Über das Marionettentheater
Den Dramatiker Heinrich von Kleist – den Verfasser des Zerbrochenen Krugs, des Kätchens von Heilbronn und des Prinzen von Homburg - zählen die Deutschen zu ihren Klassikern. Doch mit seinen Novellen und seinem Erstlingsstück Familie Schroffenstein gesellt er sich der romantischen Bewegung zu. Mögen die Literaturhistoriker streiten – sein berühmtester Prosatext Über das Marionettentheater weist
ihn als einen selbständigen und darum besonders starken Denker der
deutschen Romantik aus. Auf den ersten Blick liest er sich wie eine
paradoxale Kunstphilosophie. Doch wer ein zweitesmal hinschaut, erkennt
darin ein ausgewachsenes Bildungsprogramm.
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K.
fragt, wie es zugeht, daß die Mechanik in einem Stück totem Holz der
Kunst eines lebendigen Menschenleibes etwas beibringen kann.
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Die Linie, die der Schwerpunkt zu beschreiben hat, wäre zwar sehr einfach und, wie er glaube, in den meisten Fällen gerad. Dagegen wäre diese Linie wieder, nach einer andern Seite, etwas sehr Geheimnisvolles. Denn sie wäre nichts anderes als der Weg der Seele des Tänzers; und er zweifle, daß sie anders gefunden werden könne als dadurch, daß sich der Maschinist in den Schwerpunkt der Marionette versetzt, das heißt mit anderen Worten: tanzt.
Ich sagte, daß, so geschickt er auch die Sache seiner Paradoxe führe, er mich doch nimmermehr glauben machen würde, daß in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers. Er versetzte, daß es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich auf diesem Felde mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.
K.
fragt, worin der Vorzug der hölzernen Puppe gegenüber dem lebendigen
Tänzer begründet sei. Herr C. entgegnet, der
Vorzug der Puppe wäre,
daß sie sich niemals zierte. Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen,
wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet,
als in dem Schwerpunkt der Bewegung. Da der Maschinist nun schlechthin,
vermittelst
des Drahtes oder Fadens, keinen andern Punkt in seiner Gewalt hat, als
diesen: so sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen, tot, reine
Pendel, und folgen dem Gesetz der Schwere; eine vortreffliche
Eigenschaft, die man vergebens bei dem größten Teil unserer Tänzer
sucht.
Sehen Sie nur die P. an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne spielt und sich, verfolgt von Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen Sie den jungen F. an, wenn er als Paris unter den drei Göttinnen steht und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.
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Sehen Sie nur die P. an, fuhr er fort, wenn sie die Daphne spielt und sich, verfolgt von Apoll, nach ihm umsieht; die Seele sitzt ihr in den Wirbeln des Kreuzes; sie beugt sich, als ob sie brechen wollte, wie eine Najade aus der Schule Bernins. Sehen Sie den jungen F. an, wenn er als Paris unter den drei Göttinnen steht und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen.
Solche Mißgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies sei verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen das
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Von
diesem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine
unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor. Er fing an,
tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer ein Reiz nach dem anderen
verließ ihn. Eine unsichtbare und unbegreifliche Gewalt schien sich wie
ein eisernes Netz um das freie Spiel seiner Gebärden zu legen, und als
ein Jahr verflossen war, war keine Spur mehr von der Lieblichkeit in ihm
zu entdecken, die die Augen der Menschen sonst, die ihn umringten,
ergötzt hatte.
Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C., so sind Sie im Besitze von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien auf der einen Seite eines Punktes nach dem Durchgang durch das Unendliche plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, das heißt in dem Gliedermann oder in dem Gott.
Nun, mein vortrefflicher Freund, sagte Herr C., so sind Sie im Besitze von allem, was nötig ist, um mich zu begreifen. Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien auf der einen Seite eines Punktes nach dem Durchgang durch das Unendliche plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet, oder das Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie zu gleicher Zeit in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, das heißt in dem Gliedermann oder in dem Gott.
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?
Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
Quelle: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1965, Bd. II, S. 338-345; zuerst in: Berliner Abendblätter, 12.-15. 12. 1810. Auswahl und Redaktion: J. Ebmeier
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