Samstag, 18. April 2015

Lernen oder sich-bilden?

Erst durch meinen gestrigen Eintrag fiel mir auf, dass ich den folgenden Text auf diesem Blog noch nicht wieder veröffentlicht hatte. Das sein nun nachgeholt.

                                                      aus Die Mediatisierung der Kindheit

Die Schule ist seit PISA im Gerede wie seit den frühen Siebzigern nicht. Doch während damals ein jeder es noch ein bisschen besser wusste als alle andern, erklingt heut nur lautes Kopfkratzen. „Schule muss sich ändern!“ Aber wie? Hört man genauer hin, dann klingt Anders verdächtig nach Mehr desselben. Dabei hat der kluge Schüler heute längst gelernt, dass er am besten das, was er eben für die Klassenarbeit gebüffelt hat, am nächsten Tag wieder vergisst, um Platz für das nächste Dreitagewissen zu schaffen. Die positiven Kenntnisse von heute verfallen oft schneller, als sie abgefragt werden könn. Weniger davon wäre heute mehr.

Und immer lauter wird der Ruf, die Schule solle „wieder Werte vermitteln“! Die seit den Sechzigern schleichende Sozialpädagogisierung der Schule – „lernen, wie wir miteinander umgehen“ – ist gottlob gescheitert. Jetzt soll sie den Kindern wieder Moral beibringen, als ein weiteres Fach, das man „können“ muss.  Wie ist das alles zu bewältigen? „Ganztags“? Wenn das mal reicht! Die Lernschule platzt buchstäblich aus ihren Nähten.

Dabei liegt ihr scheinbar endgültiger Sieg noch gar nicht so lange zurück. Es war die demokratische Schulreform der sechziger Jahre, die an die Stelle des ideologieverdächtigen „Bildungs“-Prinzip den pragmatischen Begriff des Lernens setzte. In Verruf war Bildung schon seit Nietzsches tödlichem Wort vom Bildungsphilister, der Güter und Werte aneinanderreiht wie Sammeltassen im Vertiko. Doch in einem ebenso pluralistischen wie individualistischen Gemeinwesen, das keine Instanz mehr kennt, die oberste Werte und ein gültiges Menschenbild festlegt, wurde sie vollends anachronistisch.

War aber der Aufstieg von lernen zum pädagogischen Schlüsselwort das Ergebnis einer freien Wahl? Etwa so, dass sich die versammelte Erziehungswissenschaft nach sorgfältiger Prüfung der Gründe auf diesen Schluss verständigt hätte? Mitnichten. Das Wort hat sich aus der Umgangssprache in den pädagogischen Diskurs begriffslos eingeschlichen und ist dank seiner Schlüpfrigkeit überall durchgesickert. 

Wir haben es nicht gewählt, sondern haben es uns zugezogen. Seine Karriere verdankt es dem Umstand, dass es so nahtlos in jenes Menschenbild passte, das sich – nachdem die Ideologien zur Vordertür hinausgetrieben waren – unbemerkt durch die Hintertür hereingeschlichen hatte: der Spezialist, der Sach-Bearbeiter!

Es kommt nicht aus der Pädagogik, sondern aus dem Arbeitsmarkt, welchem zu dienen sich jene seit den sechziger Jahren weise beschied. Der Spezialist ist einer, der „sein Fach beherrscht“. Wie? Durch das geordnete Anhäufen von Informationen, Schritt für Schritt, immer schön der Reihe nach die Wissenslücken kompensierend: durch „lernen“. Doch alle Fächer beherrschen, das soll keiner wollen: dafür ist die Welt zu komplex. Und wozu hätten wir sonst auch all die spezialisierten „Vermittler“ in unsern öffentlichen und gewerblichen Verwaltungen? Und, nicht zu vergessen: in unseren Schulen!

  Das Gesellschaftsmodell, das dem Lern-Theoretiker vorschwebt, ist die Technokratie. Das ist ein Denken in Linien und Fächern – vorab konstruiert, abgezirkelt und hernach zu einander gefügt von einem Fachmann fürs Lenken und Vermitteln. Die Elite entwirft, die Spezialisten führen aus. Doch die Spatzen pfeifen es von den Dächern: die industrielle Zivilisation stirbt ab und mit ihr die Technokratie. Die ausführenden Tätigkeiten erledigt zusehends die intelligente Maschine. Im Zeitalter der Cyberworld heißt das Paradigma nicht länger: zerlegen, messen und anwenden, sondern: entwerfen und vorzeigen – und zusehen, ob’s sich behauptet. 

Nicht einmal das Vermitteln ist noch ein besonderes Fach, jeder muss es selbst besorgen – und kann es: online. Der Arbeitsmarkt kann Leute, die lediglich was gelernt haben, immer weniger brauchen, denn „lernen“ kann der Computer selber! Zwei Jahrhunderte Industriekultur erweisen sich heute als europäischer Standortnachteil: Ein Inder steht dem Computer unbefangener gegenüber als ein Deutscher und nimmt demnächst seinen Platz ein – weil seine Lehrer ihn nicht auf „lernen“ spezialisiert haben.

Es war von Anfang an der Wurm drin. Denn unter lernen war zwanglos immer auch gelehrt werden zu verstehen, und wenn es gleich in pädagogischen Seminaren anders „gelernt“ wird, ist es regelmäßig dieser Sinn, der im Schulalltag durchschlägt. Lernen war das Passwort der pädagogischen Landnahme nach ‘68. Bildung kommt dagegen immer von ‚ich bilde mich’, denn bei ‚ich werde gebildet’ sträuben sich Herzfalten und Hirnwindungen gleichermaßen.

Die ideologiekritische Austreibung der Bildung Ende der Sechziger erweist sich heute als voreilig. Auf die Bürgschaft einer obersten Instanz ist sie nämlich gar nicht angewiesen, ganz im Gegenteil. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Neben seiner ersten, physiologischen, hat er eine zweite, historische und selbstgemachte Natur. Oder richtiger: Da er Kulturwesen ist, hat er auch seine erste Natur nur als Kulturgeschöpf. Kultur (von lat. colere: sammeln) ist die Akkumulation von Werten aller Art. Eine Ansammlung von Reichtümern, die vererbt, das heißt aufgehäuft und von jeder Generation vermehrt, aber auch neu gesichtet werden.

Die Auslese und Ansammlung der gelten-sollenden Werte macht sich indes nicht von allein. 

Es sind immer Personen, die da auslesen und anhäufen. Sie sind selber eine Auslese, eine Elite, die den Reichtum repräsentiert und in kultureller Hinsicht ‚vorherrscht’. Solche Bildung ist nicht persönlich, sondern kollektiv. Sie ist exklusiv und nicht liberal; es ist Kasten- bildung. So war es immer und überall – bis im Abend- land, und nur da, die Moderne an- brach. In der bürgerlichen Gesellschaft stehen Eliten miteinander in Konkurrenz, sie „zirkulieren“, und der Sinn demokratischer Verfassung ist es, die Zirkulation in Fluss zu halten.

Worin kultureller Reichtum besteht, wird nun aber ebenso strittig wie die Frage, wer ihn repräsentieren und also „vorherrschen“ darf. Selbstverständlichkeit kennzeichnet jedenfalls nicht den Reichtum abendländischer Kultur, sondern die Fülle ihrer Werte. 

Sie müssen auch nicht von oben verbürgt sein, nur gelten müssen sie können, wenn auch problematisch – das heißt konkurrierend mit anderen. Die reichste Kultur ist eine solche, wo die Anordnung, die Umordnung der Werte prozessierend immer wieder neu geschieht – im Meinungskampf der Öffentlichkeit. Es ist die Problematizität ihrer konkurrierenden Werte, die dieser Kultur ihre Spannung verleiht und dem Einzelnen die eigne Wahl, nämlich eine persönliche Bildung zumutet. Das gibt es nur im Abendland, und darum ist die öffentliche Schule eine abendländische Errungenschaft. Ihre Sache ist es, das kulturelle Erbe an die nachwachsende Generation weiterzureichen und die Schüler zur Wahl zu ermächtigen. Nur als Bildungsstatt rechtfertigt die Schule ihre öffentliche und verpflichtende Stellung.


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