Samstag, 27. Februar 2016

Als ich ein Kind war….




...habe ich meine Arme in mein T-Shirt gesteckt und den Leuten gesagt, dass ich meine Arme verloren habe. Ein Videospiel neugestartet, als ich wusste, dass ich verlieren würde. Mit allen Stofftieren im Bett geschlafen, damit keines eifersüchtig sein musste. Hatte ich einen Stift mit 4 Farben und habe probiert, alle gleichzeitig heraus zu drücken. Aus der Verschlusskappe einer Flasche getrunken und so getan, als wären es Schnäpse. Die härteste Entscheidung war es, welches Nintendo Spiel ich heute spiele. Habe hinter einer Tür gewartet, um jemanden zu erschrecken, dann aber wieder hervor gekommen, weil derjenige zu lange gebraucht hat oder weil ich pinkeln musste. Habe ich so getan als würde ich schlafen, nur damit ich ins Bett getragen werde. Zwei Regentropfen am Fenster beobachtet und geguckt, welche schneller unten ankommt. Bin nur an den Computer gegangen um mit Paint zu malen. Das einzige, für das ich Verantwortung zeigen musste, war mein Tamagotchi. Ich habe gedacht, ich muss sterben, weil ich den Samen einer Frucht mitge-gessen habe und nun ein Baum in meinem Bauch wächst. Erinnerst du dich noch an deine Kindheit und dass du es nicht erwarten konntest, erwachsen zu werden? Was zum Teufel haben wir uns dabei gedacht?!

aus demotoviert




Donnerstag, 18. Februar 2016

Von der Künstlichkeit des Kindes und der Kindlichkeit der Kunst.


Im echten Manne ist ein Kind versteckt, und das will spielen.
  Nietzsche 
  Das Kind ist der Vater des Mannes.
französische Redensart
Am Ende ist bei jedem Spiel des Knaben und jedem 
Ernst des Mannes die Betrachtung der Zweck, auf den 
des Knaben Spiel und des Mannes Ernst gerichtet ist.
  Plotin, Enneaden III,8

Daß Menschen erwachsen werden, ist kein Naturgeschehen. Daß der Mensch neben seiner ersten, natürlichen Natur noch eine zweite selbstgemachte, künstliche Natur hat, die ihm nicht einfach vererbt, sondern anerzogen wird, ist seit Herder eine pädagogische Binsenweisheit. Aber es ist eine Halbwahrheit, die mehr mystifiziert als aufklärt – weil es so klingt, als handle es sich um zwei Stufen: bis hierhin Natur, von da ab Kultur. Natürlich kommen auch Menschenkinder nicht ausgewachsen auf die Welt. Nur ist der Prozeß der physiologischen Rei-fung bei den Menschen künstlich in die Länge gezogen – aber das fällt bereits in unsere „zweite“, selbstge-machte Natur.

Seit seinem Ur-Sprung, der Erfindung des aufrechten Gangs, ist der Prozeß der Hominisation eine Wechselwir-kung von Natur und Selbstentwurf; von biologischer Selektion und Anpassung hier und freier Gestaltung dort. So sehr, daß noch dieser Ursprung selbst rückblickend weniger als eine Reaktion auf Vorgefundens denn wie die Schaffung von Neuland erscheint. Der aufrechte Gang hat mit der Freisetzung der Dynamik von ‚Hand und Kopf’ die Erzeugung des Geistes ermöglicht. Und erfordert: Immerhin hat von allen Zweigen der Familie Homo die Gattung Sapiens als einzige bestanden. Der aufrechte Gang hat unsere Spezies ermächtigt, aus ihrer angestammten Nische in eine große bunte Welt aufzubrechen.

Dabei mußte sich Homo freilich entspezialisieren und zum Fachmann für das Unspezifische stilisieren. Es ist sinnvoll, seine seitherigen Schicksale als fortschreitende Erfüllung dieses ursprünglichen Programms zu ver-stehen: als Entbindung aus dem Wirkungsgefüge der Natur. Ewige Unfertigkeit ist sein hervorstechender Gat-tungscharakter und Dysfunktionalität sein Stil. Und es war die Entspezifizierung seiner bestimmten Umwelt zur offenen Welt, die ihn genötigt hat, ihr eine eigne Ordnung einzubilden – durch die Erfindung des Sinns; denn wie anders konnte der darin zurechtkommen?

Die Unreife des Menschen

Indes hat dies Programm selber biologische Fakten geschaffen und Eingang in unsere genetische Ausstattung gefunden. Der Freisetzung von ‚Hand und Kopf’ folgte ein sprunghaftes Anwachsen des Gehirnvolumens und -gewichts, so daß Menschenkinder nicht bis zur Lebensfähigkeit ausgetragen, sondern verfrüht „zur Welt gebracht“ werden. Ein „extra-uterines Embryonalstadium“ wird nötig, der Mensch wird zum „sekundären Nesthocker“ (nach A. Portmann).

Doch von da an erscheint die Entwicklung dieser Frühgeburt merkwürdig ‚retardiert’. Sein körperliches Wachstum erstreckt sich über rund zwanzig Jahre – unverhältnismäßig länger als bei Tieren mit einem vielfachen Körpergewicht. Besonders auffällig: Die geschlechtliche Reifung, die ‚eigentlich’ mit dem fünften Lebensjahr erreicht wäre, wird hormonal unterbrochen und bis ins zehnte bis vierzehnte Lebensjahr aufgeschoben. (Die Zirbeldrüse scheint beim Menschen nur noch diesem Zweck zu dienen). Es entsteht eine Entwicklungsstufe, die einzig ist in der Natur: die „Pubertät“, ausgezeichnet durch einen Wachstumssprung („zweiter Gestaltwandel“) und eine turbulente Sexualität, die nicht dem Fortpflanzungszweck zugeordnet ist.

Die Pubertät ist auch physiologisch kein Naturgeschehen, sondern schon Kulturprodukt – jedenfalls eines unserer „zweiten“, künstlichen Natur. Die scheinbare Verspätung des Heranwachsens beim Menschen ist in Wahrheit eine aktive Reifungs-Hemmung. Reife, das ist die endlich erreichte bestimmte Form. Bestimmt wodurch? Durch die bestimmte Funktion. Nur ein Organismus, der sich auf eine Funktion spezialisiert, kann „reifen“. Reifung oder Spezialisierung, das ist eins. Die endokrinal gesteuerte Reifungshemmung des Homo sapiens ist eine Spezialisierungshemmung: Er soll nicht „funktionieren“.

Wie  wir erwchsen wurden.

Erwachsenheit ist nicht die Reifeform des Menschen. Wie der Phänotyp ‚Erwachsener’ entstand, das ist ziemlich genau dieselbe Geschichte, die Norbert Elias als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben hat: die Ausbildung des bürgerlichen Menschen. Das feudale Mittelalter, das war, mit Egon Friedell zu reden, die Pubertät, waren die „Flegeljahre“ der Europäer (und die griechische Antike war, nach Karl Marx, ihre Kindheit). Die Neuzeit und die Geldwirtschaft machten sie erwachsen.

Die Zivilisierung der Gesellschaft ist die Rationalisierung ihrer Funktionen. Rationalisierung ist Ökonomisierung. Rationalität selbst ist Ökonomie der Vorstellung: Einbildungskraft plus Berechnung. Denken, das dient; funktionales Denken: Rationalität ist der abstrakte Begriff von Arbeitsfähigkeit. Und von Arbeitsteilung. Was im Ganzen Teilung ist, bedeutet für den Einzelnen Spezialisierung. Erwachsen sein heißt einen Beruf haben. Und der Weg dorthin heißt: lernen.

Max Weber sprach von der Rationalisierung der modernen Welt als von einer Entzauberung. Bezaubernd war die Welt, solange sie wenigstens an ihrem äußersten Rand noch unbestimmt blieb. Zweckmäßige Bestimmtheit banalisiert sie zur bloßen Umwelt. Webers Begriff der Rationalisierung bezeichnet die durchgehenden Funktionalisierung der bürgerlichen Gesellschaft, wo jedes um eines andern willen da ist; die Zuordnung eines jeden Minus zu einem Plus, eines jeden Topfs zu seinem Deckel, jedes Gegenstands zu seinem Bedürfnis.

Ausgleich, Äquivalenz, Assimilation. Paradigma der bürgerlichen Welt ist der Saldo. Ist nicht aber Surplus der Sinn und Zweck kapitalistischen Wirtschaftens? Ach, kaum ist ein Überschuß erzielt, meldet sich auch schon das „neue Bedürfnis“: Ick bün all do! Der Erwachsene ist der rational handelnde, die Folgen erwägende Bürger: der Haushälter,homo oeconomicus. Ja, doch – er ist spezialisiert; auf die häusliche Existenzweise. Er funktioniert, eingebunden in seine „zweite Natur“: sein selbstgemachtes Wirkungsgefüge (namens Wertgesetz). Er ist die Domestikationsform des Menschen. Seine „Verhausschweinung“, wie Konrad Lorenz das nannte.

Der rührende Rest

Nicht zum Spaß und nicht aus Stolz ist der Mensch zum Homo oeconomicus „erwachsen“. Es war der Fluch des Fortschritts, der Entfaltung der materiellen Produktivkräfte. Es war das immanente Gesetz der Arbeitsgesellschaft. Es war die Hürde, die erst einmal genommen sein wollte. Auf einmal verrät das Herder’sche Stufenmodell von der „ersten“ und der „zweiten Natur“ des Menschen seinen ganzen pädagogischen Sinn: Kindlichkeit wird bestimmt – als Unbestimmtheit; als Dysfunktionalität. Was unser ursprünglicher Gattungsstil war, wird gesetzt als Mangel – an Zivilisation. An Erwachsenheit. An Beruf! Den Mangel zu beheben wird selbst zur bestimmten Tätigkeit: zu Arbeit. Die Arbeit der Kinder heißt „lernen“.

Die Kindlichkeit des Kindes wurde, ebensowenig wie das Kind selbst, nicht einfach unterdrückt. Nein, sie wurde sogar idealisiert und mystifiziert – und dabei entfremdet und lahmgelegt. Was unbestimmt, nicht-rationell, nicht funktional und folgenlos war, wurde als noch-nicht-wirklich aus dem werktätigen Alltag ausgeschieden. Nach unten, ins Souterrain: die Kindheit, Caput mortuum einer zivilisierten Wildheit; Quell der Lebenskraft zwar, aber sentimentaler Schwachmacher. Asyl der Unzurechnungsfähigkeit und Insel der Seligen, je nachdem.

Und nach oben, in die gute Stube, den Salon, der nur des Sonntags aufgesperrt wird: die Kunst. In der Kunst erscheinen die Dinge, als hätten sie Wert und Sinn an sich selber, unbekümmert um die Folgen und gleichgültig gegen mein Bedürfnis. Schön ist, was zweckmäßig erscheint ohne Zweck, meint Kant. In der Kunst und in der Kindlichkeit des Kindes erscheint die gattungsmäßige Unbestimmtheit des Menschen als ein Residuum; irreduzibel, aber im wirklichen Leben nicht zu gebrauchen. Geschätzt nur bei feierlichem Anlaß.

In der bürgerlichen Kultur ist das Verhältnis von Werktag und Sonntag verkehrt: Während in traditionalen Gesellschaften das werktätige Leben um seiner Feiertage willen dazusein scheint, ist in der Arbeitsgesellschaft der Sonntag für den Werktag da: als Pause. Doch gerechterweise sei hinzugefügt: Im Phänotyp des Unternehmers hat die bürgerliche Wirtschaftsweise die alltägliche Häuslichkeit um eine Dosis Künstlertum bereichert. Allerdings ist der Sachbearbeiter inzwischen typischer als der Unternehmer.

Die Kindlichkeit der Kunst

Die Kindlichkeit des Kindes und die Künstlichkeit der Kunst haben einen gemeinsamen Nenner, und zwar: eine Sache um ihrer selbst willen tun. Es ist die Art von Tätigkeit, die landläufig Spiel genannt wird. Immer wieder hat man versucht, das Spiel definitorisch gegen die Arbeit abzusetzen. Vergeblich. Nämlich solange der Unterschied in den technischen, ergonomischen Merkmalen der Tätigkeit selbst gesucht wurde.

Der Unterschied liegt in ihrer verschiedenen Bedeutung fürs Leben. Arbeit ist eine Tätigkeit, die um eines gesetzten Zweckes willen geschieht. Der Zweck ist ihr Was, die Unbotmäßigkeit des toten Stoffs bestimmt das Wie: An der Sicherheit, mit der sie den Stoff dem Zweck anverwandelt, mißt sich ihre Qualität.

Und wenn es möglich wird, die Tätigkeit zu ersparen und ihre Qualität den Maschinen einzubauen, umso besser. Industriearbeit, Lohnarbeit ist die „reine“ Form der Arbeit. Nicht logisch, aber historisch, und darauf kommt’s an. Sie ist die Art von Tätigkeit, die gesellschaftlich gilt – qua Tauschwert, denn der ist der allgemeinste Zweck. Die Mühsal ist, allen Etymologien zum Trotz*, kein Bestimmungsgrund von Arbeit. Wenn Arbeit Spaß macht, hört sie nicht schon auf, Arbeit zu sein.

Spiel dagegen wird „um seiner selbst willen“ getan. Aber was bedeutet das? Daß es „befriedigt“? Dann wäre die Befriedigung Zweck, nicht die Tätigkeit, und wir würden uns im Kreise drehn. Das Eigentümliche am Spiel ist aber, daß vorher nicht feststeht, ob es befriedigen wird oder enttäuschen. Das Eigentümliche am Spiel ist sein offener Ausgang. Daß es also keinen Zweck hat.

Es werden Folgen eintreten, wie bei allem, was man tut. Aber man weiß nicht, welche. Man kann sie nicht „bedenken“. Man mag sie erahnen oder erhoffen, aber man muß es wohl drauf ankommen lassen… Spiel ist Risiko, und das Risiko ist sein Zweck. Es lebt vom Zauber des Unbestimmten. Arbeit dagegen will Bestimmtheit.

Die Unbestimmtheit der Zwecke – daß man erst sehen wird, was es werden soll, wenn es etwas geworden ist -, das macht Kunst zum Spiel. Die Künstler der Vergangenheit waren sich ihrer Zwecke freilich sicherer als die heutigen. Sie wußten sich beauftragt. Zuerst von geistlichen, dann von immer weltlicheren Mächten. Erst als der Markt die Künstler vom Geheiß der Auftraggeber befreit und ihre Existenz aber auch unsicher gemacht hatte, wurde der Ausgang der künstlerischen Tätigkeit offen. Kunst trat in einen polemischen Gegensatz zur Bürgerlichkeit – d. h. zur Arbeit.

Der Künstler wurde vor die Tür gesetzt und lebt seither in einem Reich des Ungewissen. Wie die Kinder. Nur am Sonntag ließ man ihn in die gute Stube: wie die Kinder. In ihnen beiden hat unser Gattungsstil überlebt, als Residuum. Der Vergleich von Kunst und Kindheit ist mehr als eine Metapher. Denn ist der Künstler immer ein bißchen wie ein Kind, so ist das Kind, mit Maurice Ravel zu reden, „von Natur künstlich“.

Der Erwachsene veraltet

In der Industrieproduktion selbst wird heute das Erfinden von Neuem wichtiger als die Reproduktion vorgegebener Zweckformen. Die Tugenden der Arbeitskultur – berechnen, assimilieren, saldieren – werden entwertet. Wenn der Arbeitsprozeß streckenweise selbst den Charakter von Spiel annimmt, dann wird „Chaosqualifikation“ funktioneller als Bestimmtheit; vielleicht das Kernproblem am Standort Deutschland, wo man jetzt Inder braucht, weil man die Kinder zu viel lernenläßt.

Die elektronischen Informationssysteme machen es sinnfällig: Wer sich ins Internet einklinkt, spielt mehr als daß er arbeitet; er „surft“. Funktionalität nimmt selbst den Charakter von Unbestimmtheit an. Rationalität, die unsere Zivilisiertheit ausmachte, gerät außer Kurs.

Und mit der Arbeit schwindet auch die Arbeit der Kinder: das Lernen. Cyberworld hält Einzug nicht erst ins Arbeitsleben, sondern schon in die Klassenzimmer – und alles, was sich überhaupt „lernen“ läßt, lernt früher oder später auch der Computer. Beim Informationsmanagement hat er den Menschen weit überholt. Will der ihn dennoch beherrschen, muß er sich nicht länger zum Spezialisten bilden, sondern zum Fachmann fürs Allgemeine – mit dem freien Willen als seinem „Betriebssystem“.

Selbst der Haupteinwand der Romantik gegen die bürgerliche Lebensweise, die Vereinseitigung der Menschen durch die Wahl ihres Berufs, fällt nun nicht mehr ins Gewicht. Im Zeichen von „lebenslangem Lernen“ wird die spezifische Arbeit der Kinder zu einer unspezifischen Tätigkeit von Allen, und die Erwachsenheit veraltet. Zugleich hört Kindlichkeit auf, ein Residuum zu sein, und verbreitet sich vom Souterrain aus über die anderen Etagen – bis in den bürgerlichen Alltag. Die Hürde fällt hin. (Allerdings geht es jetzt auch in der guten Stube nicht mehr so feierlich zu.) Das selbstgemachte Wirkungsgefüge lockert sich, das Wertgesetz schwindet. Es sieht gar aus, als kehrten wir zu unserm Ursprung zurück!

Zurück nach vorn

Doch was heißt da „zurück“? In den zwanziger Jahren machte der holländische Anatom Louis Bolk eine aufsehenerregende Entdeckung. Im Laufe seiner Gattungsgeschichte nähert sich die Morphologie des Homo sapiens zusehends solchen Formen an, die bei unsern nächsten Stammverwandten (den Pongiden) die spezifisch kindlichen sind; namentlich die Übergröße des Kopfes, der Verlust des Haarkleides, die Überlänge der Gliedmaßen bei einem verkürzten Rumpf und die Stellung der Wirbelsäule. Lauter urtümliche, unspezifische Formen. „Primitivismen“, meinte Bolk. Das von ihm beobachtete Entwicklungsgesetz nennt er Retardation.

Seine These führte zu heftigen Debatten. Weniger um die Fakten als um ihre Interpretation. Ist die Phylogenie eine „rezessive“ Umkehrung der Ontogenie, ein Rückfall ins Archaische? Oder sind nicht vielmehr die Kindheitsformen der Individuen ein „prozessiver“ Vorgriff auf die Zukunft der Gattung? – Diese Interpretation hat sich unter der (mißverständlichen) Bezeichnung Neotenie in der wissenschaftlichen Literatur behauptet; die konkurrierenden Namen Protogenese (Schindewolf) und Pädomorphose (Garstang) konnten sich nicht durchsetzen. Was aber mag die Morphologie allein schon aussagen?

„Viel wichtiger sind für das Problem der Menschwerdung die Neotenie-Erscheinungen im Verhalten“, schrieb Konrad Lorenz, der neben Arnold Gehlen das Thema in die Soziologie und Kulturanthropologie eingeführt hat. Der Mensch verdanke seiner Neotonie „zwei konstitutive Eigenschaften: erstens das Erhaltenbleiben der weltoffenen Neugier über nahezu sein ganzes Leben, zweitens aber seine Entspezialisierung, die ihn schon rein körperlich zum unspezialisierten Neugierwesen stempelt.“ Die Neugier setzt er, als eine Hingabe an das Unbestimmte, dem Spiel gleich; und „aus Können und Spielen entsteht die Kunst“.

Damit nicht genug. „Aus dem Neugierverhalten entwickelt sich beim Menschen phylogenetisch wie ontogenetisch die Wissenschaft. Sie ist der Kunst wesensmäßig so nah wie das Neugierverhalten dem Spiel.“ Die Folgerung ergibt sich zwanglos: „Das neugierige Kind ist im ‚echten Manne’ durchaus nicht, wie Nietzsche meinte, versteckt: Es beherrscht ihn völlig!“

Und auf einmal erscheint unsere gattungstypische Retardation, unsere Reifungs-Hemmung nicht mehr negativ, als die Verhinderung von Etwas; sondern positiv, als die Setzung von etwas Anderem: als Bewahrung und Bewährung unseres Gattungsstils.

Zurück? Ja, zurück zum offenen Ausgang. Jetzt erscheint Kindlichkeit als die Bestimmung des Menschen. Natürlich nicht im finalen Sinn eines zugrundeliegenden ‚Plans der Natur’. Sondern in dem Sinne, daß die Entwicklungsdynamik von Homo, nachdem er einmal den Sprung aus der bestimmten Nische in die weite Welt gewagt hatte, diejenigen Dispositionen privilegieren mußte, die seine Entspezialisierung förderten. Und das waren eben die kindlichen. So haben wir uns zur Kindlichkeit selbst-bestimmt.



Infantilisierung?

Und doch wird jetzt allenthalben die Infantilisierung der Kultur beklagt (auch von Konrad Lorenz übrigens). Darunter werden die verschiedensten Dinge verstanden, die nicht alle miteinander zu tun haben. Sofern die Rede ist vom zeitgenössischen Bedürfnisbefriedigungsyndrom, ist wohl die Klage berechtigt, aber die Zuordnung verfehlt. Süffisanter Selbstbezug ist ganz unkindlich. Er ist aber typisch für die Adoleszenz. Das heißt für die Kinder, die um keinen Preis der Welt welche bleiben wollen, seit die Pädagogik ihnen die Unschuld madig gemacht hat.

Unreife sei der Charakter des Infantilen. Die Reife eines Menschen ist aber nichts, worauf er stolz sein darf. Sie ist der Grad von Bestimmtheit, wonach’s nicht mehr weitergeht. Der lebendige Mensch ist unreif. Zeitkritiker wie Helmut Schelsky haben die um sich greifende Unreife vielmehr als Gleichgültigkeit gegen Verantwortung beschrieben. Doch Verantwortung wofür? Für „die Folgen“. Diese Art von Verantwortung gehört typologisch der entwerdenden Wirtschaftsgesellschaft zu, und daß sie schwindet, liegt im Wesen der Sache.

Was allerdings die aktuale Moralität der Haltung anlangt, kann das Normalkind dem normalen Erwachsenen einiges vormachen, heut mehr denn je. Moralität fragt gerade nicht nach den Folgen. Erwachsene werden kindisch, wenn sie nicht kindlich bleiben können. (Die Unterscheidung von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik ist was für Sachbearbeiter.)

Und schließlich gilt als infantil die Vorherrschaft des Trivialen. „Massenkultur“ ist das Synonym, und deren Hardware ist die Unterhaltungsindustrie. Daß dort vieles nichts taugt, sei unbestritten. Aber anderswo ist es nicht besser. Nein, trivial wird mit frivol vermengt: „Da wird nichts mehr ernstgenommen!“ Richtiger müßte es heißen: Da wird zuviel gelacht. Das ist aber gerade ihr Verdienst.

Die Unterhaltungsindustrie hat dem Komischen einen Platz in der Welt verschafft, den ihr die Hochkultur nie zugestehen wird. Dabei ist es doch der wahre Ernst des Lebens. Gewiß, gewollte Lustigkeit ist albern. Doch vieles alberne wirkt nur auf den ersten Blick so. (Und mancher Ernst ist unfreiwillig komisch, aber das hat auch seinen Charme.)

Keiner ist so wild aufs Lachen wie die Kinder. Ihre besondere Affinität zur Unterhaltungsindustrie ist deren Rechtfertigung. Sie war es, die Kiddie Kulture zur Welt gebracht hat. Sie ist das Feld, wo erstmals Kinder im öffentlichen Bewußtsein tonangebend wurden. Und zwar nicht in pädagogischer Absicht, sondern aus kommerziellem Kalkül, und das ist auch sicherer: Filme wieE.T. und Jurassic Park müssen so gemacht sein, daß wenigstens Mama und Papa mit ins Kino gehen, sonst würden sie die gewaltigen Produktionskosten nicht einspielen. Und mancher Erwachsene braucht seine Kinder als Ausrede, um sich Star Wars – Erste Episode leisten zu können. Das nennt man schamhaft „Familienunterhaltung“ (das Erfolgsrezept von Michael Jackson bis Steven Spielberg), doch geht es darum, gezielt das „Kind im Manne“ heraus zu locken, und das ist eine Kulturtat. Man bemerke übrigens den Witz: Die gar nicht so naiven Amerikaner schreiben die culture ihrer Kiddies mit einem großen deutschen K…

Mythen

Gewichtiger ist dieser Einwand gegen die Unerhaltungsindustrie: Die Flut der elektronischen Bilder überschwemme die Kultur des diskurrierenden Wortes. Das mache das Werk der Aufklärung zunichte und führe zu einer „Remythologisierung“ des öffentlichen Lebens. Ein Rückschritt wäre das, wenn man das mythische Denken als einen frühen, verunglückten Versuch der theoretischen Durchdringung der Welt zum Zwecke ihrer Beherrschbarkeit auffaßt: als einen Fehlstart der Rationalität.

Das war es vielleicht auch, aber nicht nur, und nicht vor allem. Vor allem war es eine künstlerische Anstrengung zur Sinndeutung, Sinngebung des Lebens und der Welt. Als solche ist es durch das rationale Denken zu keiner Zeit überholt, nicht einmal eingeholt worden.

Ein Problem ist vielmehr, daß das rationale Denken in seinem Hochmut so viel mythischen Stoff sich einverleibt und als eigene Errungenschaft ausgegeben hat; namentlich den „Begriff“ der Kausalität. Es wäre im Gegenteil ein Fortschritt, wenn mit der Freisetzung dieser diskursiv verkappten mythischen Bilderwelt das rationale Denken von seinen letzten vorbegrifflichen Schlacken gereinigt wird. Es wird dabei dann allerdings auf das ihm gebührende Maß zurückgestutzt. Der Sinn des Lebens liegt außerhalb seiner Reichweite.

Denn er läßt sich auch bei lebhafter Einbildungskraft nicht aus den Dingen „errechnen“. Man muß ihn hineinlesen, um ihn herauslesen zu können. Und darum taugt das Bild zu seiner Darstellung besser als der Begriff: weil es nie positiv ist, sondern immer problematisch. Es ist Kunst. Seine Vieldeutigkeit verrät uns, daß es ein Rätsel bleibt, ob das Leben einen Sinn hat oder nicht. Und zwar ein Rätsel, das sich nur dem stellt, der es sich stellt. Dem, der bereit ist, Bilder zu betrachten. (Es hat übrigens nur den Anschein, als ob die Begriffe keine Bilder wären. Sie sind durch den Sprachgebrauch fungibel gemachte Bilder.)

Mythen, Märchen und Legenden haben eine symbolische Grundform. Einer durch typische Merkmale ausgezeichneten Person widerfährt ein Geschichte, die paradigmatisch ist für die Rätsel des Lebens. (Auch der Mann ohne Eigenschaften ist so ein Mythos.) Die Lösungen, die sie findet, mögen dabei noch so unwahrscheinlich sein: Die Kunst sei eine Lüge, an der die Wahrheit sichtbar wird, meinte Picasso.

Das Vermögen, das ihr zugehört, ist die Anschauung. Oder „Betrachtung“; das griechische theoría, im Gegensatz zur interessierten prâxis, kann man so oder so übersetzen. Es bezeichnet jene Hingabe an das jeweils Andere, in der ich von mir selbst und von Zweck und Bestimmung ganz absehe.

Es ist eine Art des Außersichseins, die doch aber der ernste Sinn für das Wirkliche ist. „Selbstvergessenheit“ heißt sie bei Fichte – und kennzeichnet zugleich die ästhetische Erlebensweise. Schön ist, was ohne Interesse gefällt, klang das bei Kant, und Schiller übersetzt es sich so: „Im ästhetischen Zustand ist der Mensch also Null“. Wie nennt er aber das Verhalten, das den Menschen in den ästhetischen Zustand führt? Spiel. In diesem Sinne heißt es dann, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt.

Die Kindheit ist nicht nur die moralischste, sondern auch die ästhetischste Zeit der Menschen; und eigentlich ist beides dasselbe – denn das Leben selbst ist nur noch ästhetisch zu rechtfertigen…

Homo ludens victor

So ganz neu ist die Idee, daß sich das Wesen des Menschen im Spiel erst realisiere, also nicht. In diesem Jahrhundert wurde sie von einem andern Holländer, dem Kulturhistoriker Johan Huizinga wieder ins Gespräch gebracht. Bei ihm bekam sie eine polemische Note, sinnfällig in dem Schlagwort Homo ludens, das er dem klassischen Homo faber entgegensetzte. Sein Argument krankte daran, daß er zuviel beweisen wollte. In seinem Geschichtsbild wurde das Spiel anstelle der Arbeit zur Produktivkraft der Kultur.

Aber da hatte er den Augenschein von zehn Jahrtausenden gegen sich! Seine fleißig zusammengetragenen Beispiele bewiesen immer nur, daß „das Spielelement“ den agileren Teil in der Kulturentwicklung ausmacht: den Kitzel, den man sich leistet, wenn das Nötige besorgt ist. Aber sattmachen kann gerade in der Kultur nur die Arbeit. Und um die Seriosität seiner Darlegung nicht zusätzlich zu kompromittieren, gab sich Huizinga Mühe, den Begriff des Spiels vom Bild des Kindlichen abzusetzen. Das war der methodische Kardinalfehler: Als Kulturhistoriker fragte er nicht nach dem stammesgeschichtlichen Grund des Spielens der Menschen. Er setzte zu spät an und hat dann auf Sand gebaut.

Alle fanden sein Buch interessant, aber keiner war überzeugt. Die Fragestellung, „woher“ die Kultur stamme, ist ja auch scholastisch unfruchtbar. Wo sie hinsollte, das wollen wir wissen. Und wenn man Huizingas Argument vom Kopf auf die Füße stellt, dann zeigt sich, daß am Ende Homo ludens den Homo faber doch noch unterkriegt. Es wird aber auch Zeit.

Weniger Schule

„Auf die Blüte folgt die unreife Frucht, die Blüte ist in sich eine Vollkommenheit: Ebenso ist es mit dem Menschen“, hieß es bei Lichtenberg – als die Arbeitsgesellschaft selber erst eine grüne Frucht war. War sie dann aber herangereift, scherte sich der erwachsene Berufsmensch überhaupt nur noch um die Früchte und überließ die Blüten seinen Kindern und andren Spinnern. Lernen, reifen, spezialisieren – so kam schließlich die allgemeine Schulpflicht, und die Blüten wurden in die Sommerferien verbannt. Wir Erwachsene seien „nur Kinder von mehren Jahren“, fügte Lichtenberg seinerzeit hinzu. Ach hätte er doch Recht behalten! Aber wir wurden nicht bloß gealterte, sondern verminderte Kinder; versauerte Kinder – enfants aigris, sagt Sartre.

In Deutschland brauchte die Arbeitsgesellschaft bis ins letzte Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, um sich auch in der Erziehung der Oberklassen durchzusetzen. Der deutsche Studienrat und sein Gewährsmann, der Ordinarius, waren sture Böcke, doch ihre Stunde schlug im Jahre ’68. Der Kritische Rationalismus verkündete das Ende der Ideologien, Nüchternheit kehrte ein in Hörsäle und Schulzimmer. Weltanschauungen und Idealmodelle kamen außer Kurs, und übrig blieb, bescheiden, unausdrücklich und unanfechtbar, das prosaische Alltagsmenschenbild all derer, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen: der Spezialist; der Berufsmensch, der „von seiner Sache was versteht“. An die Stelle von humanistischer Bildung trat das Lernen für den Arbeitsmarkt – Informationen sammeln, sichten, selegieren, speichern und verwerten… (abgerundet durch grün-ganzheitliches Meinen, denn das qualifiziert für den Staatsdienst).

Die Zahl der Abiturienten vervielfachte sich, Universitäten schossen wie Pilze aus dem Boden. Es war der letzte Triumph der Arbeitsgesellschaft, denn mit dem Siegeszug der Informatik hatte ihr Niedergang schon begonnen. Daß unsere Schulen den Herausforderungen der post-industriellen Medien-Gesellschaft nicht gewachsen sein werden, brüllen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Über Schulfragen wird schon fast wieder so viel geredet wie Ende der Sechziger. Wenn dennoch kaum etwas passiert, liegt das nur zur Hälfte an den leeren Kassen.

Und zur andern Hälfte daran, daß sich Pädagogen das Problem wieder nur so vorstellen können, als ginge es darum, daß Schule (verräterischer Weise in solchen Fällen gern ohne Artikel genannt, als majestätisches Absolutum) ihre Tentakel auf noch ein weiteres Stück von der Welt legen soll. Für sie bedeutet Fortschritt immer nur Landnahme – bloß haben sie diesmal einen mächtigen Bammel davor.

Die Verlegenheit der Pädagogen vor der Cyberworld ist gottlob terminiert. Daß sich die Kinder mit der neuen Technik besser zurecht finden als ihre Eltern, gilt nämlich nur für diese Generation und für die nächste nicht mehr. Aber eines bleibt: Die interessantesten, aufregendsten und witzigsten Programme, die den Horizont am weitesten öffnen und das Geschick am meisten fordern, sind die mit einem unbestimmten Ausgang; nämlich Spiele (und das Hacken als ihre Krönung).

Mag da der Pedant auch immer noch von „lernen“ reden – einen Lehrer braucht man dafür jedenfalls nicht. Denn der Kick beim Spiel ist, wenn man’s selber hinkriegt. Und braucht man doch mal einen Rat, sollte es kein Studienrat sein: Der Nachbarsjunge kann das besser, weil er „selber nur spielt“. Und übrigens – das Ding heißt Heimcomputer, weil er zu Hause am bequemsten ist. Sagen wir’s gerade raus: Diese Technologie macht nicht „mehr Schule“ nötig, sondern weniger.

„Werte“

Mit der Entwertung kindlicher Lern-Arbeit hat die obligatorische öffentliche Schule ihr Proprium verloren. Und der Computer droht ihren institutionellen Rahmen aufzuweichen. Wozu ist sie dann „eigentlich“ noch da? Sie selber ist ratlos. Umso bestimmter ist die öffentliche Meinung: Dem Werteverfall soll sie begegnen! Gewaltbereitschaft, Ausländerfeindlichkeit, Drogen, Jugendsekten, Grafitti in der S-Bahn… Sozialdemokratische Schulsenatoren, christliche Kultusminister, GEW-FunktionärInnen und Leitartikler, alle sind sich einig: Die Familie versagt, die Kirchen sind machtlos und die Polizei kann auch nicht überall sein. „Es ist eine Frage der Erziehung!“ Wertevermittlung – dazu ist die Schule da.

Doch wenn es sich vermitteln läßt, ist es kein Wert. Sondern vielleicht ein sachliches Gut, das man besitzen kann und weiterreichen, wohlverpackt oder scheibchenweise. Ein Wert „ist“ nämlich gar nicht, sondern er gilt. Und zwar ganz oder gar nicht. Er bezieht sich nicht etwa auf mein Sein und Haben, sondern auf mein Tun und Lassen. Er läßt sich nicht realisieren, sondern nur verfolgen. Er ist eine Richtung und keine Sache. Man „hat“ ihn nur als Problem, wörtlich: als Aufgabe. Die Menschen sind nämlich, seit sie auf zwei Beinen stehen und aus der Natur in die Welt aufgebrochen sind, mit der fatalen Gabe des freien Willens geschlagen. Darum können sie nicht einfach vor sich hin leben wie alle andere Kreatur, sondern müssen ihr Leben führen.

Aber wo lang? Was immer uns als Anhaltspunkt dient auf unserm Weg, nennen wir einen Wert; und nur aus diesem und keinem andern Grund: weil wir uns danach gerichtet haben. Den Inbegriff all dieser Richtungswahlen nennen wir dann „Sinn des Lebens“ – und ist doch nur ein anderer Name für das eigentliche Problem, den freien Willen selbst (Schicksal nennen wir seine Rückseite). Der ist und bleibt das wahre Rätsel. Mythen und Märchen zeigen es uns gelegentlich so, als ob wir es lösen könnten. Doch das ist nur ihr zauberhafter Schein; eine Lüge, die uns das Rätsel reizend macht.

Denn wäre es in der Wirklichkeit lösbar, dann wäre der Wille nicht frei. „Vermitteln“ heißt allerdings, etwas zunächst einmal in seine Bestandteile zerlegen und es dann zu einem logisch zwingenden Diskurs aufreihen – nur so läßt sich ein Argument beweisen. Und was sich beweisen läßt, war eine Lösung und kein Rätsel. Wer nun den mythischen Schein der Lösung für Bares nimmt und gar Andern, noch dazu arglosen Kindern, seine einzelnen Werte als dessen Scheidemünzen andrehen will, weiß noch nichts vom Paradox der Freiheit. Natürlich kann es auch solche Lehrer geben. Aber nicht an einer öffentlichen Schule in einem freiheitlich verfaßten Gemeinwesen.

Immer neu

„Die Moral sagt schlechthin nichts bestimmtes. Sie ist das Gewissen, eine bloße Richterin ohne Gesetz. Sie gebietet unmittelbar, aber immer einzeln. Gesetze sind der Moral durchaus entgegen“, notierte Novalis, als er Fichte gehört hatte. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß man Sittlichkeit nicht lernen kann wie irgend ein Pensum. Kann aber darum keiner was für den andern tun? Mußá jeder wieder ganz allein aufbrechen und sehen, wo er bleibe? Nachdem so viel geschehen ist in der Geschichte und sich schon so viele vor uns an den Rätseln der Welt versucht haben? Dann hätten sie uns all ihre Zeugnisse ja ganz umsonst nachgelassen! Nein, definieren läßt sich das Rätsel vom Sinn allerdings nicht. Aber es läßt sich zeigen. Und das immerhin kann ein Lehrer tun, wenn ihm seine Schule dafür Raum läßt.

Unter den hinterlassenen Reichtümern der vergangenen Generationen ist kaum einer, der ganz allein dem Stoffwechsel diente und der Erhaltung des Leben so, wie es war. Fast jeder Gegenstand, jedes Werk weist in seiner Gestaltung einen kleinen Überschuß – Entwurf, disegno,design – auf, der nicht nötig gewesen wäre zu seinem bloß sachlichen Nutzen. Dieses Mehr betrachten wir als seine ästhetische Seite. Sie war immer auch eine Art Stellungnahme zur Frage nach dem Sinn der Welt, mal mehr, mal weniger absichtlich. Und je mehr sein Schöpfer jeweils selber meinte, in seinem Werk die Frage beantwortet zu haben, umso sicherer erkennen wir Kunst darin, und die ist uns noch rätselhafter als die Natur, weil sie sich selbst für eine Lösung hält.

Seit der Romantik nun, als die Kunst modern wurde, bescheidet sie sich, nein: macht sie sich’s zur Ehre, das Rätsel nur noch darzustellen. Sie begibt sich ausdrücklich in Gegensatz zu Industrie und Wissenschaft, die beide versprechen, spätestens morgen zu klären, was heute noch im Dunkeln liegt. Industrie und Wissenschaft behalten Recht, denn das Leben geht weiter. Doch je besser sie uns das Leben und die Welt erklären, um so deutlicher wird auch, daß deren Sinn nicht in ihnen liegt, sondern außerhalb, als das immer neue Problem.

Ästhetische Bildung

Als solches läßt es sich nicht begreifen und erlernen, sondern nur anschauen. Sein Medium ist nicht Logik, sondern Ästhetik. Das ist ein Erleben, wo nicht das Urteil erst – nach Analyse und Kritik – auf die Wahrnehmung folgt, sondern „auf einmal“ mit ihr selbst gegeben ist, uno actu. Nicht daß es aller Kritik entzogen wäre. Es ist nicht diskursiv, aber darum ist es noch lange nicht irrational; doch erst einmal muß es da sein, und das muß jeder selbst vollbringen – andemonstrieren läßt es sich nicht. Das unterscheidet Bildung von Lernen. Güter lassen sich wägen und messen, aber Werte muß man erlebt haben. Auf Unterrichtseinheiten kann man es nicht verteilen, und methodischer Fleiß würde nur stören, denn er verengt das Wahrnehmungsfeld. Darstellbar ist es nicht als Argument und Kalkül, sondern in Bildern und Geschichten. Es erschließt sich nicht durch Analyse, sondern durch Betrachtung. Als die Hingabe an das Unbestimmte steht sie dem Spiel näher als der Arbeit. Sie ist der „ästhetische Zustand“. Die Reichtümer all unserer Kulturen bieten ihr einen unerschöpflichen Fundus.

Und Cyberworld liefert ein Instrument, dessen Grenzen noch gar nicht zu ermessen sind. Daß es aber so künstlich ist, muß niemanden schrecken, denn so sind wir selbst, quasi von Natur. Die Verspieltheit der Kinder weist schon in die richtige Richtung.

*) mhd. arebeit: Mühsal ; engl. labour von lat. labare: „unter einer Last wanken“, frz. travail von lat. trepanum – ein Folterinstrument


aus: Pädagogische RundschauHeft 5/ 54. Jg., Oktober 2000

Mittwoch, 17. Februar 2016

Fetisch Inklusion.



Bevor SCHULE (ohne Artikel) in pädagogischer Hinsicht dieses oder jenes sein kann, ist sie schlechterdings erst einmal eins: eine Massenveranstaltung. Als eine solche ist ihr Maß der Durchschnitt.

Ist Sitzenbleiben gut oder schlecht? Da gibt es welche, die waren einfach noch zu kindlich für die xte Klasse, die haben mental noch mit Puppenlappen gespielt, denen tut es gut, nochmal zurücktreten zu können, und in der wiederholten Klasse begegnen sie lauter Dingen, von denen sie irgendwie schonmal gehört haben. Manche werden so zu richtig guten Schülern.

Sollen schlechte Schüler in Sonderschulen zusammengefasst oder sollen sie, wo immer möglich, in die Norma-lität inkludiert werden? Manch einen animiert es, wenn er unter Leuten ist, die schon einen Schritt weiter sind, und er legt etwas nach. Andere wiederum bedrückt es, ständig zurückgesetzt zu sein, und sie entfalten sich besser, wenn sie unter Ihresgleichen sind und durchatmen können.

Die Schule kann immer nur fragen, was im Durchschnitt der Fall ist. 

Wenn fünfzig Prozent der Schüler zur Kategorie A gehören und fünfzig Prozent zur Kategorie Z, dann liegt der Durchschnitt irgendwo bei Kategorie M. Eine Schule, die sich an der Kategorie M orientiert, ist für die eine Hälfte der Kategorie A so ungeeignet wie für die andere Hälfte der Kategorie Z. Und zwar nicht, weil der Durchschnitt fehlerhaft ermittelt wurde, sondern weil es der Durchschnitt war, der ermittelt wurde.

Der Durchschnitt ist eine mathematische Fiktion. In der Wirklichkeit entspricht ihm nicht die Mehrheit, sondern nur zufällig mal eine Minderheit.

Das Problem mit der Schule ist nicht, dass sie so oder so ist, sondern dass sie Schule ist.





Sonntag, 14. Februar 2016

Flickwerkfamilien.

Aber wo sind die andern Eltern?
aus NZZ am Sonntag, 14.2.2016, 09:00 Uhr
Patchworkfamilien
Geflickt ist geflickt
Überforderte Eltern, verwirrte Kinder, viel Stress für alle. Die Patchworkfamilie, von der linken Pädagogik gern idealisiert, wird auch von Experten wieder zunehmend kritisch betrachtet.

Vor einem Jahr war Serge bei der Wohnungseinweihung eines Freundes. Unter den neuen Gesichtern waren auch Eltern mit Kleinkindern. Im Gespräch mit einer Mutter hörte er dann diese Wortschöpfung zum ersten Mal. Zuerst erzählte die Mutter ihm, dass eines der Mädchen in ihrem Schlepptau nicht ihr leibliches sei, sondern ein Kind ihres jetzigen Mannes aus seiner ersten Ehe. Das sei doch schön. Denn nun, so erklärte sie ihm bedeutungs­voll, habe das Kind zusätzlich eine «Bonusmutter».

Bonus, o. k., so kann man es ja auch sehen, dachte Serge damals noch. Doch seit kurzem lebt seine eigene Tochter die Hälfte der Zeit in einer Patchworkfamilie – ohne ihn. Und nun erlebt Serge, dass sich sogenannte Bonusväter, wie etwa der neue Partner seiner Ex-Frau, zu einem ziemlichen Malus entwickeln können. Schliesslich ist das neue Biotop, in dem seine Tochter nun in seiner Abwesenheit aufwächst, für ihn eine völlige Blackbox. Welche Erziehung geniesst seine Tochter an einem Ort, wo er keinerlei Einfluss hat? Das Gefühl des Kontrollverlusts ist buchstäblich überwältigend.

Rückseite des Mondes

Vor seinem inneren Auge tut sich eine Blase auf, in der seine Ex mit einem anderen Mann Familie spielt, als wäre es nie anders gewesen, dazwischen seine Tochter und der halbwüchsige Sohn des Neuen (aus zweiter Ehe . . .). Da werden Dinge gemacht, die er nie zulassen würde, oder, noch schlimmer, da werden Dinge kategorisch verboten, die er sehr erfrischend findet. Welche Leitlinien kann er seinem Kind noch mitgeben, wenn er damit rechnen muss, dass in seiner Abwesenheit seine hehren Prinzipien mit Füssen getreten werden? Es ist wie die Rückseite des Mondes, dunkel und unheimlich.

Was, wenn seine Tochter plötzlich «Papi» sagt zu seinem Nachfolger? Das muss er immerhin nicht befürchten. Routinierte Bonuseltern besänftigen ihn dahingehend, dass für ein Kind immer klar bleibe, wer die leiblichen Eltern sind, solange ein regelmässiger Kontakt da ist. Genau dies müssen die Stiefeltern oft damit büssen, dass sich Kinder gegen sie abgrenzen, wenn sie sich gegen deren Massregelungen wehren. «Du hast mir gar nichts zu sagen», ist die stereotype Entgegnung von Kindern, die sich von ihren Stiefeltern gegängelt fühlen.

Was wird nun aber aus einem Kind, das am einen Ort fernsehen darf, bis ihm die Augen zufallen, während am anderen Ort die Mattscheibe als Werk des Teufels erachtet wird? Muss es nicht in endloses Grübeln versinken ob einer derartigen Inkonsistenz in der Erziehung? Es wird nun ein «Sowohl-als-auch-Kind» ohne klare Vorstellung darüber, was gut (natürlich Bücher lesen) und was böse (fernsehen) ist. So ein Kind ist doch verurteilt zu einem Leben in einer amoralischen Zwischenwelt, wo es ständig hin und her gerissen wird von den verschiedensten Versuchungen, denen es rein gar nichts entgegenzusetzen hat.

Doch die Experten haben auch in dieser Beziehung eine Beruhigungspille: Normalbegabte Kinder sind durchaus in der Lage, widersprüchliche Signale von beiden Elternteilen richtig einzuordnen, das einstige Dogma von den einheitlichen Erziehungsprinzipien ist längst passé. Für die meisten Jugendpsychologen werden Kinder unterschätzt, wenn man ihnen unterstellt, sie seien mit inkonsistenter Erziehung vonseiten beider Elternteile überfordert.

Ganz im Gegenteil, es sei sogar überheblich, wenn Erwachsene dächten, Kinder müssten – wie Pflegefälle – ganz vorsichtig mit einheitlichen Informationen gefüttert werden: Kinder seien schon sehr früh in der Lage, einzuordnen, dass am einen Ort andere Regeln gälten als woanders. Und sie könnten sehr gut damit umgehen. Man sollte also den Nachwuchs nicht von vornherein entmündigen, indem man ihm nicht zutraut, eigene Beobachtungen zu machen und diese richtig einzuordnen.

Schliesslich nützen Kinder, sobald sie sprechen können, solche Gefälle in der Toleranz bei verschiedenen Bezugspersonen aus. Man kennt die Bemerkung eines Kindes, bei Oma dürfe es länger aufbleiben als zu Hause. Genau wie Kinder also zwischen den oft laxeren Bedingungen bei den Grosseltern und jenen bei den Eltern unterscheiden können, tun sie das offenbar auch dort, wo die leiblichen Eltern nicht mehr gemeinsam erziehen.

Mehr als Zaungäste

Seit im Juli 2014 das geteilte Sorgerecht für getrennt Lebende und Geschiedene zum Normalfall geworden ist, sind Väter nach der Trennung nicht mehr Elternteile zweiter Klasse. Während sie früher im Fall einer Scheidung meist mit ansehen mussten, wie die Mütter das Sagen über die weitere Existenz des Nachwuchses hatten, sind nun die Männer nicht mehr nur Zaungäste in der Kindererziehung, sondern bestimmen zu gleichen Teilen mit.

Jährlich werden in der Schweiz rund 20 000 Ehen geschieden, in rund 15 000 Fällen sind gemäss Statistik Schweiz unmündige Kinder involviert. Dass diese Zahlen seit 2011 auf dem Papier etwas abgenommen haben, liegt massgeblich daran, dass Scheidungen zwischen zwei Ausländern nicht mehr gemeldet werden müssen.

Insgesamt gehen Schweizer Demografen davon aus, dass rund zwei von fünf Ehen geschieden werden, in Deutschland wächst etwa ein Viertel der Kinder nicht mehr in der traditionellen Familie auf, so dass dort rund drei Millionen Halbwüchsige in sogenannt alternativen Lebensmodellen gross werden.

Gleichzeitig haben Kinder heute eine sehr viel grössere Bedeutung für die Eltern als früher: Die Kinder werden mehr und mehr zu einem sinnstiftenden, oft singulären Happening und erfahren eine Betreuung durch eine Vielzahl von zugewandten Orten. Etwas, das sich beim Patchwork-Familien-Konzept noch akzentuiert: Wo drei oder vier Eltern sind, werden auch mehr Geschenke fällig als in der traditionellen Familie.

Genauso verdoppeln sich die Tanten und Grosseltern, was die Spielwarenindustrie jubeln lässt. Trotz stagnierenden Geburtenzahlen wachsen die Umsätze von Franz Carl Weber und Konsorten teilweise zweistellig. Für manche Kinder gibt’s gleich zwei Sortimente von Spielsachen, in jeder Bonusfamilie eines, damit es den Kleinen ja an nichts fehlt.

Das schlechte Gewissen der Eltern gegenüber den möglicherweise verstörten Sprösslingen lässt die Umsätze der Kinderkleiderboutiquen explodieren. Geschiedene Eltern versuchen sich oft zu übertrumpfen bei Zuwendungen und Gefälligkeiten. Einem Patchwork-Kind wird nichts abgeschlagen, damit man in dessen Augen nicht schlechter dasteht als die Paral­lel­familie. Die damit verbundene ­Spirale der Verwöhnung wird von Pädagogen naheliegenderweise als kontraproduktiv eingestuft.

Nicht schlechtmachen

Dabei wäre alles so einfach: Ratgeber über das Zusammenleben im Patchwork-Ambiente gibt es genug, und Erziehungsratgeber sowieso. Doch diese Bücher gehen grösstenteils davon aus, dass sich die Eltern in bestem Einvernehmen getrennt haben und nun jeder seiner Wege (in eine neue Beziehung) geht.

Und die Ratschläge sind nicht einmal überraschend: Man soll den Ex-Partner vor den gemeinsamen Kindern nicht schlechtmachen. Auch wenn es manchmal schwerfallen dürfte – unterdessen mehr oder weniger ein Allgemeinplatz.

Oder: Man soll die Kinder des neuen Partners aus früheren Beziehungen nicht erziehen wollen. Das hat aus Sicht der leiblichen Eltern etwas Beruhigendes, wenn sich denn auch jeder daran hält. Wenn nun aber der Bonus­papa keine Ratgeber liest, wenn ihn die Praxistipps der modernen Pädagogik völlig kaltlassen? Auch da gibt es tolle Ratschläge: Man sollte sich nach einer gewissen Zeit zu dritt oder zu viert treffen, um solche Themen zu erörtern. Wenn aber keiner das will?

Wann bloss soll man Koordinationssitzungen mit seinem Patch­work­umfeld noch einplanen, wenn ja schon die Zeit für die Absprachen über die Übergabezeiten und die dazugehörigen Orte schwer zu finden ist? Vom Austausch über erzieherische Prinzipien ganz zu schweigen. Die Unlust, sich mit dem Ex-Partner auszutauschen, erstreckt sich schnell auch auf organisatorische und selbst pädagogische Aspekte.

Durch das gemeinsame Sorgerecht entstehen ganz automatisch Pattsituationen zwischen den Erziehungsberechtigten. In letzter Instanz muss dann doch des Öfteren ein Eheschutz­gericht oder gar die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb entscheiden.

Neues Scheitern

Letztlich scheitern viele Patchworkfamilien an der Vielfältigkeit und Komplexität der Anforderungen. Die permanenten Übergaben der Kinder sind oft weit aufreibender als gedacht. Und die Ängste der Eltern vor dem Verlust der leiblichen Kinder führen schnell zu Spannungen in der neuen Beziehung.

Ein erneutes Scheitern zeichnet sich ab. Und das Scheitern wird nicht selten Realität: Nach Angaben der Familientherapeuten Claudia Starke und Thomas Hess, der Autoren des Werks «Das Patchwork-Buch», scheitern rund 50 Prozent der Familien Version 2.0 nach kurzer Zeit. Die Gründe für den Misserfolg sind vielfältig, einer der häufigsten ist aber das vorschnelle Gründen einer (nicht tragfähigen) Nachfolgefamilie. Für die involvierten Kinder natürlich eine weitere Enttäuschung.

Das führt dazu, dass heute wieder eine ganze Reihe von Erziehungs­experten der Meinung ist, dass Kinder am besten in der traditionellen Familie aufwachsen. Daran ändert auch die Neubenennung von geschiedenen Eltern nichts.

Bonuseltern
Das neudeutsche Wort Bonuseltern stammt von Jesper Juul, einem dänischen Familientherapeuten, der rund 40 Bücher zum Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geschrieben hat. Eine der Kernthesen des Alt-68ers besagt, dass Kinder mehr begreifen und zu mehr fähig sind, als die Eltern ihnen gemeinhin zutrauen würden. Und mit dem Begriff Bonuseltern will Juul nun die Stigmatisierung des Begriffs der Stiefeltern auffangen. Er selbst, das zweite Mal verheiratet, ist Vater eines Sohnes aus erster Ehe. 


Nota. - Malusfamilien wäre in vielen - ob in den meisten, kann wohl keiner entscheiden - das treffendere Wort. Nicht, dass die wirklichen Elten sich getrennt haben, ist das Hauptproblem. Das ist schwer zu tragen, doch wären sie zusammengeblieben, wär's vielleicht schwerer. Es ist auch kein Naturgesetz, dass Kinder im selben Haushalt leben wie ihre Eltern. Sogenannte Fremdunterbringung kann aus tausenderlei Gründen nötig werden und ist an sich keine Katastrophe - wenn die affektiven Beziehungen gewahrt bleiben, was dauerhaft freilich nur durch persönlichen Verkehr geschehen kann.

Wirklich belastend ist es, wenn die leiblichen Eltern durch das Auftreten von Rivalen in Zweifel gezogen werden, und so geschieht es auch bei bestem Willen. Es ist natürlich nicht die Stimme des Bluts. Aber dass der eine den andern auf die Welt gebracht hat, ist eine existenzielle Gegebenheit, die nicht hintergangen werden kann. Dieses Verhältnis ist unwiederholbar, unimitierbar und unwiederbringlich. Dass ein Kind unter Umständen groß wird, die das in Frage stellen, ist ein Malus fürs ganze Leben. 

Es muss kein ganz großer sein, das ist wahr. Aber ein Bonus ist es ganz bestimmt nicht.
JE


Freitag, 12. Februar 2016

Ist Koedukation überholt?

aus nzz.ch, 21. 12. 2015

Steitgespräch über die Koedukation
«Die Schule sozialisiert, fragt sich nur wie»
Elisabeth Joris findet, dass Mädchen unter sich besser gefördert werden. Für Remo H. Largo gibt es dagegen kaum stichhaltige Argumente, Knaben und Mädchen getrennt voneinander zu unterrichten.

In 6 von 20 Zürcher Kantonsschulen gibt es zurzeit reine Mädchen- und Knabenklassen. Wie finden Sie das?

Elisabeth Joris: Die Einführung der Koedukation war für die benachteiligten Mädchen auf Mittelschulstufe in den 1970er Jahren ein Fortschritt. Die Genderforschung stellte die Vorteile für die Mädchen zwar wieder infrage. Meine Position dazu ist allerdings eine ambivalente, geprägt auch von meinen Erfahrungen als Lehrerin. Denn die Frage ist, ob gemischte Klassen immer praktikabel sind. In gewissen Gymnasien wie dem neusprachlichen gibt es wegen der Profile einfach mehr Mädchen. Bei der Zusammensetzung der Klassen kommen verschiedene Faktoren zusammen, die eine Schule berücksichtigen muss. 

Remo H. Largo: Sollte es wirklich so sein, dass finanzielle oder organisatorische Gründe wie zum Beispiel Turnstunden zu reinen Mädchen- oder Bubenklassen führen, dann ist das ein herber Rückschlag und pädagogisch unverantwortlich. Wie sollen Frauen und Männer in der Gesellschaft je gleichberechtigt miteinander umgehen, wenn das in der Schule nicht gewollt und vor allem auch nicht gelernt wird?

Müsste man heute also geschlechtergetrennte Schulklassen vermeiden?

Largo: Buben und Mädchen erbringen in Intelligenztests vergleichbare Leistungen. Mädchen sind im sozialen und sprachlichen Bereich etwas besser, Buben im räumlichen. Über alle Kompetenzen gesehen überlappen sich die Fähigkeiten beider Geschlechter zu über 90 Prozent. Es gibt daher aus pädagogischer Sicht kein stichhaltiges Argument, die Geschlechter getrennt zu unterrichten. 

Joris: Gerade dicke Mädchen werden von Buben oft schikaniert. Trotzdem wünscht sich die Mehrheit der Mädchen gemischte Klassen. Sie vermissen das andere Geschlecht in reinen Mädchenklassen im Alltag dennoch nicht. An der Kantonsschule Zürich Birch, die heute mit der Mittelschule Oerlikon zusammengelegt ist, diskutierten wir, was eine gendergerechte Mittelschule bedeuten würde. Initiiert von der Schulleitung. 

Largo: Wie lang ist das her? 

Joris: Das war vor zehn Jahren. Dabei ging es in erster Linie darum, wie man die unterschiedlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördert, und nicht um getrennte und gemischte Klassen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass sich vor allem männliche Lehrer den Genderfragen nicht stellen.

Zu den Personen
Elisabeth Joris, geboren 1946 in Visp, ist freischaffende Historikerin. Ihr Schwerpunkt ist die Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Sie absolvierte ihre Schulzeit in Mädchenklassen und unterrichtete über 40 Jahre an Mittelschulen gemischte Klassen und solche nur mit Mädchen. Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, habilitierte in Kinderheilkunde, leitete über 30 Jahre die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Zürcher Kinderspitals und eine bedeutende Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Studien zeigen, dass Mädchen unter sich gerade in Mathematik besser lernen als in gemischten Klassen.

Joris: Als ich Geschichte und politische Bildung unterrichtete, gab es gute und weniger gute Schülerinnen in reinen Mädchenklassen. In den gemischten Klassen dagegen war klar, dass die Buben viel schneller waren. Ich musste mir überlegen, wie ich die Mädchen stärker zu Wort kommen lassen kann. Gerade in Mathematik fragen Mädchen mehr, wenn sie unter sich sind, und sie werden besser gefördert. Aber natürlich ist das Leistungsspektrum auch in reinen Mädchenklassen gross. 

Largo: Die Schule hat den Auftrag, zur Sozialisierung der Kinder beizutragen. Im Schulgesetz des Kantons Zürich steht sinngemäss, dass die Schule die Kinder zu selbständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen erziehen soll. Weil die Schule diesen Auftrag kaum wahrnimmt, haben wir in der Gesellschaft ein grosses soziales Problem. Seit vierzig Jahren diskutieren wir, dass Frauen in Gesellschaft und Wirtschaft benachteiligt werden. Wollen wir das ändern, müssen wir in Familie und Schule damit beginnen.

Was fehlt in der Entwicklung der Schüler, wenn sie in getrennten Klassen sind?

Largo: Mädchen und Buben lernen nicht über soziale Leitsätze, wie man miteinander umgehen soll. Es geht nur über gemeinsame Erfahrungen. Wandern Sie mal mit Schülern eine Woche lang über die Alpen. 

Joris: In solchen Arbeitswochen sind Buben und Mädchen intensiver zusammen, trotzdem bilden sich Mädchen- und Bubengruppen. Auch in der Freizeit vermischen sich die Geschlechtergruppen nur punktuell. Aber sie erfahren sich, da gebe ich Ihnen recht. 

Largo: In der Freizeit erleben wir doch alle, wie oberflächlich die Begegnungen sind. Es geht nur darum, wie ich ankomme, wie ich angezogen bin und welches Handy ich habe. 

Joris: Ich bin da ambivalent. Im Zeitalter von Talkshows übernehmen die Schüler von ihren Vorbildern die Medienkompetenz. Mit dem Mikrofon in der Hand sind die Buben stärker. Im Hintergrund aber sind die Mädchen immer viel engagierter. In geschlechtergetrennten Klassen müssen beide Geschlechter alle Aufgaben übernehmen und werden so in verschiedenen Kompetenzen gestärkt. 

Largo: Ich gebe Ihnen ein Beispiel, warum der Austausch zwischen den Geschlechtern so wichtig ist. Im Sexualunterricht kann man jedem Geschlecht getrennt Wissen über die körperliche und psychische Entwicklung in der Pubertät vermitteln. Aber erst wenn beide Geschlechter miteinander reden und einander zuhören, stellen sie fest, dass Buben und Mädchen unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen an eine partnerschaftliche Beziehung haben. Diese werden in einer Disco nicht diskutiert. 

Joris: Wie die Geschlechter in der Schule miteinander umgehen, hat sicher gesellschaftliche Auswirkungen. In Schulen, in denen es aus organisatorischen Gründen zu geschlechtergetrennten Klassen kommt, könnte man aber typenübergreifende Gefässe für einen Austausch bilden. Was aber, wenn eine Schule im naturwissenschaftlichen Gymnasium kaum Mädchen hat, im neusprachlichen aber nur wenige Knaben?

Herr Largo, Sie sagen, dass wir auf ein gesellschaftliches Problem zusteuern. Reichen die organisatorischen Massnahmen in den Schulen nicht aus?

Largo: Die Frage ist doch: Ist die Schule für die Kinder oder für die Lehrer da? Was ist das Hauptanliegen der Schule, etwa ihre organisatorischen Probleme zu lösen? Wenn die Schule es verpasst, den Schülern soziale Erfahrungen zu ermöglichen, die zu einer gegenseitigen Wertschätzung unter den Geschlechtern führen, dann hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Und die Wertschätzung wird in Gesellschaft und Wirtschaft fehlen. 

Joris: Das hängt aber stark mit der Kultur im Schulhaus und der Zusammensetzung der Lehrerschaft zusammen. 

Largo: Haben wir ein Problem oder haben wir keines? 

Joris: Wir haben ein sehr starkes Problem. Dass unterschiedliche Kompetenzen und solidarisches Verhalten zu wenig gefördert werden, hat mit der Zielsetzung der Schule im Allgemeinen, aber auch mit den Lehrkräften und Fächern zu tun, es ist nicht primär eine Geschlechterfrage. 

Largo: Ja, das stimmt. Die Schule sozialisiert sowieso, die Frage ist nur, wie. Joris: Ich bin aber skeptisch, wie viel die Schule überhaupt auffangen kann.

Auch die Familie vermittelt und prägt Rollenbilder. Ist ihr Einfluss nicht stärker als jener der Schule?

Largo: Nein, der Einfluss der Eltern dominiert in den ersten Lebensjahren. Sobald die Kinder in Krippe, Kindergarten und Schule kommen, nimmt ihr Einfluss immer mehr ab. Auch wenn es hart ist: Jugendliche werden kaum mehr durch die Eltern, sondern durch die Peers in der Clique sozialisiert. 

Joris: Die Schule ist nur eine der Möglichkeiten, den Austausch zu erfahren. Aber es ist richtig: Er müsste als ein prioritärer Auftrag der Schule festgeschrieben werden. In gemischten Klassen erfahren Mädchen und Buben, dass die Schnittmengen viel grösser sind, als sie meinen.

Einige Klassen sind wegen der Turnstunden getrennt. Wieso sollten die Jugendlichen nicht gemeinsam turnen?

Largo: Mädchen und Buben sind körperlich und motorisch verschieden. Sie wollen sich daher im Turnen auch verschieden betätigen und unterschiedliche Leistungen erbringen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man die Turnstunden daher teilweise getrennt unterrichtet. Aber es kann doch nicht sein, dass man den gesamten Unterricht aus organisatorischen Gründen auf die Turnstunde ausrichtet.


Nota. - Heute, da allenthalben beklagt wird, die Jungen würden in der Schule hinter den Mädchen zurück-bleiben, könnte man meinen, man täte ihnen einen Gefallen, wenn man ihnen erlaubte, wenigstens in der Schule untereinander zu bleiben. Aber es ist die Schule als solche, die für Jungen nicht geeignet ist, es ist bestimmt nicht die Anwesenheit von Mädchen.

In Einrichtungen, wo Jungen unter sich sind, herrscht eine unerquickliche Atmosphäre. An reinen Mäd-chenschulen, habe ich mir von Leidtragenden versichern lassen, sei es noch schlimmer. Schuld sind nicht die Jungen und nicht die Mädchen, sondern die tausendfältigen Rückkoppelungseffekte, die, wenn sie nicht durch Außenwirkung verfremdet werden, dazu führen, dass künstlich ein Typus ausgebrütet wird, den es auf freier Wildbahn gar nicht gibt. 

Schulen sind keine Wohngemeinschaften, sondern öffentliche Räume. Da ist Distanz geboten, und die erfordert Benehmen. Auch vor seinesgleichen blamiert man sich nicht gern, aber schon gar nicht vor den Andern.
JE