Studie: Lehrpersonal beurteilt Mädchen in Physik schlechter
Untersuchung zeigt, dass vor allem LehrerInnen mit wenig Erfahrung Mädchen bei gleicher Leistung schlechter benoten
von Beate Hausbichler
Seit Jahren werden Anstrengungen unternommen, um mehr Mädchen für naturwissenschaftliche und technische Berufe zu begeistern. Doch trotz Töchtertagen und Projekten wie "Mut" (Mädchen und Technik) sind die Mint-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, noch immer Männerdomänen. Eine soeben veröffentliche Studie belegt nun, dass zumindest im Fach Physik das Problem früh beginnt: Mädchen erhalten in der Sekundarstufe für ihre Leistungen schlechtere Noten.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Psychologin Sarah Hofer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Hofer hat die Beurteilungen von 780 PhysiklehrerInnen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich zu einer konkreten schriftlichen Physikaufgabe untersucht. Die Frage behandelte den Bereich der klassischen Mechanik und musste schriftlich beantwortet werden. Eine Geschlechterschieflage zeigte sich vorab schon beim Lehrpersonal: Unter dem Schweizer Lehrpersonal (116) waren nur 14 Frauen, in Österreich waren von den 137 LehrerInnen 59 Frauen und in Deutschland 125 von 527. Weibliche Vorbilder für physikbegeisterte Schülerinnen sind also rar.
Fast um eine Note schlechter
Die eine Hälfte der teilnehmenden LehrerInnen ging davon aus, die (fiktive) Antwort einer Schülerin zu benoten, die andere die eines Schülers. Die Absicht der Studie kannten die LehrerInnen nicht. Die Untersuchung der Beurteilungen zeigte schließlich, dass Mädchen von LehrerInnen mit wenig Berufserfahrung schlechter benotet wurden. In Österreich betrug die schlechtere Benotung von Mädchen durch LehrerInnen mit fünf oder weniger Berufsjahren 0,9 Noten, in der Schweiz waren es im Schnitt 0,7. Auch in Deutschland war die Beurteilung um 0,9 Noten schlechter.
In Deutschland aber zeigten einzig Lehrerinnen den Bias, während die deutschen Lehrer Schülerinnen und Schüler gleich beurteilten. Genaue Hinweise, warum es in Deutschland zu diesem Ergebnis kommt, fehlen indes. Fest steht nur, dass Lehrerinnen nicht automatisch sensibler in Bezug auf Vorurteile gegenüber dem Können ihrer SchülerInnen sind. Bei Lehrpersonal mit mindestens zehn Jahren Berufserfahrung gab es in allen Ländern keine unterschiedliche Bewertung von Mädchen und Buben.
Schwieriger Bewertungsprozess
Hofer war es wichtig, für ihre Studie die Prüfungsform "schriftliche Frage plus schriftliche Antwort" zu verwenden: "Es ist schwerer, eine offene konzeptionellen Frage, die mehr Varianz in der Bewertung zulässt, zu benoten." Bei einem Multiple- oder Single-Choice-Test werden die richtigen und falschen Antworten gezählt – ein objektives Maß, bei dem es wenig Spielraum für Stereotype gebe, sagt Hofer.
Ziel der Studie war aber, reale Situationen im Klassenzimmer zu evaluieren. "SchülerInnen müssen in der Klasse auch unmittelbar auf Fragen antworten", die Studie sollte somit auch eine Annäherung daran sein, wie LehrerInnen auf Klassenzimmerbeiträge von SchülerInnen reagieren. Trotzdem sei Multiple Choice allein keine Lösung, sagt Hofer: "Es gibt Wissensarten, die so nicht abgeprüft werden könnten, etwa wenn mehrere Antworten möglich sind." Dort jedoch, wo standardisierte Tests möglich sind und eine objektivere Bewertung zulassen, sollten sie auch genutzt werden, empfiehlt Hofer. Denn in sehr komplexen Bewertungsstrukturen lägen die Stereotyp-Stolpersteine begraben. "Man muss heraushören, was der Schüler oder die Schülerin genau gemeint hat, und muss auch fachlich fit sein. Das ist ein komplizierter Prozess, und die Forschung hat gezeigt, dass in solch schwierigen Situationen Stereotype stärker zum Einsatz kommen."
Die vielschichtigen Anforderungen bei der Einschätzung von Leistung könnten somit den großen Unterschied zwischen LehrerInnen mit mehr und weniger Erfahrung erklären. Hofer hat sich sowohl späte BerufseinsteigerInnen als auch die Beurteilungen von LehrerInnen genauer angesehen, die sehr früh mit ihrer Lehrtätigkeit begonnen haben, also noch jung waren, aber bereits viel Lehrerfahrung hatten.
Stereotype als "Krücken"
Hofer konnte so zeigen, dass der Geschlechterbias vermutlich kein Effekt des Alters der LehrerInnen ist, sondern einzig einer der Erfahrung. "Mit weniger Erfahrung ist man schneller von der Bewertungssituation im Unterrichtskontext überfordert, Stereotype werden so zu einer Art Krücke, die man oft unbewusst heranzieht." Erfahrene LehrerInnen würden hingegen eigene Routinen entwickeln, die ihnen helfen, den Bewertungsprozess besser zu strukturieren. So könnten sie die kognitiven Anforderungen etwas herunterschrauben, erklärt Hofer.
Eine weitere mögliche Interpretation der gerechteren Bewertung durch erfahrene LehrerInnen laut Hofer: Stereotype bauen sich aufgrund von Erfahrung ab. "Erfahrene LehrerInnen haben womöglich viele Mädchen gesehen, die gut waren in Physik, und auch Buben, die schlecht darin waren." Die Folgen unfairer Noten seien ein Teufelskreis, meint die Psychologin: "Nach einer schlechten Rückmeldung fühlt man sich für ein Fach nicht geeignet, interessiert sich dann weniger oder strengt sich in dem Fach womöglich weniger an." Dadurch könnte die Leistung objektiv schlechter werden, und das verstärke wiederum bei vielen das Stereotyp, dass Mädchen für Naturwissenschaften tatsächlich schlechter geeignet seien.
Der Einfluss von Noten
Hofer plädiert daher dafür, an der Ausbildung der LehrerInnen anzusetzen. Es brauche einen stärken Fokus darauf, was Beurteilung verzerren könnte. "Menschen haben generell die Tendenz, in unsicheren Situationen auf Stereotype zurückzugreifen." Daher müssten konkrete Lösungsmöglichkeiten angeboten werden, etwa wie objektive Lösungsschablonen erstellt werden können. Neben klaren Korrekturschemata sollten beim Korrigieren auch die Namen der SchülerInnen abgedeckt oder KollegInnen gebeten werden, eine Arbeit zum zweiten Mal zu benoten, um zu sehen, ob sich die Beurteilungen decken. "Es ist erwiesen, dass Noten einen großen Einfluss auf die zukünftige Motivation haben", sagt Hofer: "Sie bestimmen die zukünftige Bildung von Kindern maßgeblich."