Dienstag, 24. November 2015

Fängt morgens zu früh an und dauert nachmittags zu lange.


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Schlafmedizin-Jahrestagung: Beginnt die Schule zu früh? Steht Deutschland zu früh auf?


Wolfgang Müller M.A.
AWMF Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

Ob Arbeit oder Schule – in Deutschland geht das Leben zeitig los, nach einer Umfrage des Forsa-Instituts im Durchschnitt frühmorgens um 6.48 Uhr. Frühes Aufstehen gilt als Tugend, der Langschläfer als Faulpelz. Aber die Mehrzahl der Deutschen ist nicht ausgeschlafen und benötigt einen Wecker, um morgens aufzuwachen. Experten sind sich einig: Deutschland steht zu früh auf. Die wissenschaftlichen Hinweise häufen sich, dass das auf Dauer krank macht.

Ob Frühaufsteher oder Morgenmuffel – der Schlaftyp ist genetisch festgelegt. Würden sich alle danach richten, kämen die meisten nicht alltagstauglich um 6 oder 7 Uhr aus dem Bett, sondern eher 2 Stunden später, so Dr. Hans-Günter Weeß, Leiter des Schlafzentrums am Pfalzklinikum Klingenmünster und Tagungspräsident der 23. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) vom 3. bis 5. Dezember 2015 in Mainz.

Wie Studien belegen, sind Frühaufsteher eher selten. „Nur etwa ein Sechstel der Bevölkerung, die sogenannten Morgenmenschen – Chronotyp „Lerche“ – kommen mit den üblichen Arbeits- und Schulzeiten gut zurecht“, so Dr. Manfred Betz, Institut für Gesundheitsförderung und -forschung (IGFF) Dillenburg. Die meisten gehören zum Chronotpy „Eule“, schlafen nach Mitternacht ein und werden erst im Laufe des Vormittags wieder wach. Für sie beginnen Arbeit und Schule zu früh. Sie sind nicht ausgeschlafen und quälen sich durch den Vormittag.

Während fast alle Kleinkinder Frühaufsteher sind, ändert sich das im Laufe der Entwicklung. „Mit Beginn der Pubertät verschiebt sich der Chronotyp bei Jugendlichen zunehmend in Richtung Spättyp (Eule)“, so Dr. Betz. „Jugendliche sind abends lange wach und würden morgens länger schlafen, wenn man sie denn ließe.“ Frühmorgens seien vor allem ältere Jugendliche noch müde und nicht leistungsbereit, so auch Dr. Weeß: "Bei einem Schlafbedarf von neun bis zehn Stunden kommt während der Schulzeit der Schlaf zu kurz. Die meisten Heranwachsenden sind chronisch müde. Viele leiden unter einem Dauerschlafmangel mit Konzentrationsschwierigkeiten und fehlender Lernmotivation. Die Schule beginnt viel zu früh."

Tatsächlich fängt der Schulunterricht in den meisten Ländern deutlich später an, zum Beispiel in England, Schweden und Portugal erst um 9 Uhr, und ist damit an den natürlichen Lebensrhythmus besser angepasst. Untersuchungen belegen, dass die Schulleistungen am späteren Vormittag deutlich besser sind als frühmorgens: „Ein 1-2 Stunden späterer Schulbeginn in der Oberstufe könnte sich günstig auf Leistungsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft auswirken“, so Dr. Betz – vorausgesetzt, dass die Schlafenszeit sich nicht noch weiter nach hinten verschiebt. Dies sei bei der verbreiteten exzessiven Nutzung digitaler Medien in den späten Abendstunden jedoch häufig der Fall. 

Wichtige Ansatzpunkte für mehr Leistung und Wohlbefinden seien „flexiblere Arbeitszeiten, die die Bedürfnisse des jeweiligen Chronotyps berücksichtigen, mehr körperliche Aktivität bei Tageslicht sowie der Verzicht auf digitale Medien in den letzten 2 bis 3 Stunden vor dem Schlafen.“

Unter dem aktuellen Schwerpunkt „Die schlaflose Gesellschaft“ treten beim DGSM-Kongress als der größten Tagung dieses Fachgebietes in Europa über 2.000 Mediziner, Wissenschaftler und Experten in eine aktuelle fächerübergreifende Diskussion zu Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Schlaf und Gesundheit. Alle Informationen sowie das gesamte wissenschaftliche Programm unterhttp://www.dgsm-kongress.de

Journalisten sind herzlich zur Tagung eingeladen, Akkreditierung bitte über die Tagungshomepage oder direkt über den Pressekontakt. 

Kerstin Aldenhoff
Conventus Congressmanagement & Marketing GmbH
Tel. 0172 / 3516916
kerstin.aldenhoff@conventus.de

Donnerstag, 12. November 2015

Am besten wäre eine Schule, die keine ist.

aus Der Standard, 9.11.2015

"Viel wichtiger als Wissen ist Erfahrung"
Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther über die Suche nach der verlorenen Lust am Lernen, jene zwei Dinge, die die Kinder in der Schule vor allem mitkriegen sollten, und das erfolgreichste Lernmodell der Evolution

Interview: Lisa Nimmervoll

STANDARD: Wenn Sie als Neurobiologe die Schule neu aufsetzen müssten, was würden Sie ändern?

Hüther: Als Neurobiologe kann ich nur sagen, dass das Allerwichtigste, das ein Mensch besitzt, und das die Voraussetzung ist, dass er viel lernt und sich später im Leben zurechtfindet, die angeborene Lust am Entdecken und am gemeinsamen Gestalten ist. Wenn das nicht verginge, würden alle Kinder ganz viel lernen. Die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist: Wir sollten alles tun, dass dieser besondere Schatz, nämlich die Lust am Lernen, nicht verlorengeht.

Wie geht das? Sie haben das Schlagwort von der "Gießkanne der Begeisterung" geprägt.

Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung ist, dass das Hirn nicht so funktioniert wie ein Muskel. Das kann man nicht trainieren durch Brainjogging oder stures Auswendiglernen. Damit im Hirn langfristig etwas verankert werden kann, muss das, was man lernen will, unter die Haut gehen. Neuro-biologisch heißt das, es muss zu einer Aktivierung der emotionalen Zentren und damit zur Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe im Hirn kommen, sodass das Neugelernte in Form von neuaufgebauten Netzwerken verankert wird. Dann bleibt es lange hängen.


Wer einmal Fahrradfahren gelernt hat, vergisst das nie wieder. Die neuroplastischen Botenstoffe, die diese Umbauprozesse in Gang bringen, wirken wie Dünger im Hirn. Dass kaum etwas hängen bleibt, wenn es nicht unter die Haut geht, deckt sich mit Erkenntnissen der Bildungsforscher, wonach wir ein, zwei Jahre nach der Matura nur noch zehn Prozent von dem ganzen Schulstoff wissen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Schulen?

Ich war in Bundeskanzlerin Angela Merkels Expertenrat über die Zukunft des Lernens, darum kann ich klar sagen: Es wird nicht so gehen, dass man über politische Entscheidungen Schulen verändert. Als Folge dieser Erkenntnis haben drei Mitglieder dieser Expertenggruppe die Initiative Schule im Aufbruch gegründet, als Instrument zur Unterstützung von Schulen vor Ort, die eine andere Kultur aufbauen wollen. Auch mehr als 300 Schulen in Österreich sind da dabei. Das heißt, da passiert etwas.

Und was passiert da?

Das kann ich nicht vorgeben. Ich kann nur sagen: Es wäre günstig, wenn Kinder sich in der Schule gesehen fühlten, wenn man ihnen etwas zutrauen und ihnen Aufgaben geben würde, an denen sie wachsen können. Es wäre auch günstig, wenn Schüler in der Schule die Erfahrung machen könnten, wie schön es ist, wenn sie sich gemeinsam um etwas kümmern könnten. Das alles aber ist in unserem Lehrplan so nicht vorgesehen, weil der dem Bildungsideal des vorigen Jahrhunderts anhängt, dass es um Anhäufung von Wissen im Kopf geht. Das ist obsolet geworden. Das Wissen ist längst in Geräte ausgelagert, und jedes Kind, das sich dafür interessiert, kann in kürzester Zeit die weltweit beste Vorlesung über Fotosynthese finden. Die Vermittlung von Wissen ist nicht mehr das, worauf es ankommt.

Sondern?

Jetzt kommt es darauf an, dass man ein Interesse daran hat, sich Wissen anzueignen. Man müsste Kindern helfen, sich das Wissen technisch zu besorgen, wenn sie es nicht haben. Die wichtigere Möglichkeit, sich Wissen anzueignen, besteht aber darin, mit anderen Menschen Wissen auszutauschen, weil Wissen allein einem ja noch nicht hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Viel wichtiger als Wissen ist ja Erfahrung. Da man nun aber nicht allein sämtliche Erfahrungen machen kann, auf die es im Leben ankommt, wäre es wichtig für die Zukunft der Schule, dass Schüler lernen, wie man sich die Erfahrungen anderer Menschen zugänglich macht. Damit ich das kann, muss ich auf andere Menschen zugehen können, dazu brauche ich soziale Kompetenz, und die hat ganz viel mit Mitgefühl und Einfühlungsvermögen zu tun. Schüler sollten in der Schule also vor allem zwei Dinge lernen, nämlich wie viel Freude es macht, wenn man sich Wissen erschließt, und dass es nichts Schöneres gibt, als sich Wissen von anderen Menschen zu erschließen, mit denen ich in eine Begegnung komme.

Ist das ein Plädoyer für eine gemeinsame Schule, in der alle Kinder unterschiedlichster Herkunft miteinander lernen?

Ich fühle mich nicht berufen, den Pädagogen zu sagen, wie sie Schule machen sollen. Ich kann als Hirnforscher nur sagen, was im Hirn passiert, und aus diesen Erkenntnissen kann ich doch sehr deutlich ableiten, dass es günstig wäre, wenn Schüler in altersgemischten, jahrgangsübergreifenden Lerngruppen lernen würden. Das ist das erfolgreichste Lernmodell der Evolution: wenn Kinder miteinander spielend die Welt entdeckt haben, und je unterschiedlicher sie waren, desto besser. Außerdem passiert in dem Moment, wo sehr unterschiedliche Kinder gemeinsam lernen, etwas Wunderbares: Sie lernen sich in ihrer Unterschiedlichkeit kennen und wertschätzen. Ziel des Systems homogener Klassen war: oben viele reinzufüllen, um unten ein paar Gute rauszukriegen. Das hat auch funktioniert und wird in 100 Jahren noch funktionieren. Die Frage ist: Trägt uns das noch im 21. Jahrhundert? Können wir uns so viele Verlierer leisten, oder käme es nicht vielmehr darauf an, dass jedes Kind in der Schule die gleiche Chance hat?

Ihre Antwort?

Natürlich, jedes Kind hat einzigartige Potenziale, in jedem Kind steckt viel mehr drin, als das, was am Ende daraus wird. In alters- und leistungshomogenen Gruppen passiert vor allem eines: Die Kinder müssen, um sich ihrer eigenen Subjekthaftigkeit überhaupt bewusst zu werden, miteinander in Konkurrenz treten. Genau das, was in altersgemischten Gruppen nie passieren kann, weil die Kinder so unterschiedlich sind, wird in homogenen Gruppen regelrecht gezüchtet: Konkurrenzdenken und mit dem Ellbogen über die anderen herfallen. Die Gesellschaft muss sich im Klaren sein, wenn sie so eine starke Selektion durchführt, dass sie damit bestimmte Kinder und Jugendliche erzeugt, die möglicherweise nicht mehr geeignet sind, im 21. Jahrhundert die Stabilität dieser Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Frage kann kein Hirnforscher entscheiden, auch nicht die Pädagogen. Wir müssen alle miteinander einen Konsens finden, worauf es im Bildungssystem ankommen soll. Was sollen die Kinder in der Schule? Es wird wohl nicht gehen, dass wir Schüler in die Schule schicken, ohne dass wir mit ihnen darüber reden, warum sie dort eigentlich hinsollen.

Warum sollen sie hin?

Wenn Sie heute Schüler fragen, warum gehst du in die Schule, sagen die: weil ich muss. Das ist der hirntechnisch größte Blödsinn. Das kann nichts werden. Wenn man das in den Schulen im Aufbruch fragt, dann sagen die zum Beispiel: weil ich die Welt retten will. Oder noch häufiger: weil wir die Welt retten wollen. Dazu müssen wir ganz viel wissen, und das wollen wir in der Schule gemeinsam lernen. Es kommt auf die Sinnhaftigkeit an, die wir offenbar vollkommen verloren haben. Wir können unseren Kindern nicht mehr sagen, warum sie in die Schule gehen sollen, außer dass wir sagen, das musst du machen, damit du Karriere machen kannst. Karriere ist für Kinder kein Antrieb. Mit solchen Aussagen machen wir ihnen bestenfalls Angst, dass sie scheitern können.

Angst, Unbehagen oder ein Gefühl der Überforderung haben jetzt auch viele Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Eltern angesichts vieler Flüchtlingskinder in den Schulen. Was sagen Sie denen?

Es ist immer eine Chance, wenn etwas Fremdes oder Neues passiert. Aber wenn das Neue so plötzlich kommt, dass die meisten Menschen darauf nicht vorbereitet sind, und wenn Politiker ihnen noch zusätzlich Angst machen, dann wird es eine Katastrophe, denn dann regiert die Angst in der Schule und nicht mehr die Chance. Es gibt wunderbare Aussagen von Lehrern, die mit verklärtem Blick erklären: Es gibt ja viele Schwierigkeiten, die Schüler bringen viele Probleme mit, sie können kein Deutsch – aber: Diese Kinder wollen so unglaublich gern lernen! Wenn ein Flüchtlingskind so ein Gefühl beim Lehrer auslöst, sagt er indirekt auch, dass er schon seit Jahren bei Kindern das Gefühl hat, die kommen in die Schule und haben die Lust am Lernen schon verloren. So ein Lehrer, der plötzlich fünf Kinder in der Klasse hat, die unbedingt und unglaublich gern etwas lernen wollen, fühlt sich endlich wieder als Lehrer. Das kann die anderen Schüler anstecken. Diese lernbegierigen Flüchtlingskinder können ein Motor werden, ein Treibstoff, mit dem die Lernlust in unsere Schulklassen zurückkehrt. Das wird aber nie passieren, wenn die Schüler die Angst ihrer Eltern vor dem Fremden übernehmen und wir nicht verhindern, dass politische Meinungsmacher ihre Machtpositionen untermauern oder anzustreben versuchen, indem sie Menschen Angst vor Fremden machen.  

Gerald Hüther (64), Professor für Neurobiologie, ist am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Göttingen als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Publizierte u. a. "Jedes Kind ist hochbegabt" oder "Männer. Das schwache Geschlecht und sein Gehirn". 


Nota. - Da muss man einen Neurobiologen holen, damit in der Bildungsdiskussion der gesunde Menschen-verstand zu Worte kommt. Doch dessen Worte sind Schall und Rauch. Gegen die Erziehungswissenschaft-ler und die MinisterInnen - in Österreich heißt sie Heinisch-Hosek - kommen sie nicht an. Die vertreten nämlich nicht bloß Meinungen, sondern Interessenten; und das sind nicht die Kinder.
JE

Mittwoch, 11. November 2015

„Unsere Schule schadet den Jungs.“

Lothar Sauer

In der FAZ vom 9. 11. interviewt Lydia Rosenfelder die Lehrerin Birgit Geier Steiner zu ihrem Buch Artgerechte Haltung. Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung.*

Unsere Schule schadet den Jungs, findet Birgit Gegier Steiner. Still sitzen ist nix für richtige Kerle, es muss im Unterricht mehr getobt werden. Eine junge Kollegin habe sie seinerzeit darauf gebracht.

Sie machte im Unterricht ein Wörterwettspiel zwischen Jungen und Mädchen. Die Mädchen blieben auf ihren Stühlen sitzen, tauschten sich aus und reichten die Information an ihre Vertreterin weiter. Aber die Jungs hielt es nicht auf den Stühlen. Einer kletterte auf den Tisch und engagierte sich lautstark, einer lag bäuchlings auf dem Tisch und streckte den Arm wie einen Pfeil nach vorne. Die Mädchen suchten den kommunikativen Austausch, um ans Ziel zu kommen. Die Jungen wollten schneller und besser sein, wollten den Wettbewerb. Im Moment ist aber das personifizierte, individuelle Lernen in Mode. Die Schüler sitzen fast nur über ihren Arbeitsblättern. Sie sollen über sich selbst reflektieren und herausfinden: Wie werde ich besser? Aber Jungs wollen durch Berühren lernen, durch Technik und Handeln. Sie erkunden ihre Umwelt mit allen Sinnen. Das unterbinden wir in der Schule. Unsere Bildungspläne sind sehr schreib- und sprachlastig geworden, alles läuft über Literatur und Textverständnis. Die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, das Experimentieren und Ausprobieren kommen zu kurz. Das ist zum Schaden der Jungs.


Sie meinen, dass wir seit 1968 vor allem die Mädchen fördern. War die konservative Erziehung davor denn mehr im Sinne der Jungen? 

Ja. Es herrschte ein anderer Charakter von Disziplin. Ich selbst saß noch in einem Klassenzimmer mit vierzig Kindern. Da war Ruhe. Die Inhalte waren in Grundschulbereich kaum anders als heute. Aber es gab klare Strukturen, Regeln wurden stringenter durchgehalten. Und die Männer als Lehrer waren präsenter. 

Ist es entscheidend, ob die Lehrer männlich oder weiblich sind?

Wenn wir Frauen uns in einen Jungen hineinversetzen, ihn so akzeptieren, wie er ist, dann können wir ihn genauso gut unterstützen wie ein Mann. 

Ich höre an Ihrer Antwort heraus, dass Sie meinen, dass viele Frauen Jungs nicht akzeptieren. 

Ich beobachte an anderen Frauen und auch an mir selbst eine Tendenz, das Gegenüber verändern zu wollen. Eigene Werte und Einstellungen auf den anderen überzustülpen. Auch bei ganz banalen Dingen im Haushalt ertappe ich mich selber dabei. Ich versuche, meinem Mann vorzuschreiben, wie er den Keller einzuräumen hat oder wo die Schuhe hinzustellen sind. Umgekehrt habe ich noch nie den Versuch gespürt, dass ein Mann mich verändern will. Man hat mich so akzeptiert. 

Wie erklären Sie sich das? 

Wir Frauen waren biologisch schon immer dafür da, die erste Erziehungsarbeit zu übernehmen. Das weibliche Wesen hat den Nesthocker noch bei sich und muss ihn auf die Welt vorbereiten. Das ist so in uns drin, dass wir es auf andere Menschen übertragen wollen.




Eine Kollegin von Ihnen stellt sich einen Wecker, der alle fünfzehn Minuten klingelt. Dann schickt sie ihren ADHS-Schüler los und lässt ihn zweimal um das Schulgebäude rennen. Danach setzt er sich wieder hin und arbeitet weiter. Das finde ich toll.

Und es ist so einfach. Wenn Jungen ihren Bewegungsdrang ausleben dürften, hätten wir weniger ADHS-Diagnosen. Und physische Aktivität ist eng mit dem Lernerfolg verknüpft.

Sie berufen sich auf Untersuchungen, dass Jungen auf dem Pausenhof einen viel größeren Erkundungsradius haben. Mädchen erlauben sich seltener Ausbrüche. Woran liegt das?

Wieder an der Biologie. Das Testosteron hat einen starken Einfluss auf Aktivität und Verhalten, auf Wettstreitlust und Risikobereitschaft. Es ist ein Aktivator, der die Jungs vorantreibt. Auf den Pausenhöfen haben sie ihren Freiraum, wo sie Gas geben können. Und dann tun sie es auch. Sie laufen um die Wette, sie machen Fangspiele.

Sie sagen, Jungen brauchen einerseits mehr Freiraum und andererseits starke Führung. Ist das nicht ein Widerspruch?

Es wäre gefährlich für einen Jungen, wenn er grundsätzlich Grenzen überschreiten und jedes Risiko eingehen darf. Also verlangt er intuitiv danach, dass es jemanden gibt, der ihm Grenzen setzt. Wenn jemand sagt, stopp, dann stoppt der Knabe auch.

Sie plädieren für einen fußballdidaktischen Ansatz. Was ist das?

Man muss respektieren, dass Jungs einen hohen Bewegungsdrang haben, aber klare Strukturen brauchen. Und dass die meisten Jungs Teamplayer sind. Jeder hat seine Stellung. Mein fußballdidaktischer Ansatz bedeutet, dass jeder seine Individualität ausleben darf und wachsen kann, aber trotzdem eine Zugehörigkeit verspürt. Das sind die Werte aus dem Fußball: körperliche Anstrengung und Freiheit einerseits, Regeln und Rituale, die Stabilität geben andererseits. Schiedsrichter und Trainer, die Führung personifizieren. Respekt voreinander und vor dem Gegner. Und hinterher erntet man Anerkennung.

Wie passt das mit in unserer postautoritären Gesellschaft zusammen?

Es passt nicht mehr zusammen. Seit dem Ende der Sechziger hat sich ein starker Liberalismus entwickelt, in allen Bereichen, auch in der Politik. Was ja auch gut ist. Ich bin für einen liberalen Staat. Aber diese Dinge spiegeln sich auch in der Erziehung wider. Eltern neigen dazu, Kinder auf dieselbe Stufe zu stellen wie sich. Als Partner auf Augenhöhe. Und Dinge mit ihnen auszudiskutieren, so wie das unter Erwachsenen funktioniert. Dass sie ihre Kinder dabei psychisch komplett überfordern, wissen sie meist nicht.

*

Es ist ja schonmal löblich, wenn eine Pädagogin sagt, Jungens sind numal so, und dann muss man sie lassen; "annehmen, wie sie sind". Aber es ist noch nichtmal die Hälfte, sondern erst der Anfang des Gebo-tenen. Denn es ist nicht nur so, wie es ist, sondern das ist auch gut so. Es ist nämlich der spezifische Beitrag des Männlichen zur Gattungsgeschichte der Spezies Mensch. Er war es nicht nur, er ist es immer noch und soll es bleiben. 

Und wenn die Lila Pudel unter den ErzieheRN sich soweit dem biologisch Weiblichen angeähnelt haben, dass nun auch sie den Andern ändern wollen, dann sind sie falsch an ihrem Platz. Denn eins hat Frau Steiner in ihrer biologischen Sichtweise missverstanden. Es reicht nicht aus, die Jungens sein zu lassen, wie sie sind, sondern man muss sie ermutigen, ermuntern, verlocken, so zu werden, wie sie sein wollen. Denn anfangs sind sie noch klein, und viele trauen sich nicht richtig; und wenn sie sich dann schließlich doch ermannen, schießen sie gelegentlich auch übers Ziel hinaus. Wenn sie dann nur auf die Nase fallen, ist das nicht schlimm. Aber von dem, der ihren Wagemut angestachelt hat, dürfen sie erwarten, dass er eine schüt-zende Hand über sie hält und im Ernstfall für sie gradesteht.

Damit hat sich auch das Geraune über die Vorzüge des autoritären Stils erledigt. Denn die Autorität, von der hier die Rede ist, hat, bevor sie Stopp! gerufen hat, das Feuer selber angeblasen. Anders bliebe sie nicht lange Autorität, sondern würde höchstens autoritär, und das ist nur was für angehende lila Pudel. Merke: Männer sind dann präsenter, wenn sie als Männer präsenter sind. 


*) Birgit Gegier Steiners Buch „Artgerechte Haltung. Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung“ ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen.

Freitag, 6. November 2015

Religion macht Kinder bigott.

aus scinexx

Religion macht Kinder unsozialer

Von wegen Nächstenliebe: Kinder aus religiösen Familien handeln weniger selbstlos als atheistisch erzogene Kinder. Dies belegt ein Spielexperiment mit mehr als tausend Kindern aus verschiedenen Kulturkreisen. Sprösslinge christlicher und muslimischer Familien teilten demnach seltener mit Altersgenossen, wollten aber unsoziales Handeln Anderer härter bestrafen. Je religiöser die Familie war, desto ausgeprägter war dieses Verhalten, wie die Forscher im Fachmagazin "Current Biology" berichten.

Religion gilt als wichtige Richtschnur für die Moral und soll nach gängiger Annahme soziales Verhalten fördern. "Diese Ansicht ist so tief verankert, dass Menschen, die nicht religiös sind, sogar in manchen Gesellschaften als moralisch suspekt gelten", erklärt Jean Decety von der University of Chicago. Studien zeigen aber auch, dass die Strenge von Religionen stark von ökologischen und gesellschaftlichen Faktoren abhängt - und dass unser moralisches Verhalten von so überraschenden Faktoren wie der Tageszeit oder der Sprache beeinflusst wird.

Kinder aus sechs Ländern


Decety und seine Kollegen wollten wissen, ob eine religiöse Erziehung Kinder tatsächlich zu einem sozialeren und großzügigen Verhalten bewegt. Für ihre Studie führten sie Spielexperimente mit mehr als 1.100 fünf- bis zwölfjährigen Kindern in sechs Ländern durch: in Kanada, den USA, in Jordanien, der Türkei, Südafrika und China. Gut 40 Prozent der kleinen Teilnehmer stammten aus muslimischen Familien, knapp 25 Prozent aus christlichen und rund 27 Prozent aus atheistischen. Juden, Hindus und Buddhisten machten deutlich kleinere Anteile aus.


Im ersten Spiel sollten die Kinder entscheiden, wie viele Abziehbilder sie mit einem ihnen unbekannten Kind des gleichen ethnisch-religiösen Hintergrunds teilen wollten. In einem zweiten Experiment sahen die Kinder einen kurzen Film, in dem ein Akteur einen anderen schubste. Sie sollten bewerten, wie verwerflich diese Handlung sei und wir hart der Täter bestraft werden soll.


Atheisten sind großzügiger


Das überraschende Ergebnis: Am großzügigsten und teilungsfreudigsten waren nicht die religiösen, sondern die in atheistischen Familien lebenden Kinder. Ihre Altersgenossen aus christlichen oder muslimischen Familien erwiesen sich dagegen als deutlich knickriger – und dies umso mehr, je stärker religiös geprägt sie erzogen waren.


"Die Kinder, deren Familien den beiden großen Weltreligionen angehörten, waren eindeutig weniger altruistisch als Kinder aus nicht-religiösen Haushalten", berichten die Forscher. Da das Gegenüber der Kinder jeweils zur gleichen Bevölkerungsgruppe gehörte, könne ihr weniger soziales Verhalten auch nicht damit erklärt werden, dass sie mehr Vorurteile gegen Andersgläubigen haben.

Strenger gegenüber anderen


Und auch bei der Beurteilung des moralischen Verhaltens anderer, gab es deutliche Unterschiede: Religiös erzogene Kinder fanden den Aggressor im Videoclip "gemeiner" und "böser" als ihre Altersgenossen aus nichtreligiösen Familien. Gleichzeitig forderten vor allem die muslimischen Kinder eine deutlich härtere Bestrafung des Täters, wie Decety und seine Kollegen berichten.


"Frühere Studien haben schon gezeigt, dass religiöse Menschen keineswegs per se besser sind als ihre nichtreligiösen Gegenparts", sagt Decety. "Wir gehen nun darüber hinaus und belegen, dass religiöse Menschen – und auch ihre Kinder – sogar weniger altruistisch sind." Das Ergebnis des zweiten Experiments bestätigt zudem vorhergehende Ergebnisse, nach denen Religiosität mit einer stärkeren Intoleranz gegenüber anderen verbunden ist.


Nach Ansicht der Forscher verdeutlicht dies, dass Religion und Moral keineswegs synonym sind – im Gegenteil. "Das jedoch weckt die Frage, ob Religion für die moralische Entwicklung entscheidend ist", meint Decety. "Und es stützt den Gedanken, dass eine Säkularisierung des moralischen Diskurses die Nächstenliebe keineswegs mindert –es erreicht sogar das Gegenteil." (Current Biology, 2015; doi: 10.1016/j.cub.2015.09.056)


(Cell Press, 06.11.2015 - NPO)


Nota. - Es springt ins Auge: Nur wer sich im Besitz des einzig wahren Glaubens wähnt, kann sich über "den Andern" bevorzugt wähnen. Skeptiker und Atheisten haben diese Möglichkeit jedenfalls nicht. Doch dass ein öffentliches Vorurteil offenkundig widersinnig ist, spricht leider nicht gegen, sondern fast schon für seine fraglose Geltung. (Wäre es bloß falsch, könnte es jeder Schlaumeier merken.)


Erinnern Sie sich: Täglich kommen neue Horrormeldungen über "Gewalt an den Schulen", und wenn man den Medien glauben kann, herrscht auf den Pausenhöfen Bürgerkriegsstimmung: Und was empfehlen und Politiker, Wissenschaftler und Vertreter von Lehrergewerkschaften unisono als Heilmittel? Die Ganztags-schule! "Soziale Verhaltensweisen einüben!" Credo quia absurdum, sagt Augustinus von Hippo.

JE