Sonntag, 31. August 2014

Friedrich Schiller über Kinder, Naivität und Genie.

Der Gedanke, daß das ungebildete Kind der ursprünglichen Natur des Menschen näher stünde als der gebildete Erwachsene, ist uralt. Aber die Meinung, daß das sein Vorzug sei, ist ausgesprochen modern. Im Zeichen des Christentums bedeutete Natur soviel wie Fleisch und Versuchung: Im Mittelalter meinte man, der Schöpfer habe es nunmal nicht anders gewollt. In protestantischer Zeit leitete man daraus aber die Notwendigkeit der Pädagogik her – mit einem ganz großen P, wie bei den Pietisten in Halle. 

Der Gedanke, daß gesellschaftliche Bildung den Menschen korrumpiert und dass er zu seiner Natur zurückfinden müsse, hatte Rousseau dazu geführt, die Kindheit als eine selbstberechtigte und gar richtigere Art des Menschseins aufzufassen; wenn sie auch nicht dauern kann… 

In Deutschland wurde “das Kind” dann zur großen und revolutionierenden Entdeckung der Romantiker. Als Vermittler trat Friedrich Schiller auf. Seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung entstand 1795. Nachdem Kant in der Kritik der Urteilskraft den bloßen Geschmack als zu dürftig für die Rechtfertigung der Kunst befunden und durch das Genie vervollständigt hatte, bestimmte Schiller das Genie durch dessen Kindlichkeit. Nicht nur bereitet er so, an Kants Urteil über den Vorrang des Naturschönen vor dem Kunstschönen anknüpfend, der modernen Ästhetik den Weg. Zugleich sorgt er dafür, daß das Nachdenken über Pädagogik seither nur noch kritisch zu besorgen ist.

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Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß, weil sie Natur sind, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen.

Aber ihre Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk ihrer Wahl ist. Sie gewähren uns also die ganz eigene Lust, daß sie, ohne uns zu beschämen, unsre Muster sind. … Was ihren Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterschiedet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt. Wir sind frei, aber sie sind notwendig; wir wechseln, aber sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich mit einander verbindet, wenn der Wille das Gesetz der Notwendigkeit frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regeln behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Wir erblicken in ihnen also das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefordert sind zu ringen. ... Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt niemals, wie das Ver- nunftlose, oder nicht anders als indem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, teilhaftig werden können. … 

Besonders stark und am allgemeinsten äußert sich diese Empfindsamkeit für Natur auf Veranlassung solcher Gegenständen, welche in einer engern Verbindung mit uns stehen und uns den Rückblick auf uns selbst und die Unnatur in uns näher legen, wie z. B. bei Kindern und kindlichen Völkern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hilflosigkeit sei, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit so viel Rührung bei Kindern verweilen. Das mag bei denjenigen vielleicht der Fall sein, welche der Schwäche gegenüber nie etwas anderes als ihre eigene Überlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefühl, von dem ich rede (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die fröhliche Tätigkeit der Kinder in uns erregt), ist eher demütigend als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn je ein Vorzug dabei in Betracht kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite.

Nicht weil wir von der Höhe unsere Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewissen Wehmut gemischt, als daß sich diese Quelle derselben verkennen ließe. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, die uns rührt. … 
 
Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet; und der, was er durch die Beurteilung des Verstandes verliert, in der Beurteilung der Vernunft wieder in reichem Maße gewinnt. Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urteile der Vernunft und des Verstandes geht die ganz eigene Erscheinung des gemischten Gefühls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erregt. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die letztere gibt es dem Verstand ein Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsere (theoretische) Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche sei, daß folglich nicht Unverstand, nicht Unvermögen, sondern eine höhere (praktische) Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit die Quelle davon sei, welches die Hilfe der Kunst aus innerer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir fühlen uns genötigt, den Gegenstand zu achten, über den wir eben gelächelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu beklagen, daß wir demselben nicht ähnlich sind. So entsteht die ganz eigenen Erscheinung eines Gefühls, in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmut zusammenfließen.

Zum Naiven wird erfordert, daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage Die Handlungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur so lange den Eindruck des Naiven, als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern und überhaupt nur auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns Rücksicht nehmen. Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird, ... 

Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivität allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchem, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt ist. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über sie hinaus zu gehen. Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchsloser Simplizität und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert sich das Genie, daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach bekannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes, seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt, zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist schamhaft, weil die Natur dieses immer ist; aber es ist nicht dezent, weil nur die Verderbnis dezent ist. Es ist verständig, denn die Natur kann nie das Gegenteil sein; aber es ist nicht listig, denn das kann nur die Kunst sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen treu, aber nicht sowohl, weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bei allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das alte Bedürfnis zurückbringt. Es ist bescheiden, ja blöde, weil das Genie immer sich selber ein Geheimnis bleibt; aber es ist nicht ängstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. …Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch immer ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen, und er ist das wichtigste Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie seine erhabensten und tiefsten Gefühle aus; es sind Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes.

Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Deswegen ist das Gefühl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nah verwandt, womit wir dem entflohenen Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld beklagen. Unsre Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn uns jeder Fußstapfe der Natur außer uns auf unsere Kindheit zurückführt. 
 
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Quelle: “Über naive und sentimentalische Dichtung” in: Friedrich Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart (Cotta) 1950; S. 368-385; Auswahl: J. Ebmeier

Donnerstag, 28. August 2014

Ein ganz unerwarteter Beitrag der Kindheit zur Menschwerdung des Affen.


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Nachwuchs-Pflege im Team ist der Ursprung der Selbstlosigkeit

Nathalie Huber  
Kommunikation Universität Zürich


Menschenaffen handeln kaum selbstlos, Menschen dagegen sehr oft, ebenfalls Krallenäffchen: Spontaner Altruismus und Kooperationsfähigkeit sind in der Welt der Primaten sehr unterschiedlich verbreitet. Ein Team unter der Leitung einer Anthropologin der Universität Zürich weist nach, dass die gemeinschaftliche Betreuung der Jungtiere die evolutionäre Voraussetzung für die Entwicklung von spontanem altruistischen Verhaltens war.

Der Mensch zeichnet sich durch seine hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten aus – und er verhält sich sozial, kooperativ und oft selbstlos. Ganz anders ausgerechnet unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, die ebenfalls über aussergewöhnliche kognitive Fähigkeiten verfügen: Sie fallen weit ab, wenn es um spontane Selbstlosigkeit geht. Altruistisches Verhalten findet man dagegen bei gewissen Arten der Krallenäffchen, z.B. bei Tamarinen und Marmosetten. Seit langem suchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach dem Faktor, der bestimmt, ob sich eine bestimmte Primatenart selbstlos verhält oder nicht.

Da bisherige Studien untereinander nicht vergleichbar waren, testete eine Gruppe von Forschern aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Italien und Grossbritannien unter der Leitung der Anthropologin Judith Burkart von der Universität Zürich einen neuartigen Ansatz – und landete einen Volltreffer: Sie fanden heraus, dass der evolutionäre Ursprung von spontanem selbstlosen Verhalten bei menschlichen und nichtmenschlichen Primaten in der gemeinsamen Betreuung des Nachwuchses liegt. Die Resultate der Studie sind nun in «Nature Communications» publiziert.

Menschen und Löwenäffchen am selbstlosesten
 
Für ihre Verhaltensstudie entwickelten Anthropologin Burkart und ihre Kollegen das neue Paradigma
der Gruppendienstleistung, das spontanes altruistisches Verhalten in einer standardisierten Weise erfasst. Insgesamt beobachteten die Wissenschaftler das Verhalten von 24 Sozialverbänden von insgesamt 15 verschiedenen Primatenarten. Mit Hilfe einer ausgeklügelten Testeinrichtung untersuchten die Forscher, ob Individuen einer bestimmten Primatenart bereit sind, uneigennützig zu handeln und einen Leckerbissen für andere Gruppenmitglieder zu beschaffen, auch wenn sie selber dabei leer ausgehen (siehe Kasten). Die Wissenschaftler untersuchten ausserdem, ob und wie uneigennützig Kindergartenkinder im Alter von 4-7 Jahren handeln.

Die Bereitschaft, spontan selbstlos zu handeln, unterscheidet sich je nach Primatenart markant: «Menschen und goldene Löwenäffchen handelten hochgradig altruistisch und ermöglichten den anderen Gruppenmitgliedern nahezu immer, an die Leckerbissen zu gelangen. Schimpansen dagegen taten dies nur sporadisch», zieht Burkart Fazit. Andere Primatenarten, wie zum Beispiel Varis und Bartmakaken, betätigten den Griff, der einem anderen Gruppenmitglied Futter spendete, überhaupt nicht – dies obschon gerade Makaken über hohe kognitive Fähigkeiten verfügen.

Bislang mutmasste die Forschung, dass spontanes altruistisches Verhalten bei Primaten mit deren kognitiven Fähigkeiten, der Gehirngrösse, sozialer Toleranz, gemeinschaftlicher Futtersuche oder dem Vorhandensein von starken Männchen-Männchen-, Weibchen-Weibchen- oder Paarbindungen in den Gruppen erklärt werden könne. Wie die neuen Daten von Burkart jetzt aber zeigen, liefern all diese Faktoren keine zuverlässigen Vorhersagen, ob sich eine Primatenart uneigennützig verhalten wird oder nicht.

Gemeinschaftliche Jungenaufzucht als Ursprung von Altruismus

 
Die Forschenden verglichen daher die verschiedenen Primatenarten mit spontanem altruistischen Verhalten mit dem Verhalten von Menschen – und wurden fündig: Menschen und Primaten mit altruistischem Verhalten pflegen eine gemeinschaftliche Aufzucht ihres Nachwuchses. Dazu meint Burkart: «Spontanes selbstloses Verhalten findet man ausschliesslich bei den Arten, bei denen Jungtiere nicht allein von der Mutter, sondern auch von anderen Gruppenmitgliedern wie Geschwistern, Vätern, Grossmüttern, Tanten und Onkeln betreut werden.» Dieses Verhalten wird von der Forschung als «gemeinschaftliche Aufzucht der Jungtiere» oder als «Pflegemutterverhalten» bezeichnet.

Das Pflegemutterverhalten ist beim Menschen sehr ausgeprägt und unterscheidet ihn grundlegend von den Menschenaffen. Die Wissenschaftler sind überzeugt, dass die gemeinschaftliche Aufzucht der Jungen auch die Entstehung der dem Menschen eigenen hochgradigen Kooperationsfähigkeit begünstigte: «Als unsere menschenartigen Vorfahren begangen, ihren Nachwuchs gemeinschaftlich aufzuziehen, legten sie damit die Basis für unseren Altruismus und unsere Hyper-Kooperation», fasst Burkart zusammen.

Literature:
J. M. Burkart, O. Allon, F. Amici, C. Fichtel, C. Finkenwirth, A. Heschl, J. Huber, K. Isler, Z. K. Kosonen, E. Martins, E. Meulman, R. Richiger, K. Rueth, B. Spillmann, S. Wiesendanger & C. P. van Schaik (2014). The evolutionary origin of human hyper-cooperation. Nature Communications 5:4747 doi: 10.1038/ncomms5747.


Test set-up for the altruism study

A treat is placed on a moving board outside the cage and out of the animal’s reach. With the aid of a handle, an animal can pull the board closer and bring the food within reach. However, the handle attached to the board is so far from the food that the individual operating it cannot grab the food itself. Moreover, the board instantly rolls back when the handle is released, moving the food out of reach again, which guarantees that only the other members of the group present are able to get at the snack. In this way, the researchers ensure that the animal operating the handle acts purely altruistically.

For the comparative behavior study with children, an analogous test apparatus was constructed, which was enclosed in a Plexiglas box and could be operated from outside by the children.

Contacts:
Dr. Judith Burkart
Anthropological Institute & Museum, University of Zürich
Winterthurerstrasse 190
CH-8057 Zürich
Switzerland
Email: Judith.burkart@aim.uzh.ch
 
Nota .

Bliebe nachzutragen, dass die Erfordernis, Kinder nicht nur von den Müttern, sondern auch von anderen Gruppenmitgliedern, namentlich den Vätern, betreuen zu lassen, umso dringender wird, je länger die Kindheit dauert.

Die verzögerte Kindheit ist es, die Pädagogik als ein besonderes Gemeinschaftsunternehmen nötig macht.

Die Ausweitung der Kinderbetreuung über die Mütter und die leiblichen Eltern hinaus war es, die Pädagigk möglich gemacht hat. Und sie gehört ihrerseits zu den Bedingungen der Menschwerdung! Herder wäre selig und Rousseau knirscht mit den Zähnen. 

Allerdings eine Pädagogik um der Kinder und nicht um der Erwachsenen willen, sonst könnten die sich nicht in Altruismus üben, und die Veranstaltung verfehlte ganz ihre heilsame Wirkung auf sie.
JE




Nota. Die obigen Fotos gehören mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE    

Mittwoch, 27. August 2014

Arthur Schopenhauer über das natürliche Genie der Kinder.

Schopenhauer

Arthur Schopenhauer ist berühmt und berüchtigt als Stifter einer Metaphysik des “Willens”: Darunter versteht er den blinden, überindividuellen Lebenstrieb – die Urkraft allen Übels. Ihn zu überwinden durch absichtslose “Betrachtung” sei der Zweck aller Bildung. Diese Philosophie wurde zum Glaubensbekenntnis des duckmäuserischen, aber stets rechthabenden deutschen Spießers. Und Schopenhauer galt auch in seinem privaten Leben als der Urtyp des unleidlichen Menschenfeinds – mit einem Pudel als einzigem Freund.

Doch hätte die furchtbar dicke Welt als Wille und Vorstellung kaum ihre Leser gefunden, würde nichtWilhelm Busch, Schopenhauer die verschrobene Ausgangsthese in einer Springflut kluger und witziger Einzelabhandlungen ausgeführt. Wobei der Autor von seinem verhaßten Lehrer Fichte mehr übernommen hat, als ihm klar sein mochte. Zum Beispiel, daß er als Aufmarschgebiet und Trainigsfeld der Vernunft das Ästhetische ausmacht; vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, Kap. 36. Und selbst dies: dass gerade die Kinder unter allen Menschen der Vernunft “von Natur aus” am nächsten stehen – bevor sie zu gewöhnlichen Erwachsenen verkümmern.

Nur ein Menschenfeind war Schopenhauer also doch nicht…

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Aus: Aphorismen zur Lebensweisheit, Kap. VI, Vom Unterschied der Lebensalter; in: Sämmtliche Werke, Leipzig 1908, Bd. 5, S. 508f.: 

AnglerHieraus entspringt es, daß unsere Kinderjahre eine fortwährende Poesie sind. Nämlich das Wesen der Poesie wie aller Kunst besteht im Auffassen der Platonischen Idee, das heißt des Wesentlichen und daher der ganzen Art Gemeinsamen, in jedem Einzelnen [...]. Nämlich das Leben in seiner ganzen Bedeutsamkeit steht noch so neu, frisch und ohne Wiederholung vor uns, daß wir mitten unter unserm kindischen Treiben stets im Stillen und ohne deutliche Absicht beschäftigt sind, an den einzelnen Szenen und Vorgängen das Wesen des Lebens selbst, die Grundtypen seiner Gestalten und Darstellungen, aufzufassen. Wir sehn, wie Spinoza es ausdrückt, alle Dinge und Personen sub specie aeternitatis. [...] 

So bildet sich demnach schon in den Kinderjahren die feste Grundlage unserer Weltansicht, mithin auch das Flache oder Tiefe derselben: sie wird später ausgeführt und vollendet, jedoch nicht im wesentlichen verändert. Also infolge dieser einen objektiven und dadurch poetischen Ansicht, die dem Kindesalter wesentlich ist und davon unterstützt wird, daß der Wille noch lange nicht mit seiner vollen Energie auftritt, verhalten wir uns als Kinder bei weitem mehr rein erkennend als wollend. [...] Während wir nun mit solchem Ernst dem ersten anschaulichen Verständnis der Dinge obliegen, ist andererseit die Erziehung bemüht, uns Begriffe beizubringen. Allein Begriffe liefern nicht das eigentlich Wesentliche: vielmehr liegt dieses, also der Fonds und echte Gehalt aller unserer Erkenntnisse, in der anschaulichen Auffassung der Welt. Diese kann aber nur von uns selbst gewonnen, nicht auf irgendeine Weise uns beigebracht werden. Daher kommt wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen Wesens hervor.

Aus: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Kap. 31, Vom Genie; in: Sämmtliche Werke, Leipzig 1908, Bd. 3, S. 451ff:

Noch hab ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, das heißt über eine gewisse Ähnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. In der Kindheit nämlich ist das Zerebral- und Nervensystem entschieden überwiegend, denn seine Entwicklung eilt der des übrigen Organismus weit voraus, so daß bereits im siebten Jahr das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. [...] Am spätesten hingegen fängt die Entwicklung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie in der Regel das Übergewicht über die Gehirnfunktion haben.

BetrachterHieraus ist erklärlich, daß Kinder im allgemeinen so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich infolge jenes Entwicklungsganges mehr Intellekt als Willen, das heißt als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und ebenso ist das Genitalsystem eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. [...] Die Basis jenes Glücks aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Dasein viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. [...]

Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen großen Vorrat von Erkenntnissen für künftige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig tätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf für die kommende Zeit. [...] Bis zur [Pubertät] waltet im kindlichen Leib die Plastizität vor. [...] Dann folgt auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige, bald stürmische, bald schwermütige Jünglingsalter, welches nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kind jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkteit entsteht, welcher dem Kindesalter eigentümlich ist.

Worauf nun die Ähnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen: im Überschuß der Erkenntniskräfte über die Bedürfnisse des Willens und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Tätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie und jedes Genie gewissermaßen ein Kind. Die Verwandtschaft beider zeigt sich zunächst in der Naivität und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des echten Genies ist: sie tritt auch außerdem in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mitteilungen über Goethe wird erwähnt, daß Herder und andere Goethe tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: Gewiß haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. [...]

Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines anderen als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Tun sehen. Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchwegs gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein; nur nimmermehr ein Genie. In der Tat ist das Genie es dadurch, daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Überwiegen des sensiblen Systems und der erkennenden Tätigkeit sich bei ihm, abnormer Weise, das ganze Leben hindurch erhält, also ein perennierendes wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher zum Beispiel an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und geniale Exzentrizizät unverkennbar sind. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: Sie verpuppen sich und erstehen, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wenn man sie in späteren Jahren wieder antrifft.

Und schließlich findet sich dort folgender Vorgriff auf die sogenannte Neotenie-These, die der holländischen Anatomen Louis Bolk erst hundert Jahre später ausarbeiten sollte; ebd., S. 454:

Das hier in Erwägung genommene Überwiegen des zerebralen Nervensystems und der Intelligenz in derOrang Utan Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und Bestätigung dadurch, daß bei dem Tiergeschlecht, welches dem Menschen am nächsten steht, den Affen, dasselbe Verhältnis in auffallendem Grad Statt findet. Es ist allmählich gewiß geworden, daß der so höchst intelligente Orang-Utan [...], wenn herangewachsen, die große Menschenähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaunliche Intelligenz verliert; indem der untere, tierische Teil des Gesichts sich vergrößert, die Stirn dadurch zurücktritt, und [die wachsenden Kammknochen] zur Muskelanlage den Schädel tierisch gestalten; [ während ] die Tätigkeit des Nervensystems sinkt und an ihrer Stelle eine außerordentliche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu seiner Erhaltung ausreichend, die große Intelligenz jetzt überflüssig macht.
Auswahl: J. Ebmeier

Dienstag, 26. August 2014

Seine nachaltige Kindlichkeit verdankt der Mensch dem Kopf.

http://ebmeierjochen.files.wordpress.com/2010/11/gemito-fiociniere1.jpgVincenzo Gemito
aus Der Standard, Wien, 27. 8. 2914

Warum wir so lange Kinder bleiben
Biologie. In den ersten Jahren wachsen Menschen langsam, zumindest was den gesamten Körper angeht. Dafür wächst in ihnen etwas mit Höchstgeschwindigkeit, das Gehirn, es verbraucht den Großteil der Ressourcen.

 

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir relativ groß, aber dann geht es langsam voran. Bis wir ausgewachsen sind und geschlechtsreif, vergehen an die 18 Jahre. Eine solche Art, das Leben anzulegen – „life history“ –, haben sonst noch Reptilien, bei Säugetieren geht es rasch, bei Primaten auch, nur Schimpansen bremsen etwas, aber was ein Vergleich zeigt: Sie werden 32 Wochen lang ausgetragen, bei uns sind es 38 bis 40, dann wachsen sie in einem Zug, mit vier Jahren versorgen sie sich selbst, mit zwölf sind sie fertig!

Warum sind wir solche Lahmfüße? Es gibt vor allem zwei Hypothesen, sie schließen einander nicht aus: Die eine setzt darauf, dass wir so viel lernen müssen/dürfen, das brauchte schon bei unseren Ahnen Zeit, die über Jahrtausende als Jäger und Sammler unterwegs waren. Die andere sieht den Schlüssel in dem Organ, das bei uns im Erwachsenenalter etwa drei Mal so groß ist wie bei den Schimpansen, im Gehirn, unseres hat um die 1200 Kubikzentimeter Volumen, ihres um die 450, es schwankt bei beiden individuell stark. Und unseres wächst, solange es geht, im Uterus.

Irgendwann muss es hinaus, im letzten Moment, wenn der Schädel gerade noch durch den Geburtskanal passt. Dann bringt das Gehirn ein Viertel des Körpergewichts auf die Waage, aber es hat erst 30Prozent seiner erwachsenen Größe, bei Schimpansen sind es 40. Also muss unseres wachsen, und zwar nicht nur gleich nach der Geburt, sondern bis zur Pubertät. Das braucht Energie, das Gehirn ist extrem hungrig.

Gehirn ist ein extrem teures Gewebe

Woher nehmen? 1995 entwickelte Leslie Aiolli (University College London) die „expensive tissue hypothesis“: Der Paläoanthropologin war aufgefallen, dass unser Magen-Darm-Trakt nur 60Prozent der Größe hat, die er bei einem so großen Primaten haben müsste. Dort wird bei uns gespart, möglich wurde das durch energiereiche Nahrung – Fleisch, Fisch –, möglich wurde es auch durch die Domestizierung des Feuers: Kochen und Braten holen mehr Energie aus der Nahrung und machen sie unserer Verdauung leichter zugänglich.

Energie kann auch anderswo gespart werden, etwa durch Hinauszögern des Reifens, damit erklärt die zweite Hypothese unser gemächliches Wachstum: Es mag nur Eltern so vorkommen, dass Kinder in die Höhe schießen, in Wahrheit geht es vor allem mit vier, fünf Jahren so gemächlich, dass man nicht aus der Körpergröße auf das Alter schließen kann, sondern auf das Reden hören und das Verhalten im Auge behalten muss.

Und dort, im Alter von vier, fünf Jahren, wird extrem viel Energie in das Gehirn investiert, Christopher Kuzawa (Evanston) hat es durch das Zusammenführen älterer Daten über Größe und Energiebedarf des Gehirns gezeigt: In diesem Alter nimmt es 66Prozent der Energie, die der ganze Körper braucht, wenn er ruht; bewegt er sich, liegt der Anteil des Hirns immer noch bei 40Prozent (Pnas, 25.8.). „Das Körperwachstum kommt fast zum Stillstand, wenn die Gehirnentwicklung mit Lichtgeschwindigkeit geht, weil das Gehirn die verfügbaren Ressourcen aufsaugt“, erklärt Kuzawa. Erst wenn es endlich genug hat, um die Pubertät herum, kann endlich der Körper in die Länge schießen.

Freitag, 22. August 2014

Mit Muße lernen.

Charles Leighton, The sluggard
aus New York Times, AUG. 22, 2014

Uncram
‘How We Learn,’ by Benedict Carey


In “Outliers,” a fixture on best-seller lists since it was published in 2008, Malcolm Gladwell assured us that talent and intelligence matter little, but that 10,000 hours of practice in our chosen endeavor is all it takes to become a chess grandmaster, Bill Gates or a rock star as successful as the Beatles.

Taking that can-do message toward a Jillian Michaels level of hysterical intensity was Amy Chua’s “Battle Hymn of the Tiger Mother” (2011). A similar but gentler approach came from Paul Tough, in “How Children Succeed” (2012), who described the benefits of grit and character — the ability to overcome and learn from failure. Last year, Amanda Ripley chimed in with “The Smartest Kids in the World,” showing why students in countries like South Korea perform so well: because they study so much.

Now comes the inevitable counterattack against these purveyors of the hard-work school of schooling. In “How We Learn,” Benedict Carey tells us to ease up, take a break, get a good night’s sleep and stop the cramming. Instead of beating our brains into submission through 10,000 hours of drudgery, we need to study smarter, not harder.

Carey, a New York Times science reporter, begins his book with a confession: He once was a grind. Like those high-school students in South Korea, he was “the kid who sweated the details, who made flashcards. A striver, a grade-hog, a worker bee.” Then, after being rejected by all but one of the colleges to which he had applied, and dropping out after a year, “I loosened my grip,” he writes. “I stopped sprinting.”

The softer approach, which he jokingly refers to as “freeing the inner slacker,” worked well enough for him to eventually obtain degrees in mathematics and journalism before landing at The Times in 2004. Now he has devoted his considerable reporting chops to uncovering the scientific basis of how learning actually occurs, and how we can make the most of our brain’s natural proclivities: A nap is not just an hour or two of lost study time; sleep actually enhances learning. Daydreaming and distraction are good ways to generate creative solutions to difficult problems. Breaking up study times across days and weeks beats cramming, even when the total study time is the same. And mixing up your environment, by trying a new cafe or new music on your earphones, works better than serving time in a library carrel.

I very much would like to report that all this makes for gripping reading. Almost a decade ago, I collaborated with Carey on a profile for The Times about the psychologist Albert Ellis, and like millions of readers, I have learned immensely from his many well-reported articles over the years.

After a promising introduction, however, Carey makes most of his points by reciting study after study, with only the occasional cameo of a psychologist or research subject to break things up. Alas, since strong narratives and scene-­setting, personalities and detailed observation are the sleds on which data, studies and statistics move in the best science books.

Some of these insights, moreover, are already well known and widely applied. Do we really need randomized, placebo-controlled studies to tell us that taking breaks, getting a good night’s sleep, and letting ideas percolate are better than cramming for 48 hours straight on the wings of Provigil?

Then again, following Carey’s recommendations, I intentionally read his book over a period of weeks, and then took a full day’s break before sitting down to write this review. It helped.

Ultimately, “How We Learn” makes for a welcome rejoinder to the faddish notion that learning is all about the hours put in. Learners, Carey reminds us, are not ­automatons.


HOW WE LEAR
The Surprising Truth About When, Where, and Why It Happens
By Benedict Carey
254 pp. Random House. $27.



Dan Hurley’s latest book is “Smarter: The New Science of Building Brain Power.”

Montag, 18. August 2014

Rechnen lernen.

aus scinexx

Wie Schulkinder Rechnen lernen
Ein Wandel im Gehirn hilft Kindern, auf effektivere Lösungsmethoden umzuschalten

Vom Zählen zum Erinnern: Schulkinder machen beim Mathelernen einen schrittweisen Wandel durch: Zuerst zählen sie selbst einfache Mathe-Aufgaben an den Fingern ab, später fällt ihnen das Ergebnis automatisch ein. Hinter diesem Wechsel der Strategie steht auch ein Umbau im Gehirn, wie US-Forscher jetzt nachweisen. Das könnte auch erklären, warum manche Kinder mehr Probleme beim Rechnen haben als andere, so die Forscher im Fachmagazin "Nature Neuroscience".

Die Grundschulzeit ist eine kritische Phase für das Lernen: In dieser Zeit erwerben Kinder grundlegende Fähigkeiten und Kenntnisse im Rechnen, Schreiben und Lesen, aber auch im Lösen sozialer Probleme. Dabei nutzen Schulkinder mit zunehmendem Alter andere Strategien: Anfangs überwiegen umständliche Lernwege, bei denen der Lösungsweg innerlich Schritt für Schritt nachvollzogen wird. Beim Rechnen zählen die Kinder beispielsweise Additionen oder Subtraktionen an den Fingern ab, beim Lesen werden Wörter buchstabiert und dann erst zum kompletten Wort zusammengesetzt.

"Mit der Reifung der Problemlösungs-Fähigkeiten nimmt die Häufigkeit solcher ineffektiver Prozeduren langsam ab und es werden vermehrt gedächtnisbasierte Strategien eingesetzt", erklären Shaozheng Qin von der Stanford University School of Medicine und seine Kollegen. Die Kinder müssen dann Ergebnisse einfacher Rechnungen oder Wörter nicht mehr nachvollziehen, sondern erinnern sich an sie.

Rechnen im Hirnscanner

Wie dieses Umschalten der Lernstrategie funktioniert und was sich dabei im Gehirn verändert, war bisher jedoch unklar. Um das herauszufinden, ließen Qin und seine Kollegen 28 Schulkinder im Alter von sieben bis neun Jahren einfache Additionen einstelliger Zahlen durchführen und die Antwort laut aussprechen. Nach jeder Aufgabe fragten die Forscher sie danach, wie sie Rechnung gelöst hatten – durch innerliches Zählen oder indem ihnen die richtige Antwort einfach einfiel.

In einem zweiten Übungsteil zeichneten die Wissenschaftler die Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) auf, während die Kinder Additionen lösten oder für abgebildete Gleichungen angaben, ob das dargestellte Ergebnis der Addition richtig oder falsch war. Diese Experimente wiederholten die Forscher mit den gleichen Kindern noch einmal gut ein Jahr später.

Mehr Erinnern, weniger Zählen

Wie sich zeigte, veränderte sich beim Rechnen der Kinder in diesem Jahr einiges: Diejenigen, die mit sieben oder acht Jahren noch im Geiste die Summen abzählten, konnten nun häufiger die Ergebnisse aus dem Gedächtnis abrufen. "Übereinstimmend mit unserer Hypothese nehmen gedächtnisbasierte Strategien zu, das Zählen nimmt ab", berichten die Forscher.

Diese Veränderungen in den arithmetischen Fähigkeiten spiegelten sich auch in der Hirnaktivität wider: Der Hippocampus war bei den älteren Kindern während des Rechnens aktiver, wie die Hirnscans zeigten. Dieses Hirnareal sorgt gängigen Theorien nach für die Umwandlung von neu Gelerntem in dauerhafte Erinnerungen und ordnet neue Informationen in bereits existierendes Wissen ein.

Verknüpfungen verändern sich

Und noch etwas hatte sich nach einem Jahr im Gehirn der Kinder geändert: Der Hippocampus war bei ihnen nun zunehmend stärker mit der Hirnrinde verknüpft – und damit den Bereichen des Denkorgans, die bei Erwachsenen die Hauptrolle beim Lösen mathematischer Aufgaben spielen. Im Laufe der Kindheit verändert sich demnach nicht nur die Art, wie mathematische Aufgaben gelöst werden – auch das Gehirn verändert seine für das Lernen wichtigen Strukturen.

"Unsere Ergebnisse zeigen, dass mit dem Umschalten vom Zählen auf gedächtnisbasierte Strategien auch eine funktionelle Reorganisation der Hippocampus-Neocortex-Verbindungen stattfindet", fassen die Forscher zusammen. Und: Je früher und vollständiger dieses Umschalten stattfindet, desto leichter fällt den Kindern das Rechnen – und desto besser sind später ihre Leistungen in Mathematik, wie die Experimente zeigten.

Erklärung auch für die Dyskalkulie

Diese Ergebnisse könnten auch erklären, warum manche Kinder unter einer Dyskalkulie leiden – einer Rechenschwäche: Bei ihnen klappt die Umstellung der Strategien nicht vollständig oder deutlich verspätet, wie Qin und seine Kollegen erklären. Dieser neue Einblick in die Vorgänge beim Lernen ist aber nicht nur für die Mathematik wichtig: Ein solches Umschalten der Strategien findet auch bei anderen wichtigen Fähigkeiten statt – sei es beim Lesen und Schreiben, beim logischen Denken oder im Umgang mit Anderen.

Das Wissen um die Veränderungen, die dabei im Gehirn der Kinder stattfinden, hilft dabei, zu verstehen, wie und warum sie im Laufe der Zeit lernen, Probleme anders anzugehen. (Nature Neuroscience, 2014; doi: 10.1038/nn.3788)

(Nature, 18.08.2014 - NPO)

Freitag, 15. August 2014

Vom Nutzen musikalischer Bildung.


institution logoDas Orchester der Neuronen: Instrumentalunterricht beeinflusst die Gehirnaktivität bei Kindern

Dr. Annette Tuffs  
Unternehmenskommunikation
Universitätsklinikum Heidelberg 

14.08.2014 09:18

Wissenschaftler des Universitätsklinikums Heidelberg und der Universität Graz veröffentlichen gemeinsam im „Journal of Neuroscience“

Wie sich das frühe Erlernen eines Musikinstruments langfristig auf die Gehirnentwicklung von Kindern auswirkt, erforschen Privatdozentin Annemarie Seither-Preisler vom Institut für Psychologie der Uni Graz und Privatdozent Dr. Peter Schneider von der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg. Ihre neuesten Erkenntnisse, wie man begabte Kinder noch besser fördern und auf der anderen Seite Entwicklungsdefiziten entgegenwirken kann, haben die beiden zusammen mit dem Grazer Musikologen Univ.-Prof. Dr. Richard Parncutt in der aktuellen Ausgabe des „Journal of Neuroscience“ publiziert.

Bekommen beide Ohren dieselbe Information, arbeiten die rechte und die linke Hörrinde des Gehirns bei musikalisch geübten Kindern praktisch synchron. Bei untrainierten Kindern geraten sie minimal aus dem Takt, bei Kindern mit ADHS konnten die Wissenschafter in ihrer aktuellen Studie sogar eine markante Zeitverschiebung zwischen beiden Hirnhälften feststellen. Außerdem war bei dieser Gruppe die Ausreifung der Hörfunktionen in der Hirnrinde deutlich verlangsamt, während junge Musiker einen Entwicklungsvorsprung zeigten. „Diese Entdeckung könnte erklären, warum auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen, ADHS und Lese-Rechtschreib-Schwäche häufig gemeinsam auftreten“, unterstreicht Seither-Preisler die Bedeutung der neuesten Ergebnisse. Einige der Probleme der betroffenen Kinder dürften auf eine unzureichende Zusammenarbeit beider Hemisphären zurückzuführen sein, mit negativen Folgen für Aufmerksamkeit, rasche Sprachverarbeitung sowie die Lese-Rechtschreibfähigkeit. „Eine musikalische Ausbildung wirkt genau diesen Defiziten entgegen“, betont Peter Schneider. Die Ergebnisse zeigen nämlich, dass Kinder, die ein Instrument lernen, besser zuhören können, aufmerksamer sind und weniger Probleme haben, Hyperaktivität und Impulsivität zu kontrollieren. Darüber hinaus schneiden sie in Lese- und Rechtschreibtests besser ab als musikalisch ungeübte Gleichaltrige. „Es wäre daher förderlich, neue Formen von Musikerziehung für Kinder mit ADHS und Lese-Rechtschreib-Schwäche anzubieten“, raten die Wissenschafter.

Im Zuge der Studie zeigte sich noch ein weiterer bemerkenswerter Befund: Das Team stellte fest, dass die graue Substanz der Hörrinde bei musikalisch aktiven Kindern etwa um die Hälfte größer ist als bei den übrigen Altersgenossen. Eine Langzeitbeobachtung ergab, dass diese Hirnregion bereits vor dem musikalischen Training eine ganz bestimmte Form und Größe aufwies und sich über die Zeit nicht mehr veränderte. „Besonders überraschte uns, dass wir am Volumen einer bestimmten Hirnstruktur zu Beginn des Instrumentalunterrichts verlässlich vorhersagen konnten, wie viel Zeit die Kinder in Zukunft mit dem Üben verbringen würden“, erklärt Seither-Preisler. Dies zeigt erstmalig, dass die Motivation, ein Instrument zu lernen, nicht nur von der Unterstützung des sozialen Umfelds, sondern auch von der Veranlagung im Gehirn abhängt. „Wer günstige Voraussetzungen mitbringt, wird leichter und mit mehr Begeisterung bestimmte Fähigkeiten erlernen – beispielsweise zu malen oder Schach zu spielen. Das sollte man in Zukunft stärker berücksichtigen“, empfehlen die Forscher. Werden solche Kinder nämlich rechtzeitig in ihren Talenten und Interessen unterstützt, entwickeln sich die zugehörigen neuronalen Netzwerke besonders günstig, wodurch Lernen zunehmend zum Selbstläufer wird.

Als nächsten Schritt möchte das Team erforschen, ob sich auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen mittels neurologischer Messungen im Gehirn frühzeitig diagnostizieren lassen. „Wir hoffen, dass so rechtzeitig Interventionen gesetzt werden können, um die Wahrscheinlichkeit späterer ADHS-Diagnosen zu verringern“, so Seither-Preisler.

Die aktuelle Studie wurde vom Deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt und ist Teil der Begleitforschung zu dem musikalischen Bildungsprogramm „Jedem Kind ein Instrument (JeKi)“, das derzeit in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen und Hamburg über 60.000 Kinder aller sozialen Schichten erreicht.

Literatur:
Annemarie Seither-Preisler, Richard Parncutt, and Peter Schneider. Size and Synchronization of Auditory Cortex Promotes Musical, Literacy, and Attentional Skills in Children. The Journal of Neuroscience, 13 August 2014, 34(33): 10937-10949; doi: 10.1523/JNEUROSCI.5315-13.2014

Kontakt für Rückfragen:
PD Dr. Peter Schneider
Neurologische Universitätsklinik, Abteilung Neuroradiologie und Sektion Biomagnetismus
Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg
Tel. 06221-56-39180
Email: peter.schneider@med.uni-heidelberg.de

PD Dr. Annemarie Seither-Preisler
Institut für Psychologie der Uni Graz
Tel.: 0043 680 2473314
E-Mail: annemarie.seither-preisler@uni-graz.at

Nota.

...und dabei haben sie das Wichtigste noch gar nicht erwähnt: Ästhetisches Erleben ist selber ein Bildungselement.
JE 

Samstag, 9. August 2014

Alleinernährer, wie immer.

aus Süddeutsche.de,

Familienrecht 
Ungerechtes Klischee vom Zahlvater
Männer, die auch nach einer Scheidung eine enge Bindung zu ihren Kindern wünschen, sind in der Gesellschaft längst angekommen. Doch bei finanziellen Lasten werden sie weiter benachteiligt. 

Von Ulrike Heidenreich und Wolfgang Janisch

Ein Paar trennt sich, die Ex-Partner teilen sich das Sorgerecht und die Betreuung des gemeinsamen Kindes - dennoch muss der Vater den vollen Unterhalt leisten. Eine Ungerechtigkeit, die eine umfassende Reform des Unterhaltsrechts notwendig macht.


Jede dritte Ehe geht in die Brüche, 95 Prozent der Eltern teilen sich nach einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder. Beim Unterhalt aber machen die getrennten Partner im seltensten Fall halbe-halbe. Selbst Väter, die sich nicht nur als Wochenendpapa sehen und ihr Kind fast die Hälfte des Monats betreuen, müssen nämlich den gesamten Unterhalt zahlen. Die Familienpolitik setzt auf die Elternzeitmänner und die Teilzeitmänner. Die Familienmänner, die eine enge Bindung zu Haushalt und Kindern genießen, sind in der Gesellschaft auch längst angekommen. Doch in der Rechtsprechung ist dieser neue Mann noch nicht vorgesehen. Das neue Rollenmodell läuft nicht wirklich überall rund.Den Ingenieur Erik Schneider (Name von der Redaktion geändert) ärgert das. Denn er denkt, dass er fast alles richtig gemacht hat - bis auf kluges Krisenmanagement in seiner Ehe vielleicht. Seit eineinhalb Jahren sind seine Frau und er geschiedene Leute. Vorher hatte Erik Schneider, 48, vier Monate Elternzeit genommen. Das ist mehr, als es die meisten Väter tun: Der Großteil, nämlich 93 Prozent, bleibt höchstens zwei Monate zu Hause beim Baby. Später, als Tochter Lena 15 Monate alt war und seine Frau Annett halbtags ins Büro ging, reduzierte er seine Arbeitszeit auf 80 Prozent. Der Freitag gehörte Papa. Trotzdem ging die Familienidylle in die Brüche.
 
Lena hat zwei Kinderzimmer

Inzwischen haben beide neue Partner, kommen miteinander "halbwegs versöhnlich" aus, so formuliert es Erik Schneider. Das Sorgerecht ist geteilt, die vier Jahre alte Lena lebt hauptsächlich bei der Mutter, weil - so die Absprache - Annett Schneider öfter zu Hause ist. Erik Schneider ist mit seiner neuen Lebensgefährtin in deren Nähe gezogen. Die Wohnung hat ein Zimmer mehr, als ein Paar alleine benötigen würde. Schließlich braucht Lena ein eigenes Kinderzimmer. Sie ist jedes zweite Wochenende von Freitagmittag bis Montagmorgen beim Vater. Unter der Woche wechseln er und seine Freundin sich mit der Mutter ab. Die erste Woche holen sie Lena dreimal vom Kindergarten ab, die zweite Woche zweimal, und so weiter. Die anderen Tage übernimmt die Mutter. Wo die Kleine übernachtet, handhaben Erik und Annett Schneider flexibel, je nach eigenen Plänen. Aber immer sprechen sie das so rechtzeitig ab, dass Lena sich nicht überrumpelt fühlt. Wenn die Mutter am Wochenende wegfährt, springt der Vater ein - er tut es gern.
 
Regelmäßige Ausgaben - trotzdem voller Unterhalt

Erik Schneider hat ausgerechnet, dass er seine Tochter mindestens 50 Prozent der Zeit betreut, manchmal ist es mehr, manchmal weniger. "Ich habe regelmäßige Kosten wegen meiner Tochter: die erhöhte Miete wegen des zusätzlichen Zimmers, Essen, Kleidung und Spielzeug, Geld für Unternehmungen. Trotzdem muss ich vollen Unterhalt zahlen", sagt er. Schneider verdient etwa 3800 Euro netto. Gemäß der Düsseldorfer Tabelle überweist er 432 Euro pro Monat an seine Ex-Frau. Trotz aller Harmonie - Annett Schneider lässt da nicht mit sich handeln. Sie sagt, dass sie dieses Geld voll benötigt.

Die Düsseldorfer Tabelle: So wird der Unterhalt berechnet.

Auf die Frage, wer sich nach der Scheidung um die Kinder kümmert, kennt die Wirklichkeit zahllose Antworten. Die alleinerziehende Mutter, die vom Zahlvater widerwillig den Unterhalt überwiesen bekommt, markiert das eine Ende eines Spektrums. Am anderen Ende stehen die getrennten, immer noch partnerschaftlich kooperierenden Eltern. Dazwischen gibt es fast alles. Manchmal ist es nur der Zoobesuch einmal monatlich. Andere haben minutiös Übernachtungspläne ausgetüftelt.  

Einer betreut, der andere zahlt

Das Recht dagegen bildet diese Wirklichkeit nur holzschnittartig ab. Wenn es um den Unterhalt für das Kind der getrennt lebenden Eltern geht, dann hängen die Gerichte immer noch am Klischee des Zahlvaters (seltener ist es eine Zahlmutter): Ein Elternteil betreut das Kind und erfüllt damit seine Pflicht, für das Kind zu sorgen, der andere Elternteil überweist den monatlichen Regelsatz, der beispielsweise - unterste Einkommensstufe, Kinder zwischen sechs und elf Jahren - 364 Euro beträgt. Es gilt also: Einer betreut, der andere zahlt - ihn trifft die "Barunterhaltspflicht", wie Juristen das ausdrücken. Für die Zwischentöne der sozialen Realität, für die vielen Abstufungen der Elternkooperation: Dafür haben die Gerichte noch kein wirklich taugliches Modell entwickelt.
 
Engagierte Väter zahlen drauf

Erst im März dieses Jahres hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Problem beschäftigt. Ein Polizist und eine Lehrerin hatten nach der Scheidung notariell vereinbart, die 2001 geborene Tochter "nach dem sogenannten Wechselmodell" zu betreuen: Wöchentlich an zwei Tagen und alle zwei Wochen von Freitag bis Sonntag sollte die Tochter beim Vater sein. Die größere Last hatte freilich die Mutter zu tragen, auch, weil der Vater wegen seines Schichtdienstes nicht immer verlässliche Zusagen machen konnte. Dennoch, sein Anteil an der Betreuung war beträchtlich - weshalb er nicht der alleinige Zahler bleiben wollte. Am Ende entschied der BGH zugunsten der Frau: Solange das "Schwergewicht der Betreuung" bei einem Elternteil liegt, muss der andere allein den "Barunterhalt" bestreiten.

Nur bei einem echten Fünfzig-zu-fünfzig-Modell sieht der BGH Raum für eine Aufteilung der Zahlungen. Immerhin: Der BGH-Familiensenat unternahm einen Versuch, die Schieflage ein wenig zu korrigieren. "Nimmt der barunterhaltspflichtige Elternteil ein weit über das übliche Maß hinausgehendes Umgangsrecht wahr, dessen Ausgestaltung sich bereits einer Mitbetreuung annähert", dann sei eine Verringerung seiner Zahlungspflicht möglich. Und zwar, indem er eine oder mehrere Rangstufen in der Düsseldorfer Tabelle herabgestuft wird, das ist die Rechentafel des Unterhalts. Wirklich viel ist damit nicht gewonnen: Eine Stufe abwärts bringt 20, vielleicht 30 Euro. Die echten Kosten der Mitbetreuung - vom Kinderzimmer über Fahrtkosten bis hin zu den Mahlzeiten - bleiben an demjenigen hängen, der sich trotz Zahlungspflicht bei der Betreuung engagiert. So wie dies bei Familie Schneider der Fall ist.
 
Die Botschaft müsse doch lauten: "Ihr seid Eltern, ihr bleibt Eltern."

Nach Einschätzung von Heinrich Schürmann, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Oldenburg, ist das Karlsruher Gericht zu sehr an einem Familienmodell alter Prägung orientiert: "Der BGH hat die Chance verpasst, das System zu öffnen." Die Botschaft müsse doch lauten: "Ihr seid Eltern, ihr bleibt Eltern." Genau dies müsse auch über das Unterhaltsrecht transportiert werden. Das jetzige Modell signalisiere dem zahlenden Elternteil eher, dass er mit der Geldüberweisung seine Verantwortung bereits erledigt habe. "Wir brauchen ein Unterhaltssystem, das die Kosten des Umgangs mit den Kindern abbildet."

Eine wirkliche Reform - da müsste wohl der Gesetzgeber ran - muss allerdings praktikabel bleiben. Darauf weist der Deutsche Familiengerichtstag hin: Ein Ansatz, der nach realen Betreuungszeiten differenziere, stieße an "Erkenntnisgrenzen" und bürdete den Familiengerichten große Lasten auf. Realistisch sei daher nur ein Modell, in dem nicht jede Änderung der Kinderbetreuungszeiten zu einer Anpassung des Unterhalts führe.

Erik Schneider verfolgt die BGH-Urteile aufmerksam. Noch ist es ihm unangenehm, die Besuchszeiten akkurat zu notieren und eine Klage mit einem Anwalt vorzubereiten. "Wenn ich dann nur um 18 Euro heruntergestuft werde, ist mir das den Ärger nicht wert", sagt er. Auch im Interesse von Tochter Lena will er den Frieden in der Patchworkfamilie aufrechterhalten. Diese wird bald größer: Seine Lebensgefährtin bekommt ein Baby. Sie möchte zwei Jahre Elternzeit nehmen. Erik Schneider plant, ein Jahr zu pausieren. "Dann reduziert sich der Unterhalt von alleine, weil ich eh nicht mehr so viel Geld habe", meint er. Aber mehr Zeit wird der Vater haben - für Lena und das neue Kind.