Mittwoch, 18. März 2015

Ganztagsschule macht kurzsichtig.


Das war bekannt, dass Stubenhocken und Stillesitzen den Geist verdunkeln. Jetzt erfahren wir, dass es auch kurzsichtig macht:

aus Die Presse, Wien, 19. 3. 2015

Augenlicht braucht Licht: 
Kinder, hinaus!
Die Kurzsichtigkeit greift um sich, vor allem in Ostasien grassiert sie. Das liegt nicht am vielen Lesen, sondern vermutlich daran, dass junge Menschen nicht mehr genug im Freien sind.

von Jürgen Langenbach

„Wenn die Kurzsichtigkeit sich festsetzt, sollte ein Ortswechsel verschrieben werden, am besten eine Seereise.“ Das empfahl 1904 Edward Juler, ein britischer Augenchirurg. Inzwischen setzt sich dieses Leiden epidemisch fest, es trifft etwa die Hälfte der Jungen in Europa und den USA, und in Ostasien grassiert es kaum glaublich: In China, wo vor 60 Jahren noch zehn bis 20Prozent kurzsichtig waren, sind es unter den Teenagern 90Prozent, und in Seoul in Korea sehen gerade noch 3,5Prozent der jungen Männer im Alter von 19 gut.
In diesem Alter ist alles entschieden. Kurzsichtigkeit (Myopie) kommt daher, dass der Augapfel zu sehr in die Länge wächst, das Licht ist dann nicht auf der Retina fokussiert, sondern vor ihr. Das entwickelt sich im Schulalter, dann wächst das Auge noch. Aber warum zu sehr? Die Gene spielen mit, man weiß es von Zwillingsstudien, aber die Gene sind nicht alles: 1969 bemerkte man an Inuit in Alaska, dass von 131 untersuchten Erwachsenen zwei kurzsichtig waren. Aber von ihren Kindern und Enkeln war es mehr als die Hälfte, so rasch mutieren Gene nicht, es musste an der Umwelt liegen.


Den üblichen Verdacht formulierte als Erster Johannes Kepler, er führte sein schwaches Augenlicht, mit dem er kaum Sterne beobachten konnte, darauf zurück, dass er sich für seine mathematischen Studien zu intensiv in Bücher vertieft hatte. Das hält sich bis heute, es hat sich auch bestätigt, etwa in Israel, wo strengreligiöse Kinder, die sich ausgiebig in heilige Texte vertiefen, häufiger unter Myopathie leiden. Inzwischen sind zu den Büchern die elektronischen Zauberkästen hinzugekommen, und vor allem in Ostasien ist der Druck auf Kinder enorm, sie lernen auch zu Hause stundenlang.

Lesen? Ja, aber nicht drinnen!

Aber 2007 weckte eine Studie erstmals einen anderen Verdacht: US-Augenärzte begleiteten eingangs acht- bis neunjährige Kinder mehrere Jahre lang, sie fragten zufällig am Rande auch, wo die Kinder ihre freie Zeit verbringen. Die Antwort darauf wies auf einen einzigen Faktor, der darüber entschied, ob Kurzsichtigkeit kam oder nicht: Bei Kindern, die viel im Freien waren, war das Risiko viel geringer. Das bestätigte sich in Australien: Es geht nicht um das Lesen, es geht um das Licht, auch bei Kindern, die ihre Bücher im Freien schmökerten, war das Risiko geringer. Später zeigten Tierversuche – an Hühnern – das Gleiche.

Wie das? Wieder halfen die Hühner im Experiment: Vermutlich läuft es über den Neurotransmitter Dopamin, der wird im Auge produziert, er blockiert die Verlängerung des Augapfels. Aber er wird nur im hellen Licht produziert: Myopieforscher Ian Morgan (University of Canberra) schätzt, dass Kinder mindestens drei Stunden am Tag 10.000 Lux brauchen, die herrschen an einem Sonnentag unter einem schattigen Baum; im Hausinneren, auch in Schulzimmern, sind es kaum mehr als 500 (Nature 519, S.276).

So weitsichtig war Juler vor über 110 Jahren, und in Taiwan hilft es heute, dass an manchen Schulen die Kinder 80 Minuten ins Freie geschickt werden. Aber nicht überall können sie so hinaus. Deshalb experimentieren manche Städte in China schon mit Klassenzimmern, die rundum verglast sind.


Nota. -  Wer schon jubiliert hat, mit dieser Meldung sei der Freiheit ein Lanze gebrochen, der hat nicht mit der chinesischen Volksrepublik gerechnet; dort werden sie die Kinder in gläserne Treibhäuser stecken, und wetten, dass hiesige fortschrittsorientierte Bildungsreformer auch dafür noch ein erziehungswissenschaftli- ches Argument finden werden?
JE

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