Montag, 7. Oktober 2013

Jungen werden in der Schule benachteiligt.

aus SPIEGEL online, 12.03.2009


Schulen benachteiligen Jungen massiv 
Das Schulsystem produziert haufenweise Verlierer – die Mehrheit ist männlich. Schon im Kindergarten werden Mädchen deutlich bevorzugt, auch in der Schule müssen Jungs um Aufmerksamkeit und gute Noten kämpfen. Ursache des Problems: Kitas und Grundschulen sind fest in weiblicher Hand.
 
Dumme Jungen, schlaue Mädchen? Der oberflächliche Blick auf die Schulnoten führte zu diesem lange gepflegten Vorurteil. Eine neue Studie des Aktionsrates Bildung bestätigt aber, dass der Grund für die Zensurenlücke ein anderer ist: Jungen werden in Kindergarten und Schule massiv benachteiligt.

Nicht mehr die Mädchen, sondern die “Jungen sind die Verlierer im deutschen Bildungssystem”, sagt der Ratsvorsitzende und Präsident der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen. Statt auszugleichen, verstärke die Schule den Bildungs- und Leistungsrückstand der Jungen. Am schlimmsten sei die Benachteiligung in den ostdeutschen Ländern.
 
“Beim Übergang auf das Gymnasium müssen Jungen eine deutlich höhere Leistung erbringen. Der Weg in die Berufsausbildung ist für Jungen erschwert”, kritisierte Lenzen. “Von allen Schulabgängern ohne Abschluss sind 62 Prozent Jungen.” Bei den Abiturienten seien die Mädchen wiederum klar in der Mehrheit. Die einstige “Bildungsbenachteiligung des katholischen Arbeitermädchens vom Lande wurde durch neue Bildungsverlierer abgelöst: die Jungen”, sagte Lenzen.
 
BILDUNGS-STUDIE: JUNGEN MÜSSEN MEHR LEISTEN ALS MÄDCHEN
 
Damit bestätigt der Aktionsrat Bildung ein Ergebnis, zu dem auch eine Untersuchung des Bundesbildungsministeriums vor gut einem Jahr gekommen war. Tenor: In der Grundschule sehen sich Jungen einer weiblichen Übermacht an Lehrkräften gegenüber – und werden von den Lehrerinnen häufig benachteiligt. Der Hallenser Bildungsforscher Jürgen Budde kam in dem Bericht zu dem Schluss, dass Jungen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten kriegen als ihre Mitschülerinnen. Selbst wenn sie die gleichen Noten haben wie Mädchen, empfehlen die Lehrer ihnen seltener das Gymnasium. Kurzum, Jungs werden bei gleicher Leistung schlechter behandelt.
 
Weil der Schulabschluss die gesamte Erwerbsbiografie beeinflusst, sind junge Männer deutlich häufiger arbeitslos als junge Frauen – damit wird aus einem individuellen Problem, auch ein gesellschaftlicher Missstand.

Der Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos sagte: “Männer sind nicht per se dümmer. Wir werden nur nicht so gefördert.” Das Risiko für Jungen, in Schule und Beruf zu scheitern, sei am größten in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Das fange schon im Kindergarten an, wo der Anteil der männlichen Erzieher unter drei Prozent liege. Am geringsten seien die Geschlechterunterschiede bei Bildung in den Stadtstaaten Hamburg und Berlin.
 
Dürfen Jungen nicht mehr Jungen sein?
 
Jungen haben laut Lenzen oftmals gar nicht die Chance, eine ausgereifte Geschlechtsidentität zu bilden, da sie im Kindergarten und in der Grundschule meist mit Erzieherinnen und Lehrerinnen konfrontiert seien. In keinem Bundesland liegt der Anteil männlicher Erzieher in den Kindertagesstätten bei mehr als zehn Prozent. 

Die Ergebnisse sind Teil des Jahresgutachtens des Aktionsrats Bildung unter dem Titel “Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem”. Zum Aktionsrat gehören neben [dem damaligen] FU-Präsident Lenzen und Wilfried Bos noch einige weitere namhafte Bildungsforscher, darunter der Koordinator der deutschen Pisa-Studie Manfred Prenzel.

Auch der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbands, Max Schmidt, betonte: “Sowohl in der Grundschule, aber auch während der Pubertät, ist es wichtig, dass Jungen und Mädchen in männlichen und weiblichen Lehrkräften positive Rollenvorbilder erleben.” Das zunehmende Verschwinden von Männern aus den Schulen erschwere gerade den Jungen die Auseinandersetzung mit der eigenen Rollenidentität.
 
Der Präsident der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), Randolf Rodenstock, warnte angesichts der vielen männlichen Schulabgänger ohne Abschluss, man könne es sich nicht leisten, so viele junge Männer auf dem Bildungsweg zu verlieren. Langfristig steuere Deutschland auf einen Arbeitskräftemangel zu, der durch die aktuelle wirtschaftliche Lage nur verzögert werde. Der von der vbw initiierte Aktionsrat Bildung fordert daher, dass das pädagogische Personal in seiner geschlechterspezifischen Kompetenz geschult werden müsse.
cht, AP/ddp





Im Jahresgutachten des Aktionsrats Bildung mit dem Titel “Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem – die Bundesländer im Vergleich” stellen die Forscher fest: Jungen werden in der Grundschule klar benachteiligt – und das liegt vor allem am pädagogischen Personal. Das Geschlechtsungleichgewicht in der Betreuung beginnt bei den Kleinsten: In Kitas sind im Bundesdurchschnitt nur 3,2 Prozent der Erzieher männlich. Ähnlich…
 



…sieht es an den Grundschulen aus: Die junge Lehrerin vor Grundschulkindern ist ein Klischee, das stimmt. Nur etwa jeder zehnte Grundschulpädagoge ist im Bundesdurchschnitt männlich. In Hamburg und Baden-Württemberg ist es immerhin jeder fünfte, in Hessen und im Saarland beinahe jeder vierte.
 

 
Wer bekommt am Ende der vierten Klasse eine Gymnasialempfehlung? Im Durchschnitt brauchen Jungen gemessen an den Ergebnissen der Iglu-Lesekompetenz-Untersuchung 49 Punkte mehr, damit die Grundschullehrer sie für das Gymnasium empfehlen. Neben Armut und mangelndem Status der Eltern ist also das männliche Geschlecht eine weitere Gymnasialbremse in den Augen der Grundschulpädagogen. Dazu passt auch, …
 




…dass die Hauptschulen mehrheitlich Jungenschulen sind.
   

 
Wie stark sich die historische Rolle der Mädchen im Bildungssystem geändert hat, zeigt diese Grafik: Waren sie 1970 bei den Hochschulabsolventen noch deutlich unterrepräsentiert, sind weibliche Akademiker seit Beginn der neunziger Jahre in der Überzahl. Demgegenüber…
 

 
…sind im Bundesdurchschnitt 62 Prozent der Schüler, die ganz ohne Abschluss bleiben, männlich.


Nota.

Jenes Institut, das sich heute unter dem Namen 'die Schule' über die ganze Welt verbreitet hat, ist in seinen Grundzügen in der Klöstern des mittelalterlichen Europa entstanden; als ein Ort, wo die von kriegerischen Rittern beherrschte Feudalgesellschaft mit der nötigen Dosis buchgelehrter Kleriker versehen wurde, die ein wenig Frieden bringen konnten - in die Herzen und, so Gott wollte, auch ein wenig in die Städte und Fluren. Sie waren mental gewissermaßen der 'weibliche' Teil in einer von männlichen Tugenden geprägten Adelsgesellschaft. Nicht, was vom heranwachsenden Ritter an männlichen Tugenden zu erwarten war, wurde dort gepflegt, sondern deren friedfertig ordnungsliebender Widerpart - Fleiß und Ausdauer. Die Mittel: stundenlanges Stillsitzen, Mundhalten, Nachsprechen und Repetieren. Während an den erstgeborenen Söhnen der herrschenden Kriegerkaste Kraft, Mut und Abenteuergeist gefördert wurden, mussten sich ihre nachgeborenen Brüder in Sanftmut, Frömmigkeit und - nun ja, Verschlagenheit üben. Die Schule war nicht - schon damals nicht - der Ort, wo Jungen Männer werden durften.

In dem Maße, wie die Gesellschaft bürgerlicher wurden, kamen neben den Jungenschulen auch Institute für Mädchen auf, und als die industrielle Revolution der neunzehnten Jahrhunderts die bäuerliche Bevölkerung zu Industriearbeitern proletarisierte, wurde die Elementarschule zur Pflicht und das pfäffische Ideal des arbeitsamen Duckmäusers zur Norm. Für die Mädchen nun auch wie für die Jungen. Und beim Lehrpersonal der Volksschulen waren die Frauen bald typischer als die Männer.

Natürlich hat sich im zwanzigsten Jahrhundert allerhand getan, der industrielle Tagelöhner ist auch schon längst nicht mehr der Standardfall des Arbeitslebens. Der höherqualifizierte Angestellte, dem man auch schonmal eigene Entscheidungen zumuten konnte - idealiter: der Staatsbeamte - wurde zum Produktionsziel der allgemeinbildenden Schulen, und dazu taugen Mädchen mindestens ebeno wie Jungen; wenn nicht mehr!

Fragen Sie sich jetzt immer noch, wie es kam, dass unsere Schulen zur Vorbereitung weiblicher Karrieren in der postindustriellen Berufswelt besser geeignet sind als zur Entwicklung männlicher Talente?  

J.E., 7. 10. 2013


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