Mittwoch, 5. April 2017

Spielen heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.


aus Der Standard, Wien, 5. April 2017, 09:00

Neurobiologe Hüther: 
Vernichtendes Zeugnis für Schulsystem
Das derzeitige Bildungswesen fördert nicht die Potenziale von Kindern, sagt Gerald Hüther, er sieht aber wachsenden Druck für Reformen

Interview

STANDARD: "Rettet das Spiel" ist der Titel Ihres jüngsten Buches, das Sie zusammen mit dem Philosophen Christoph Quarch geschrieben haben. Gehen wir dieses Gespräch also spielerisch an: Welche Einstiegsfrage wäre für Sie die denkbar dümmste?

Hüther: Es gibt keine dummen Fragen. Aber mitunter würde ich erkennen, dass Sie Inhalt und Anliegen des Buches offenbar nicht so gut verstanden haben, wie wir uns das wünschten, als wir es schrieben. Wenn Sie mich etwa fragten, welches Brettspiel wir nun spielen sollen, also welches kommerzielle Produkt, das wir Spiel nennen, das von mir am ehesten zu empfehlende sei ...

STANDARD: Welches wäre das?

Hüther: Gar keines. Denn dieses Buch handelt nicht von kommerziellen Produkten, die unter der Überschrift "Das ist ein Spiel" vermarktet werden, sondern von einer Grundhaltung dem Leben gegenüber, nämlich einer spielerischen Herangehensweise an die unterschiedlichsten Situationen und Probleme im Alltag.

STANDARD: Was derzeit in der Regel nicht der Fall ist.

Hüther: Es gibt Epochen in der Menschheitsentwicklung, in denen die Menschen glauben, sie müssten alle so gut oder möglichst noch besser funktionieren als die Maschinen, die sie bauen. Man will alles möglichst effizient abarbeiten, möglichst gut durchorganisieren, und dabei geht dann etwas verloren, was man gar nicht richtig merkt – diese Fähigkeit des Menschen, das, was alles gehen könnte, spielerisch auszuprobieren, und dabei herauszufinden, was am besten geht.

STANDARD: Sie nennen das spielerische Lebenskunst.

Hüther: Ja, das ist nicht das Abarbeiten von Routinen, um möglichst schnell von hier nach dort zu kommen, sondern eine innere Einstellung, die davon ausgeht, dass es im Leben nicht darauf ankommt, möglichst schnell fertig zu werden, sondern möglichst vielfältige Erfahrungen zu machen, damit man sich mit einem hochvernetzten Gehirn in unterschiedlichsten Lebenssituationen adäquat verhalten kann. Einfacher gesagt: Spielen ist das Erkunden des eigenen Potenzials.

STANDARD: In Anspielung auf ein Zitat von Friedrich Schiller heißt es in dem Buch, Spezialisierung und Partikularisierung verhinderten die kreative Entfaltung. Zugespitzt gefragt: Hat jeder Mensch das Potenzial zu einem Universalgenie à la Michelangelo oder da Vinci?

Hüther: Jedes Kind ist auf seine ganz besondere Art einzigartig und damit auch hochbegabt. In jedem steckt noch irgendetwas, was noch gar keiner zur Entfaltung gebracht hat. Aber es muss nicht jeder ein da Vinci werden. Das wäre furchtbar. Stellen Sie sich vor, alle würden so malen wie er. Jetzt merken wir plötzlich, was wir eigentlich als Begabung bezeichnen sollten, nämlich lauter verschiedene Begabungen und nicht nur die eine, die wir im Augenblick gerade bewundern.

STANDARD: Und die wäre?

Hüther: Wir glauben, unter Begabung sei das zu verstehen, was beim Intelligenztest gemessen wird. Deshalb halten wir Kinder für hochbegabt, die in der Schule bestimmte Dinge, meistens analytische Sachverhalte, schneller verstehen als andere. In Wirklichkeit ist dieser IQ-Test von den Briten Anfang des vergangenen Jahrhunderts erfunden worden, um sicherzustellen, dass keine absoluten Schwachköpfe an die Artilleriegeschütze kommen.

STANDARD: Sie stellen dem ein anderes Beispiel gegenüber.

Hüther: Kirschkernweitspucken kann auch eine Begabung sein. Wenn wir im tropischen Regenwald wohnten und unsere Kinder dort groß würden und wir noch keine Feuerwaffen hätten und uns mit dem Blasrohr verteidigen und unser Wildbret besorgen müssten, dann wäre einer, der mit Kirschkernen richtig weit spucken kann, der hochbegabteste, begehrteste und tollste Typ in dieser Blasrohrgesellschaft.

STANDARD: Sie sagen ja, dass unser Bildungssystem das Potenzial des Kindes nicht nur nicht fördert, sondern dessen Entfaltung geradezu hemmt. Und daher untauglich für die Herausforderungen des technologischen Wandels ist, den wir gerade erleben und der uns noch bevorsteht, Stichwort Informationstechnologie. Warum ist das so?

Hüther: Ein Beispiel: ein Junge, der schon mit drei Jahren beginnt, Skulpturen zu bauen. Sie merken, der könnte einmal ein irrsinnig toller Tischler werden. In unseren heutigen Schulen wird er als nicht allzu begabt erkannt werden, sondern als einer, der den Leistungsanforderungen nicht genügt, weil er im Kopf immer zu Hause bei seinen Schnitzereien ist. In der Schule findet er für das, was er kann, überhaupt keine Anerkennung und soll die ganze Zeit etwas machen, worauf er gar keine Lust hat. Er erlebt sich wie einer, der dieser sein will und zu jenem zurechtgebogen werden soll.

STANDARD: Was sind die Folgen?

Hüther: Das Ergebnis ist Schulverweigerung. Er geht nicht mehr gerne hin, wird möglicherweise krank oder tyrannisiert seine Eltern oder schließt sich einer Gruppe an, die dann gemeinsam in der Schule ein Riesentheater macht. Möglicherweise endet er in der Drogenszene oder im Gefängnis. Warum? Weil unser Schulsystem offenbar nicht in der Lage ist zu erkennen, dass da ein Kind mit einer besonderen Begabung ist, das sich entfalten möchte. Und dann nehmen wir dieses Kind nicht mit diesen Anlagen, sondern versuchen aus ihm etwas zu formen, das wir im Augenblick in dieser Gesellschaft für besonders wichtig halten.

STANDARD: Unser Bildungssystem "produziert" also auch am tatsächlichen Bedarf vorbei?

Hüther: Wir haben ja noch nicht einmal verstanden, wie sich der Bedarf geändert hat. In Wirklichkeit brauchen wir Handwerker dringender als Abiturienten. Wir brauchen nicht noch mehr Psychotherapeuten, die alle Psychologie studiert haben. Wir brauchten einmal einen, der eine Kirchturmuhr reparieren kann.

STANDARD: Andererseits räumen Sie ein, dass ein plötzlicher Umbau des Bildungssystems im Sinne maximaler Potenzialentfaltung des Einzelnen unweigerlich zum Zusammenbruch des gegenwärtigen Wirtschaftssystems führen würde, das auf pflegeleichte Konsumenten ausgerichtet ist.

Hüther: Wir müssen uns darüber verständigen, was die Aufgabe von Schule eigentlich ist. In jedem Zeitalter, wo immer es Schulen gab, haben sie nicht zur Entfaltung von Potenzialen der Kinder gedient, sondern dem Zweck, die nachwachsende Generation so vorzubereiten, dass sie dann so funktioniert, wie das notwendig war, damit das gesellschaftliche System funktioniert. Wenn sich auf dem Höhepunkt der Reformschulpädagogik um 1920 in Deutschland und in Österreich das alles ausgebreitet hätte und überall Reformschulen entstanden wären, dann hätten die Nationalsozialisten nicht genügend Leute für ihre Ideologie rekrutieren können. Dann hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben.

STANDARD: Was bedeutet das umgelegt auf die heutigen Verhältnisse?

Hüther: Wer mit sich selbst zufrieden ist und das Gefühl hat, dass er in dieser Welt zu Hause ist und etwas bewegen kann, eine gestandene Persönlichkeit, die auch einmal einen Frust aushalten und einen Impuls kontrollieren und vorausschauend denken kann, so eine Person, wie sie beispielsweise aus diesen Reformschulen hervorgegangen wäre, der ist kein Konsument mehr. Der ist ein Totalausfall für jeden Werbestrategen. Übrigens auch für jeden Politiker auf Stimmenfang.

STANDARD: Und deshalb darf es keine radikalen Reformen geben?

Hüther: Stellen Sie sich vor, alle Schulen wären so, dass solche Kinder rauskommen. Dann müsste vieles geändert werden. Das darf nicht zu schnell gehen. Deshalb bin ich froh, dass sich die Reformbewegungen auch in Österreich nicht überschlagen. Was ich aber beobachte und was in vieler Hinsicht interessanter ist als in Deutschland: Hier gärt etwas. Man spürt, offenbar weil seit 50 Jahren keine Veränderungen geschehen sind, dass der Druck auf das Schulsystem viel stärker geworden ist. Allerdings ist die Bereitschaft, auch wirklich etwas zu tun, noch nicht so ganz groß. 

Gerald Hüther, geboren 1951 in der damaligen DDR, ist Neurobiologe und befasst sich unter anderem mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. 2015 gründete Hüther, der nahe Göttingen lebt, die Akademie für Potenzialentfaltung. Bei einer Vortragsreise in Österreich sprach er jüngst in Feldbach in der Steiermark. Dort läuft ein breit angelegtes Bildungsprojekt zur Entwicklung einer neuen Schulkultur für ein "erfülltes Leben und Nachhaltigkeit".



Nota. - Was immer Spiel sonst auch sei - in jedem Fall ist es eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird. Natürlich kann man  dabei auch immer was lernen, und vielleicht gründlicher, als wenn das Lernen gewollt wäre. Wenn das der Fall ist und das Lernen zum Zweck wird -, dann ist es eben kein Spiel mehr. "Spielerisch lernen" ist eine Wortblase im Munde von SchlaubergerInnen, die die Kinder nicht ernstnehmen. Denn auch das Lernen kann ihnen ja Freude machen, zum Beispiel, wenn sie das, was sie lernen sollen, selber entdecken müssen. Dafür die Gelegenheiten schaffen ist die Arbeit von LehrerInnen.
JE


 

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