Montag, 16. Mai 2016

Seine nachhaltige Kindlichkeit verdankt der Mensch dem Kopf.


http://ebmeierjochen.files.wordpress.com/2010/11/gemito-fiociniere1.jpgVincenzo Gemito
aus Der Standard, Wien, 27. 8. 2914

Warum wir so lange Kinder bleiben
Biologie. In den ersten Jahren wachsen Menschen langsam, zumindest was den gesamten Körper angeht. Dafür wächst in ihnen etwas mit Höchstgeschwindigkeit, das Gehirn, es verbraucht den Großteil der Ressourcen.

 

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir relativ groß, aber dann geht es langsam voran. Bis wir ausgewachsen sind und geschlechtsreif, vergehen an die 18 Jahre. Eine solche Art, das Leben anzulegen – „life history“ –, haben sonst noch Reptilien, bei Säugetieren geht es rasch, bei Primaten auch, nur Schimpansen bremsen etwas, aber was ein Vergleich zeigt: Sie werden 32 Wochen lang ausgetragen, bei uns sind es 38 bis 40, dann wachsen sie in einem Zug, mit vier Jahren versorgen sie sich selbst, mit zwölf sind sie fertig!

Warum sind wir solche Lahmfüße? Es gibt vor allem zwei Hypothesen, sie schließen einander nicht aus: Die eine setzt darauf, dass wir so viel lernen müssen/dürfen, das brauchte schon bei unseren Ahnen Zeit, die über Jahrtausende als Jäger und Sammler unterwegs waren. Die andere sieht den Schlüssel in dem Organ, das bei uns im Erwachsenenalter etwa drei Mal so groß ist wie bei den Schimpansen, im Gehirn, unseres hat um die 1200 Kubikzentimeter Volumen, ihres um die 450, es schwankt bei beiden individuell stark. Und unseres wächst, solange es geht, im Uterus.

Irgendwann muss es hinaus, im letzten Moment, wenn der Schädel gerade noch durch den Geburtskanal passt. Dann bringt das Gehirn ein Viertel des Körpergewichts auf die Waage, aber es hat erst 30Prozent seiner erwachsenen Größe, bei Schimpansen sind es 40. Also muss unseres wachsen, und zwar nicht nur gleich nach der Geburt, sondern bis zur Pubertät. Das braucht Energie, das Gehirn ist extrem hungrig.

Gehirn ist ein extrem teures Gewebe

Woher nehmen? 1995 entwickelte Leslie Aiolli (University College London) die „expensive tissue hypothesis“: Der Paläoanthropologin war aufgefallen, dass unser Magen-Darm-Trakt nur 60Prozent der Größe hat, die er bei einem so großen Primaten haben müsste. Dort wird bei uns gespart, möglich wurde das durch energiereiche Nahrung – Fleisch, Fisch –, möglich wurde es auch durch die Domestizierung des Feuers: Kochen und Braten holen mehr Energie aus der Nahrung und machen sie unserer Verdauung leichter zugänglich.

Energie kann auch anderswo gespart werden, etwa durch Hinauszögern des Reifens, damit erklärt die zweite Hypothese unser gemächliches Wachstum: Es mag nur Eltern so vorkommen, dass Kinder in die Höhe schießen, in Wahrheit geht es vor allem mit vier, fünf Jahren so gemächlich, dass man nicht aus der Körpergröße auf das Alter schließen kann, sondern auf das Reden hören und das Verhalten im Auge behalten muss.

Und dort, im Alter von vier, fünf Jahren, wird extrem viel Energie in das Gehirn investiert, Christopher Kuzawa (Evanston) hat es durch das Zusammenführen älterer Daten über Größe und Energiebedarf des Gehirns gezeigt: In diesem Alter nimmt es 66Prozent der Energie, die der ganze Körper braucht, wenn er ruht; bewegt er sich, liegt der Anteil des Hirns immer noch bei 40Prozent (Pnas, 25.8.). „Das Körperwachstum kommt fast zum Stillstand, wenn die Gehirnentwicklung mit Lichtgeschwindigkeit geht, weil das Gehirn die verfügbaren Ressourcen aufsaugt“, erklärt Kuzawa. Erst wenn es endlich genug hat, um die Pubertät herum, kann endlich der Körper in die Länge schießen.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Alles nur gesellschaftliches Vorurteil - na hätten Sie das gedacht?

aus Süddeutsche.de,  11. Mai 2016, 09:30 Ur



Warum Jungen schlechter lesen als Mädchen 

In vielen Ländern gibt es eine "Leselücke" zwischen Mädchen und Jungen: Mädchen schneiden bei der Lesekompetenz häufig besser ab.

Mädchen lesen gern, Jungs können mit Büchern weniger anfangen. Ein Stereotyp, das eine statistische Grundlage hat. In fast allen Ländern, die an der jüngsten Pisa-Studie teilnahmen, lasen 15-jährige Mädchen besser und verstanden Sprache schneller als gleichaltrige Jungs. Um ein ganzes Schuljahr waren die Mädchen im Schnitt voraus. "Der Unterschied ist ziemlich kräftig und erstaunlicherweise über viele Länder hinweg stabil", sagt der Bildungsforscher Manfred Prenzel von der TU München. Nun zeigt sich: Teil des Problems ist wohl, dass sich das Stereotyp in den Köpfen der Kinder festgesetzt hat.


Forscher der Universität Grenoble haben Hinweise dafür gefunden, dass der Vorsprung womöglich mehr auf selbstgemachten Vorurteilen beruht als auf biologischen Unterschieden. Französischen Drittklässlern gaben sie die Aufgabe, auf einer Liste mit Wörtern in wenigen Minuten möglichst viele Tiernamen zu unterstreichen. Während sie manchen Klassen mitteilten, es handle sich um eine echte Prüfung der Leseleistung, sagten sie anderen Schülern, sie dürften das "Tier-Angeln"-Spiel einer Zeitschrift zum Spaß ausprobieren. Das Ergebnis des kleinen Experiments war eindeutig: Während die Jungen in der ernsten Situation deutlich weniger Tiernamen fanden, gelang ihnen die gleiche Aufgabe als Spiel genauso gut wie den Mädchen, schreiben die Forscher um Pascal Pansu im Journal of Experimental Social Psychology. Die männlichen Schüler, die zuvor angegeben hatten, Lesen sei ihnen besonders wichtig, zeigten die größten Unterschiede je nach Prüfungsstress. Sie überflügelten in der Spielsituation sogar die Mädchen.


Die Psychologen nennen dies "Bedrohung durch Stereotype": Jungen sind womöglich von der unbewussten Erwartung belastet, schlechter als die Mitschülerinnen lesen zu können, was dann ihre reale Leistung einschränkt - ähnlich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dafür spricht, dass gerade die dem Lesen zugewandten Jungen deutlich besser abschnitten, wenn ihnen die Angst vor dem Scheitern genommen war. Umgekehrt erzielten die lesefreudigen Mädchen im echten Test höhere Punktzahlen als in der Spielvariante. Sie seien wohl nicht mit dem Stereotyp belastet, mutmaßen die Forscher. 


Die Mädchen könnte das vorherrschende Vorurteil sogar noch in ihrer Leistung steigern. Weitere Studien müssten das jedoch vertiefen. Ähnliches kennen Bildungsforscher bereits aus der Mathematik: Beim Rechnen liegen in den meisten Ländern - im Schnitt - die Jungs vorne. Psychologen vermuten auch dort, dass dies stark mit der Selbstwahrnehmung zusammenhängt. Wenn sie Teilnehmerinnen von Mathetests wissen lassen, dass Frauen generell schlechter abschneiden, verstärkt das die Leistungsunterschiede. Bislang sei die weltweite - in Deutschland besonders ausgeprägte - "Leselücke" kaum untersucht, sagen die französischen Psychologen, obwohl der Abstand zwischen den Geschlechtern noch größer sei als beim Rechnen. "Lesen ist stark weiblich konnotiert, dieses Bild prägt sich schon sehr früh bei Kindern ein", sagt die Bildungsforscherin Cordula Artelt von der Universität Bamberg. Aus diesem Tief herauszukommen, sei nicht einfach für Jungs.



Nota. -  Die Vorurteil gehen noch weiter und reichen bis zu... den Wissenschaftlern; denn selbstverständlich wird unter lesen nur das Lesen von gedruckten Büchern verstanden. Dass Jungen im Internet eine Unmenge mehr lesen als Mädchen wird gar nicht erst erfasst! (Und wie steht es mit Comics? Nicht schulisch genug?!)
JE 






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