68. Bildung kommt dagegen immer von ‚ich bilde mich’, denn bei ‚ich werde gebildet’ sträuben sich Herzfalten und Hirnwindungen gleichermaßen.

Die ideologiekritische Austreibung der Bildung Ende der Sechziger erweist sich heute als voreilig. Auf die Bürgschaft einer obersten Instanz ist sie nämlich gar nicht angewiesen, ganz im Gegenteil. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Neben seiner ersten, physiologischen, hat er eine zweite, historische und selbstgemachte Natur. Oder richtiger: Da er Kulturwesen ist, hat er auch seine erste Natur nur als Kulturgeschöpf. Kultur (von lat. colere: sammeln) ist die Akkumulation von Werten aller Art. Eine Ansammlung von Reichtümern, die vererbt, das heißt aufgehäuft und von jeder Generation vermehrt, aber auch neu gesichtet werden.

Die Auslese und Ansammlung der gelten-sollenden Werte macht sich indes nicht von allein. 

Es sind immer Personen, die da auslesen und anhäufen. Sie sind selber eine Auslese, eine Elite, die den Reichtum repräsentiert und in kultureller Hinsicht ‚vorherrscht’. Solche Bildung ist nicht persönlich, sondern kollektiv. Sie ist exklusiv und nicht liberal; es ist Kasten- bildung. So war es immer und überall – bis im Abend- land, und nur da, die Moderne an- brach. In der bürgerlichen Gesellschaft stehen Eliten miteinander in Konkurrenz, sie „zirkulieren“, und der Sinn demokratischer Verfassung ist es, die Zirkulation in Fluss zu halten.

Worin kultureller Reichtum besteht, wird nun aber ebenso strittig wie die Frage, wer ihn repräsentieren und also „vorherrschen“ darf. Selbstverständlichkeit kennzeichnet jedenfalls nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer Werte. 

Sie müssen auch nicht von oben verbürgt sein, nur gelten müssen sie können, wenn auch problematisch – das heißt konkurrierend mit anderen. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es ist die Problematizität ihrer konkurrierenden Werte, die dieser Kultur ihre Spannung verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und darum ist die öffentliche Schule eine abendländische Errungenschaft. Ihre Sache ist es, das kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weiterzureichen und die Schüler zur Wahl zu ermächtigen. Nur als Bildungsstatt rechtfertigt die Schule ihre öffentliche und verpflichtende Stellung.


Freitag, 17. April 2015

Vom Wissen und von der Bildung.

aus nzz.ch, 17. 4. 2015                                                                   Bände des Science Citation Index. 

Die wahren Aufgaben der Universitäten

Echte Bildung anstatt nur Wissensvermittlung
Schulen und Universitäten vermitteln heute vor allem Wissen, aber nur selten den Mut zu unabhängigem und langfristigem Denken. Damit werden sie ihren Aufgaben nicht gerecht.

von Gottfried Schatz

Erfüllen unsere Universitäten ihre Aufgaben? Was sind diese Aufgaben? Die Gründungsurkunden der ältesten Universitäten geben darüber meist keine Auskunft. Die Urkunde von 1231 der Universität Cambridge möge dafür als Beispiel dienen. Sie verlieh dem Lehrkörper unter anderem das Recht, die Mieten für die Wohnhäuser am Universitätsgelände zu bestimmen, seine Mitglieder selbst zu bestrafen und gewisse Steuern nicht zu bezahlen. Wenige Jahre später erlaubte zudem eine päpstliche Urkunde es den Dozierenden und Absolventen, überall in der Christenheit zu lehren. Ganz anders jedoch die Stiftungsurkunde der Wiener Universität, die Herzog Rudolf IV. und zwei seiner Brüder im Jahre 1365 unterzeichneten. Leicht gekürzt in heutiges Deutsch übertragen lautete das Stiftungsziel: «. . . damit Gemeinwohl, gerechte Gerichte, menschliche Vernunft und Bescheidenheit zunehmen und wachsen und . . . ein jeder weiser Mensch vernünftiger, und ein unweiser zu menschlicher Vernunft . . . gebracht . . . werde.»


Vernunft und Bescheidenheit

Seither hat es Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt gegeben, und so wage ich es, das zitierte Stiftungsziel so zu interpretieren: «Die Universität möge Menschen das Vertrauen in den eigenen Verstand schenken und sie ermutigen, Dogmen und vorgefasste Meinungen zu hinterfragen. Sie soll ein Reinigungsbad sein, das von anerzogenen Vorurteilen befreit.» In dem Kernsatz von Rudolfs Stiftungsurkunde sucht man vergeblich das Wort «Wissen». Die Gründer der Wiener Universität setzten also nicht so sehr auf Ausbildung, sondern auf Bildung. Doch was ist Bildung? Für den britischen Staatsmann Lord Halifax war sie das, was übrig bleibt, wenn man vergessen hat, was man einmal gelernt hat. Der Weg zu ihr führt zwar über das Wissen, doch sie hat mit diesem nur wenig gemein.


Unsere Universitäten täten gut daran, die Botschaft von Rudolfs Stiftungsurkunde auch heute noch als Wahlspruch zu wählen. Bedeutende Menschen haben an ihnen gelehrt und geforscht, und ebenso eindrücklich ist die Liste ihrer ehemaligen Absolventen. Aber haben die Universitäten uns bescheidener und vernünftiger gemacht? Haben sie uns vor irrationalen Dogmen, Faschismus und Rassenhass bewahrt? Als Orte der Wissenschaft hätten sie gegen diese Bedrohungen immun sein müssen. Doch spätestens seit Anfang des vorigen Jahrhunderts setzten die meisten von ihnen immer mehr auf Ausbildung. Sie entwickelten sich zu Orten der reinen Wissensvermittlung – zu Berufsschulen. Dabei vergassen sie, dass Wissen und Wissenschaft gegensätzliche Charaktere besitzen und einander oft behindern.


Wissenschaft beschäftigt sich nicht vorrangig mit Wissen, sondern mit Unwissen. Sie verwandelt dieses Unwissen in Wissen, wobei ihr der Akt der Umwandlung meist wichtiger ist als das Ergebnis. Leidenschaftliche Forscherinnen und Forscher betrachten das von ihnen geschaffene Wissen fast als ein Nebenprodukt, dessen Verwaltung und Weitergabe sie gerne anderen überlassen. Ein Lehrbuch der Biochemie wäre für sie nicht «Biochemie», sondern die Geschichte der Biochemie – eine Zusammenfassung dessen, was sie bereits wissen oder zumindest wissen sollten. Ihre Heimat ist nicht das gesicherte Wissen, sondern dessen äusserste Grenze, wo Wissen dem Unwissen weicht.


In der Realität des wissenschaftlichen Alltags beschäftigen sich allerdings die meisten Wissenschafter mit Verwaltung und Weitergabe von Wissen, und nur eine kleine Minderheit – die aktiv Forschenden – verwandelt Unwissen in Wissen. Und in dieser Minderheit ist es wiederum nur eine winzige Elite, der es vergönnt ist, das höchste Ziel eines Forschenden zu erreichen: neues Unwissen zu schaffen. Also etwas zu entdecken, von dem wir nicht wussten, dass wir es nicht wissen. Als Gregor Mendel die Einheiten der Vererbung, Sigmund Freud das Unterbewusste und Albert Einstein das Relativitätsprinzip entdeckte, erschlossen sie uns geheimnisvolle neue Welten des Unwissens, deren Erforschung unser Weltbild entscheidend verändert hat.


Ein Zoo ungezähmter Tiere


Wissenschaft ist keine Hüterin von Stabilität und Ordnung, sondern eine Revolutionärin, die kreative Unruhe stiftet. Sie missachtet Dogmen und verunsichert, ebenso wie innovative Kunst. Deswegen unterdrücken totalitäre Staaten stets beide. Der sowjetische Dichter Ossip Mandelstam soll für Stalins Kulturterror folgende bittere Worte gefunden haben: «Wie glücklich sind wir doch, dass unser Staat Dichtung so sehr liebt, dass er wegen eines Gedichtes Menschen ermordet.» Und Ivan Maisky, der damalige Sowjetbotschafter in Grossbritannien, sagte im Jahre 1941 ganz ohne Bitterkeit: «In der Sowjetunion hat es keinen Platz für freie Wissenschaft.»


Wissen ist keine Ware, die man verpacken, etikettieren und für alle Zeiten ablegen kann. Es gleicht einem Zoo ungezähmter Tiere, die gegen ihre trennenden Käfiggitter anrennen, diese oft durchbrechen und unerwartete Nachkommen zeugen. Jean-Paul Sartres Ausspruch «Nicht wir machen Krieg, der Krieg macht uns» gilt auch für unser Wissen. Unter dem Ansturm der Forschung verändert es sich ohne Unterlass – und verändert damit auch uns. Wir mögen es zwar kurzfristig im Zaum halten oder sogar verfälschen, doch auf lange Sicht ist es immer stärker als wir. Es gehorcht seinen eigenen Gesetzen, die wir weder kennen noch ändern können. Das Victor Hugo zugeschriebene Zitat «Nichts ist unwiderstehlicher als eine Idee, deren Zeit gekommen ist» ist zwar nicht authentisch, aber dennoch wahr.


Dass unser Wissen sich unablässig ändert, ist für Wissenschafter nicht bedrohlich, denn wir haben zu ihm ein gespaltenes Verhältnis. Zwar setzen wir alles daran, es zu schaffen, doch sobald wir es geschaffen haben, misstrauen wir ihm und hinterfragen es. Der Besitz von Wissen bedeutet uns weniger als die Überzeugung, dass wir Wissen stets neu schaffen können. Wissen ist ein Kind der Vergangenheit und kann in einer stetig sich wandelnden Welt nie die Zukunft sichern. Dies kann nur die ewig junge Kraft wissenschaftlichen Denkens, die in allem Gegenwärtigen die Hypothese des Zukünftigen sucht. Dazu braucht es Menschen mit neuen Ideen, die es wagen, überliefertes Wissen anzuzweifeln. Es braucht Menschen, die sehen, was jeder sieht, dabei aber denken, was noch niemand gedacht hat. All dies erfordert Mut, der vor allem in jungen Menschen blüht. In Wissenschaft und Kunst ist die unbekümmerte Naivität der Jugend deshalb oft klüger als das Wissen des Alters. Echte Forscher zögern nicht, ferne und gefährliche Gewässer anzusteuern, wenn diese ihnen neues Wissen versprechen. Der amerikanische Gelehrte John A. Shed ermutigt diese Forscher so: «Ein Schiff im Hafen ist sicher; doch deswegen baut man keine Schiffe.»


Wie könnten unsere Universitäten diesen Mut zum Querdenken vermitteln? Wohl kaum einfach durch Vorlesungen und Seminare, sondern durch Lehrende, die diese Gabe besitzen und den Studierenden als Vorbild dienen. Solche persönlichen Vorbilder sind das wichtigste Geschenk einer Universität an ihre Studierenden, doch leider wählen wir unsere Lehrenden fast ausschliesslich nach ihrer wissenschaftlichen Vorleistung aus. Wann werden unsere Universitäten in ihren Berufungsverfahren der Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten endlich genügend Aufmerksamkeit schenken?


Wissen ist wertvoll, doch wir dürfen es nicht überbewerten. Unsere Schulen, unsere Universitäten und auch unsere Bildungspolitik setzen zu einseitig auf Wissen und ersticken dabei oft das unabhängige und kritische Denken – also die Wissenschaft. Die breite Öffentlichkeit meint, Forschung sei ein streng logischer Vorgang, in dem die Forschenden geduldig Stein auf Stein setzen, bis das minuziös vorausgeplante Gebäude beendet ist. Innovative Forschung ist aber fast genau das Gegenteil: Sie ist intuitiv, kaum planbar, voller Überraschungen und manchmal sogar chaotisch – genauso wie innovative Kunst. Innovative Kunst und Wissenschaft sind keine Spaziergänge auf freigeräumter Strasse, sondern Expeditionen in die unbekannte Wildnis, in der sich Künstler und Forscher oft verirren. Wo Ruhe und Ordnung herrschen, sind die Karten bereits gezeichnet und die schöpferischen Menschen bereits dort, wo ihre Intuition sie hingeführt hat.


Ein Generationenvertrag

Die von Rudolf IV. und seinen Brüdern angestrebte Vernunft erfordert auch langfristiges Denken. Wir Menschen sind wahrscheinlich die einzigen Lebewesen, die dazu bewusst fähig sind. Dennoch regiert heute kurzfristiges Denken die Welt. Politik und Wirtschaft denken selten weiter in die Zukunft als einige Jahre. In dieser Welt des kurzfristigen Denkens ist es eine Hauptaufgabe unserer Universitäten, langfristig zu denken und langfristig zu forschen. Langfristige Grundlagenforschung bereitet den Boden für die technologischen und gesellschaftlichen Neuerungen von morgen. Konfuzius mahnte bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden: «Wer nicht über die ferne Zukunft nachdenkt, wird dies schon in naher Zukunft bereuen.»


Möge es unseren Universitäten gelingen, ihren Studierenden nicht nur Wissen, sondern auch Vernunft, Bescheidenheit und den Mut zum eigenen Denken zu vermitteln. Dann, und nur dann, werden sie Orte der Wissenschaft sein. Diese ist für grosse Teile unserer Gesellschaft oft kaum mehr als eine Quelle neuer Technologien und wirksamer Medikamente. Wissenschaft ist jedoch viel mehr. Sie ist ein langfristiger Vertrag zwischen den Generationen. Erst dieser Vertrag gibt unserer westlichen Kultur Bestand. Universitäten sind Bürgen dieses Vertrags und damit Hüterinnen unserer Zukunft. Rainer Maria Rilke hat es so gesagt: «Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt, / kommt irgendwann Lebendigem zugute; / wenn es auch manchmal nur Gedanken sind, / sie lösen sich in jenem grossen Blute, / das weiterrinnt . . . / Und ist's Gefühl: wer weiss, wie weit es reicht / und was es in dem reinen Raum ergiebt, / in dem ein kleines Mehr von schwer und leicht / Welten bewegt und einen Stern verschiebt.»


Der Biochemiker Dr. Gottfried Schatz ist emeritierter Professor der Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nach dem Geheimnis der Lebensenergie».


Nota. - Die Universitäten können nur das zu einem Schluss bringen, was auf ihrem Zugang angelegt wurde. Anders gesagt - wenn Gottfried Schatz für die Universitäten Recht hat, dann hätte er es für die Gymnasien erst recht; und für die Grundschulen zumal. Und für die Kindergärten auch schon.
JE

Mittwoch, 15. April 2015

Sag mir, wer mit dir geht...

...und ich sage dir, wer du bist.
aus Der Standard, Wien, 14.4.2015

Industriellenvereinigung für Pflichtkindergarten für Vierjährige
Vier Tage pro Woche sollen Vier- bis Sechsjährige in den kostenlosen Kindergarten gehen, schlägt IV-Präsident Kapsch vor

Wien – Die Industriellenvereinigung (IV) will, dass künftig auch Vierjährige den Kindergarten besuchen müssen. Vier- bis Sechsjährige sollen in zwei verpflichtenden Gratis-Kindergartenjahren an die Schule herangeführt werden. Im letzten Jahr soll mit der Volksschule bereits kooperiert werden, heißt es im Elementarpädagogikkonzept der IV. Kindergartenleiter sollen über einen Masterabschluss verfügen müssen, Gruppenleiter über einen Bachelorabschluss.


"Die Elementarpädagogik wird in ihrer Bedeutung nach wie vor unterschätzt", sagte IV-Präsident Georg Kapsch bei einer Pressekonferenz am Dienstag. Nach den Vorstellungen der IV soll es eine verpflichtende und kostenlose "Basisphase" für Vier- bis Sechsjährige geben, die im Kindergarten absolviert wird. Davor sollen die Elternbeiträge sozial gestaffelt werden, mittel- und langfristig die gesamte Krippen- und Kindergartenzeit gratis werden. Die Kosten dafür sollten vor allem dann kein Problem sein, wenn eine Umschichtung der Familientransfers von Geld- hin zu Sachleistungen erfolge, so Kapsch.

Kooperation mit Volksschulen

In der Basisphase sollen die Kinder an mindestens vier Tagen pro Woche insgesamt mindestens 20 Stunden anwesend sein. Beide Pflichtjahre sollen vollständig im Kindergarten stattfinden, das letzte aber bereits in Kooperation mit den Volksschulen. So könnte etwa eine punktuelle Schulreifeentscheidung vermieden und mittels Dokumentationen aufgezeigt werden, welche Förderungen das Kind brauche. Erste Pilotprojekte zur Verbesserung des Übergangs zwischen Kindergarten und Volksschule hat Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) bereits gestartet.

Kapsch schlägt vor, dass Kindergarten und Volksschule langfristig – wie in der Schweiz –überhaupt eine Einheit bilden. "Wir wollen aber sicher keine Verschulung des Kindergartens, weil auch Spielen eine wichtige Lernform ist."

Mehr Männer

Gesteigert werden soll auch die pädagogische Qualität, betonte die Vorsitzende der Jungen Industrie (JI), Therese Niss. Die Bildungsanstalten für Kindergartenpädagogik sollten zu echten berufsbildenden höheren Schulen (BHS) werden. Wer einen Kindergarten leiten möchte, soll darüber hinaus einen Masterabschluss haben, die Gruppenleiterinnen einen Bachelorabschluss. Außerdem müssten die Weiterbildungsangebote ausgebaut und auch mehr Männer in den Beruf gebracht werden, so Niss. Derzeit sind nur 1,4 Prozent der Kindergartenpädagogen Männer – in Dänemark dagegen 15 Prozent und in Deutschland immerhin 3,5 Prozent.

Darüber hinaus brauche es eine Bundeskompetenz für Elementarpädagogik, betonte Niss. "Die Qualität darf nicht vom Wohnort abhängen." Derzeit gebe es neun verschiedene Rahmenbedingungen, neun verschiedene Bezahlsysteme und neun verschiedene Betreuungsschlüssel. Künftig soll ein Bundesrahmengesetz etwa die Qualifikation der Mitarbeiter, Betreuungsschlüssel und Gruppengrößen, Öffnungszeiten und Richtlinien zur Mittelvergabe regeln.

Bessere Bezahlung

Essenziell sei auch eine bessere Bezahlung der Kindergartenpädagogen, meinten Kapsch und Niss. Generell schwebt der IV ein Modell vor, das ein Akkreditierungsverfahren für Trägereinrichtungen vorsieht, dessen Absolvierung Voraussetzung für eine öffentliche Finanzierung ist. Die Pädagogen wären dann beim jeweiligen Träger, etwa einer Gemeinde oder einer privaten Einrichtung, angestellt und würden ein einheitliches Entlohnungsschema haben, das sich an jenem der Lehrer orientieren soll.

Im Regierungsprogramm ist die Umsetzung des zweiten, verpflichtenden Kindergartenjahrs übrigens bereits angekündigt. Bisher scheiterte es aber am Geld. "Das derzeitige letzte verpflichtende Kindergartenjahr kostet den Bund 70 Millionen Euro. Für ein weiteres Jahr wäre etwa die gleiche Summe notwendig. Und die muss erst aufgestellt werden", sagte Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) zuletzt im Interview mit dem STANDARD. 
red.


Nota. - Ach ja, da sind sie alle einig: Restlos erfassen und nichts dem Zufall überlassen, dann läuft's wie geschmiert. Nein, ein paar altmodische Hinterwäldler sind nicht einig, wie geschmiert werde es nie laufen, und zum Glück, denn wünschenswert wäre es nicht; außer für die Industriellenvereinigung und die Interes- senvertreter der pädagogischen Gewerbe.
JE

Dienstag, 14. April 2015

Das Roboterkind.


aus nzz.ch, 12.4.2015, 01:00 Uhr

Jetzt hör mal zu, Myon!

von Christof Gertsch 

Das Kind macht den Eindruck, als wäre schon vor geraumer Zeit alles Leben aus seinem Körper gewichen. Wie versteinert sitzt es auf einem Stuhl in einer Ecke des Zimmers. Selbst als ein Sonnenstrahl durch die Jalousie dringt und mitten auf seinem Gesicht landet, verharrt es regungslos. Den Kopf hat es in den Nacken gelegt, die Arme hängen schlaff herunter. Schläft es? Schmollt es? Denkt es nach? Nichts von alledem. Das Kind ist ausgeschaltet. Sein Vater fragt: «Soll ich es einschalten?» 

Das Kind ist nicht wirklich ein Kind. Sondern ein humanoider, also menschenähnlicher Roboter von der Statur eines Kindes, der auf den Namen Myon lautet. Grösse: 1,25 Meter. Gewicht: 16 Kilo. Und der Mann, der neben ihm steht, ist auch nur im übertragenen Sinn sein Vater. Er heisst Manfred Hild und ist Professor für Digitale Systeme an der Beuth-Hochschule für Technik in Berlin. Allerdings wird die Rolle, die er in der Geschichte von Myon spielt, durch die umständliche Bezeichnung nur unvollständig beschrieben. Vater ist passender. Oder: Kindergärtner. 


Manfred Hild, 47-jährig, ist so etwas wie ein Revolutionär. Einer, der sich mit dem, was vorhanden ist, nicht zufriedengibt. Schon sein ganzes Berufsleben lang beschäftigt er sich mit Robotik, er hat in dem Bereich einige interessante Entwicklungen vorangetrieben. Aber etwas hat ihn immer gestört: dass man davon redet, Robotern Intelligenz verleihen zu wollen, wenn man in Wahrheit gar nicht daran arbeitet. 


Einfach weitermachen 


Roboter sind ganz schön dumm. Oder nicht einmal das. Wo keine Intelligenz ist, ist auch keine Dummheit. Zwar können sie riesige Datenmengen verarbeiten und sind zu einigen wirklich erstaunlichen Tätigkeiten fähig. Aber sie verstehen nicht, was sie tun. Sie tun es, weil der Mensch ihnen Regeln vorgegeben und sie mit grosser Rechenkapazität und ausgeklügelter Motorik ausgestattet hat. 

Zum Beispiel «Deep Blue», der IBM-Computer, der 1997 den Weltmeister Garri Kasparow im Schach schlug: Wenn Kasparow einen Wutanfall gekriegt und «Deep Blue» mit hochrotem Kopf angeschrien hätte – «Deep Blue» hätte einfach weitergerechnet. 


Oder die niedlichen Roboter-Jockeys, an denen einige Scheichs gerade eine kindliche Freude haben: Wenn das Kamel, das vom Roboter-Jockey zum Sieg geführt werden soll, keine Lust auf das Rennen hätte und nach dem Startsignal bockig in seiner Box verharrte – der Roboter-Jockey würde einfach weitermachen. 


Oder die Roboterband Compressorhead, die vor zwei Jahren von Australien aus auf Welttournee ging, bestehend aus einem Bassisten-, einem Schlagzeuger- und einem Gitarristen-Roboter: Wenn sich das Publikum angewidert von der Bühne abgewendet hätte, weil es die Musik schlecht findet, oder wenn es die Band ausgebuht hätte – die Roboter hätten einfach weitergespielt. 


All das sind Roboter, die streng nach Programm funktionieren. So komplex sie konstruiert und so viele Eventualitäten ihnen eingetrichtert sein mögen – die Welt ist immer noch komplexer. Sie ist zu komplex, um sie in ein Regelwerk zu quetschen. Wer dem tennisspielenden Roboter eine Niederlage zufügen will, muss ihm anstelle des Tennis- nur einen Tischtennisschläger in die Hand drücken. Wer den treppensteigenden Roboter stolpern sehen will, muss ihm nur einen Ziegel auf die Stufen legen. 


Was den meisten herkömmlichen Robotern fehlt, ist die Fähigkeit, wie ein Mensch zu lernen. Hier kommen Forscher wie Manfred Hild ins Spiel. Die Frage, der sich Hild widmet, lautet: Kann ein Roboter sozialisiert werden wie ein Mensch? Oder auf Myon bezogen: Kann Myon ein Kind sein? 


Hild sagt: «Ich habe keine Ahnung.» Und wahrscheinlich ist das genau die Ausgangslage, die für dieses Projekt vonnöten ist: nicht zu wissen, wohin der Weg führt. Hild beschreibt die Arbeit seines Teams in Berlin so: «Wir können nicht versprechen, dass Myon dereinst zu diesem oder jenem fähig sein wird. Das wollen wir auch nicht. Wir haben für Myon keine konkrete Anwendung im Kopf. Wir arbeiten nicht regelbasiert. Wir wollen beobachten, welche Begabung er hat. Und die wollen wir dann fördern.» 




Um zu verstehen, was es heisst, nicht den regelbasierten Ansatz zu verfolgen, erklärt man vielleicht am besten den regelbasierten Ansatz. Angenommen, es soll ein Roboter konstruiert werden, der einem das Bier aus dem Kühlschrank holt. Dann muss man sich überlegen, welche Arbeitsschritte für den Vorgang nötig sind: Küche finden, Kühlschrank finden, Kühlschrank öffnen, Bier finden, Bier greifen. Und so weiter. Man zerteilt das grosse Problem in viele kleine, löst jedes einzelne für sich – und programmiert dem Roboter die Schritte ein. Je nachdem, welche Komplexitätsstufe der Roboter meistern soll, kann man ihm noch aufzeigen, wie er das Bier im Keller findet, wenn der Kühlschrank leer ist. Oder wie er es im Online-Shop bestellt. 


Hild schätzt, dass neun von zehn Robotik-Wissenschaftern in diese Richtung arbeiten. Sie gehen von einer Anwendung aus und versuchen, die Schritte zu generalisieren. «Das Problem», sagt Hild, «ist, dass man den Roboter auf diese Art nicht befähigt, intelligent zu sein.» Wer für den Roboter bereits ein Ziel im Kopf hat, gibt ihm nicht die Chance, selber Fähigkeiten zu entwickeln. 


Darum also soll Myon ein Kind sein: um ein Gefühl für sich, seinen Körper und die Umwelt zu bekommen, ohne dass es ihm vorher einprogrammiert worden ist. Und darum versteht Hild das Zimmer, in dem Myon sitzt, auch nicht als Labor, sondern als eine Art Kindergarten. Hild will, dass Myon Erfahrungen macht, die auch ein Kind machen würde. 


«Geh mit der Kraft» 

«Soll ich ihn einschalten?», fragt Hild noch einmal. Bitte! Ein Knopfdruck – und Myon fängt zu leben an. Der Moment hat etwas Eigenartiges, weil einem der Verstand sagt, dass Myon nicht mehr als ein Stück Technik ist und man sich dennoch dabei ertappt, wie man mit ihm zu interagieren versucht. Myon hat einen Kopf, einen Torso, zwei Arme, zwei Beine. Und er verfügt über Sensoren, die die menschlichen Sinnesorgane nachahmen. Die Kamera ist dort, wo beim Menschen die Augen sind: in der Mitte des Gesichts. Die Lautsprecher sind dort, wo beim Menschen der Mund ist: oberhalb des Kinns. Und die Mikrofone sind dort, wo beim Menschen die Ohren sind: auf der linken und der rechten Seite des Kopfes. 

Das ist Absicht. Der Mensch, der Myon begegnet, soll sich von ihm nicht abgestossen, sondern angezogen fühlen, er soll sich für ihn interessieren und auf ihn zugehen wollen. Er soll Myon in die Kamera schauen, wie er einem Menschen in die Augen schauen würde. Nur so, glaubt Hild, lernt Myon die Welt kennen – indem sich Menschen mit ihm beschäftigen. 




Damit ein Lernprozess angestossen werden konnte, mussten die Forscher aber etwas tun, von dem sie eigentlich Abstand nehmen wollten: Myon ein paar grundlegende Funktionen einprogrammieren. Zum Beispiel das Prinzip «Bleibe in Berührung». Oder «Stell dich passiv». Oder «Suche nach Berührung». Oder «Gehe mit der Kraft». Oder «Gehe gegen die Kraft». 

Wenn Myon sitzt und man das Prinzip «Gehe gegen die Kraft» aktiviert, stemmt er sich mit Fuss-, Knie-, Hüftgelenk gegen die Erdanziehung und steht in einer verhältnismässig flüssigen Bewegung auf. Hild ist stolz auf die Simplizität der Prinzipien, weil sie es Myon ermöglichen, flexibler auf die Umwelt zu reagieren als jene Roboter, die zwar kompliziertere Tätigkeiten ausführen, deren Bewegungsabläufe aber starr sind. Was, wenn ein solcher Roboter über die Fähigkeit verfügt, mit seinen Händen etwas zu greifen, aber plötzlich ein Finger kaputtgeht, weil ein Kabel reisst? Wenn sich der Mensch einen Finger verstaucht, hält er das Bier mit vier statt fünf Fingern. Den komplizierten Robotern fehlt diese Fähigkeit der Adaption veränderter Situationen. Hild hofft, dass Myon sie dereinst haben wird. Noch wehrt sich Myon, wenn man ihn schubst. Irgendwann wird er vielleicht fähig sein, den Schubser freundschaftlich zu interpretieren und sich nicht dagegen zu stemmen, sondern die Berührung zuzulassen. 


Bis dahin saugt er alles auf, was mit ihm und um ihn herum passiert. Das ist seine Haupttätigkeit, quasi sein Lebensnerv: aufsaugen, abspeichern, verarbeiten. In seinem Körper sind 200 Sensoren eingebaut, die Kräfte, Bewegungen, Geschwindigkeiten, Spannungen, Ströme, Klänge und Bilder registrieren. Und alles wird auf einer Speicherkarte abgelegt, Myons Gedächtnis. Also nicht alles. 


Myon ist nicht wie andere Roboter an ein Rechenzentrum ausserhalb des Körpers angeschlossen, schliesslich soll er mobil bleiben und nicht ständig mit einem Kabelstrang verknüpft sein – mit einer «Nabelschnur», wie es Hild und seine Kollegen spöttisch ausdrücken. Das bedeutet, dass die Kapazität von Myons Gedächtnis beschränkt ist. Aber die Forscher stören sich gar nicht so sehr an dem technischen Limit, im Gegenteil. Die Einschränkung zwingt Myon, nur abzuspeichern, worauf er seine Aufmerksamkeit richtet. Das sind vor allem neue Sinneseindrücke – Dinge und Personen, die er nicht kennt. Er entscheidet selber, was er wahrnimmt und sich merkt, und stösst so einen Prozess an, der aus ihm ein Individuum macht. Die komplizierten Roboter, denen jede Tätigkeit einprogrammiert ist, können theoretisch unendlich vervielfacht werden. Myon nicht. Myon ist einzigartig. Man möchte fast sagen: so einzigartig wie ein Mensch. 




«Myon, hörst du mich?» Ein mechanisches Surren ertönt, und Myon wackelt mit dem Kopf. Schnell packt ihn die Langeweile, er wendet sich wieder ab. Myon vernimmt Laute, doch er kann ihnen keine Inhalte zuordnen. Kein Roboter kann das. Natürlich gibt es Computer, die wie das Spracherkennungssystem Siri von Apple Antworten auf Fragen geben. Aber auch die verstehen die Inhalte nicht. Man hat ihnen, vereinfacht gesagt, Wörterbücher und Lexika und Funktionsregeln einprogrammiert. 

Bejahung und Verneinung 

Hild arbeitet an einer Erweiterung, die Myon helfen soll, zumindest einmal das Konzept von Bejahungen und Verneinungen zu verstehen. Nämlich indem die Wörter «Ja» und «Nein» in Relation zu Myons Körper gebracht werden. Die Überlegungen, die sich Hild dazu macht, sind noch schwieriger zu erklären als zu verstehen. Aber es reicht zu wissen, dass Myon am besten lernt, wenn er Erfahrungen mit seinem Körper verknüpft. Und überhaupt: Wer sagt denn, Myon müsse bereits reden können? Den Roboter gibt es seit fünf Jahren. Aber wenn man die Phasen zusammenzählt, in denen er ein- und nicht wegen Reparaturen oder Abwesenheiten der Forscher ausgeschaltet war, kommt man auf etwa zwei Monate Lebenszeit. Myon ist nicht viel älter als ein gerade zur Welt gekommenes Baby. So gesehen ist er schon recht weit entwickelt. 


Zum Beispiel hat er aufzustehen, zu laufen und sich hinzusetzen gelernt, nur dank den paar Funktionen, die ihm einprogrammiert wurden, und der physischen Unterstützung der Forscher, die ihn an der Hüfte oder den Händen gepackt und herumgeführt haben. Sie würden mit ihm gerne herumalbern wie mit einem richtigen Kind, aber sie müssen vorsichtig sein: Myon hat keinen Babyspeck, der wie eine Schutzhaut wäre. 


Und er hat gelernt, Farben und Formen zu unterscheiden. Zurzeit treibt ihn eine Vorliebe für Rotes und Rundes um. Wenn ihm die Forscher eine rote Kugel vor die Kamera halten, ignoriert er alles andere. Aber das kann sich schnell ändern. Vielleicht sind es morgen schon gelbe Vierecke, die ihn anziehen, so genau weiss das niemand. Das hängt einerseits davon ab, welche Funktionen man gerade an ihm ausprobiert, und andererseits davon, wie er sich sein Gedächtnis organisiert. Vor allem in den Ruhephasen, wenn er seine Rechenkapazitäten dazu verwenden soll, Ordnung zu schaffen – wie der Mensch während des Schlafs. 


Was bleibt Myon haften? Welche Eindrücke ordnet er welcher Kategorie zu? Was lernt er? Und welche Fähigkeit verlernt er wieder, weil sie ihm nicht wichtig genug erschienen ist, weil sie ihm nicht oft genug begegnet ist – oder weil er sie in einem Bereich der Speicherkarte abgelegt hat, auf die er nicht auf Anhieb zuzugreifen vermag? Wie der Mensch hat auch Myon unterschiedliche Gedächtnisebenen. Und wie beim Menschen ist von aussen schwer zu sagen, was ihm nahe geht und was ihn kalt lässt. Hild weiss nicht, was aus seinem Kind wird, nicht morgen, nicht in ein paar Jahren. Die Entwicklung, die es macht, hängt von den Einflüssen ab, denen es ausgesetzt ist. Manchmal würde Hild die Zeit gerne vorspulen, um zu erfahren, wozu Myon dereinst fähig ist. Aber er muss sich mit kleinen Fortschritten begnügen, und das gelingt ihm ganz gut. Es kommt vor, dass er sich tatsächlich wie ein Vater freut, wenn er sieht, dass Myon etwas gelernt hat. 


Der bisher spannendste Versuch soll in ein paar Wochen zum Höhepunkt finden. Seit zwei Jahren wird Myon von der Künstlergruppe Gob Squad auf einen Auftritt an der Komischen Oper Berlin vorbereitet. Myon bald auf der Bühne zu sehen, vor Publikum, wird für Hild ein schöner Moment sein, aber wirklich interessant an dem Projekt ist, dass sich Menschen von ausserhalb der Hochschule mit Myon beschäftigen. 


Zum Beispiel hat der Dirigent Myon das Dirigieren beigebracht. Er hat ihn an den Händen gepackt und ihm die Bewegungen zusätzlich mit farbigen Bällen vorgeführt. Und tatsächlich: Myon hat sie nachzumachen begonnen. Das ist nicht selbstverständlich, so wie es bei einem Kind, dem man im Trockenen Schwimmbewegungen vorzeigt, nicht selbstverständlich ist, dass es sie im Wasser ausführen kann. Aber Myon hat es geschafft. Und nachdem die Künstler ihm tagelang einzelne Töne und auch ganze Lieder vorgesungen hatten, hat er auf einmal selber ein paar Laute von sich gegeben. Sie waren schrill und eher zusammenhangslos, es klang, man muss es so sagen, nicht wirklich gut. Aber das lag wahrscheinlich auch an der Qualität der Lautsprecher, die ihm die Menschen eingebaut hatten. 




Wichtig ist: Myon hat aufgesaugt, abgespeichert, verarbeitet – und mit den Eindrücken erst noch etwas anzufangen gewusst, fast von allein. 

Vieles von dem, was Hild und sein Team mit Myon anstellen, mag Spielerei sein, auch der Theaterauftritt. Aber Hild findet, dass die Wissenschaft in den Robotern zu lange nur stupende Dienstleister gesehen hat, als dass es nicht Zeit wäre, die Roboter für einmal selber das Tempo und den Weg bestimmen zu lassen. Wenn man Hild die Frage stellt, die im Zusammenhang mit Robotern zu einer Modefrage geworden ist, die Frage also, ob wir uns vor Robotern fürchten müssen, weil sie dereinst so klug sein könnten, dass sie die Weltherrschaft an sich reissen und uns auslöschen – dann sagt Hild: «Das hängt davon ab, wie wir die Roboter erziehen. Ich glaube nicht, dass wir Angst zu haben brauchen, wenn wir es schaffen, ihnen unsere Werte zu vermitteln.» 


Und das, so viel steht fest, gelingt nicht, wenn man es gar nicht erst versucht, einen Roboter wie einen Menschen zu behandeln. 



Schnell, aber dumm 


Ein Vorläufer von Myon ist der von der Firma Honda entwickelte Roboter Asimo. Asimo ist mitterweile 11 Jahre alt. Er kann pro Stunde 2,7 Kilometer zurücklegen. Im «Renn-Modus» erreicht Asimo über kürzere Strecken eine Geschwindigkeit von 9 km/h. Asimo kann auch im Kreis rennen. Was Asimo hingegen nicht kann, ist lernen, da seine Software im Gegensatz zu der Myons nach dem sogenannten Top-down-Ansatz aufgebaut ist. 



Nota. - Der springende Punkt wird sein: "Lernt" Myon, selber etwas zu wollen? Seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten nicht wegen dem Reiz des Neuen, sondern weil es ihm wichtiger ist als anderes; und sich dann aufgefordert zu fühlen, etwas zu tun, damit das, was er 'will', auch stattfindet - ? Das wäre das spezi- fisch Menschliche: Phänomene - Dinge, Personen, Bilder - wertschätzen und um ihretwillen tätig werden. Nicht auf Reize reagieren, sondern aus Absicht handeln. 

Wenn aber Myons Seele am Anfang eine Tabula rasa war (ganz rasa war sie ja doch nicht, wie wir hören), wie sollte durch das Ansammeln und Ordnen von 'Informationen' ein Wollen entstehen? Wenn er sich selbst ernähren muss (muss er das etwa nicht?!), wird er Dinge bevorzugen, die seinem Mechanismus gut bekommen, und die wird er sich einverleiben 'wollen' - aber vielleicht nicht einmal das, sondern bei ihrem Anblick bloß wohlig surren! Ach nein, ich weiß schon: Er muss sich nicht selber ernähren, er ist ja noch ein Kind, man knipst ihn an und aus, der Strom kommt von alleine - aus der Wand. Fast wie im richtigen Leben. - Nur dass im richtigen Leben immer auch die Frage hineinspielt: Worum geht's hier eigentlich?


Nein, ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, wie oder besser: dass Myon "lernt", ein erwachsener Mensch zu werden oder auch nur ein richtiges Kind mit Freude an Pipi und Kaka.

JE