aus nzz.ch, 14. Juli 2014
«Den Pisa-Test sollte man abschaffen»
Didaktikprofessor Jochen Krautz fordert die Abschaffung des Pisa-Tests.
Herr Prof. Krautz, Sie sind gegen Kompetenzen als pädagogisches Konzept. Machen Kompetenzen denn dumm?
Ja,
weil durch sie die Bildung abhandenkommt. Die Kompetenzorientierung
vernachlässigt Fachinhalte und würdigt sie zu reinen Trainingsobjekten
herab.
Ob
Lesekompetenz anhand des «Faust» oder der Handy-Gebrauchsanweisung
erlangt wird, ist dem kompetenzorientierten System egal. Damit gehen
Bildungsinhalte schlicht verloren.
Was sind «Kompetenzen» überhaupt?
Der
Begriff «Kompetenz» geht auf den Kognitionspsychologen Franz Weinert
zurück und ist im Alltagsverständnis positiv besetzt. Wer will schon
einen inkompetenten Heizungsmonteur? Allerdings beschreibt Kompetenz im
schulischen Zusammenhang eine innere, weder sicht- noch messbare
Voraussetzung, etwas zu tun. Der Fachinhalt ist dafür zweitrangig.
Kompetenzen ohne Bildung – geht das?
Ja,
leider, weil man Kompetenzen auch ohne Inhalte trainieren kann. Bildung
ist etwas anderes. Der sich Bildende sucht die Auseinandersetzung mit
dem Fachinhalt, will den Inhalt verstehen, Zusammenhänge erkennen und
Neuland entdecken. Kurz – er denkt selber. Das selbständige Denken wird
durch Kompetenzen aber weniger gefördert. Hier geht es vielmehr um
Anpassung und trainierbare Fertigkeiten.
Sie kritisieren, dass der Nutzen der Kompetenzorientierung nicht erwiesen sei. Aber ist es denn der Schaden?
Es
gibt keinen wissenschaftlich validen Konsens zum Kompetenzbegriff. Das
Kompetenzsystem ist ein Konstrukt der OECD. Trotzdem hält die OECD daran
fest. Dabei müssten die Reformer zuerst einmal beweisen, dass dieses
neue System tatsächlich besser ist als das alte. Diesen Beweis gibt es
aber nicht. Man darf in der Pädagogik nicht einfach etwas ausprobieren,
denn damit verbaut man möglicherweise ganzen Generationen von Schülern
die Lebenschancen. Die Kompetenzorientierung bringt faktisch eine
Absenkung des Bildungsniveaus.
Aber auch mehr Gerechtigkeit?
Das
halte ich für reine Rhetorik, denn dafür gibt es keinerlei Beweise.
Klar, es gibt mehr Abschlüsse. Mehr Abschlüsse bei sinkendem Niveau –
das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun.
Gibt es eine Bildungsblase?
Ja.
Wir provozieren tatsächlich eine Inflation bei den akademischen
Abschlüssen. Das Ganze geht auf die These zurück, dass mehr Akademiker
auch mehr Wohlstand bedeuten. Diese These ist aber ebenfalls nicht
belegt, ganz im Gegenteil. Die Schweiz und auch Deutschland mit dem
dualen Berufsbildungssystem und der vergleichsweise tiefen
Jugendarbeitslosigkeit sind der lebendige Gegenbeweis. Das nimmt man
mittlerweile vereinzelt sogar in der OECD zur Kenntnis. Aber das Mantra
vom Segen der Akademisierung ist noch lange nicht verstummt.
Warum hat die OECD überhaupt eine solche Macht über die nationalen Bildungssysteme?
Die
OECD liefert eigentlich vergleichende Wirtschaftsdaten. Aber sie hat
sich schon in den 1960er Jahren der Bildungspolitik angenommen. Ihr Ziel
ist eine Vereinheitlichung des Bildungswesens in der ganzen OECD, der
Abbau lokaler und nationaler Traditionen und klassischer Inhalte
zugunsten der Standardisierung und Vergleichbarkeit. Dahinter steckt ein
ökonomistischer, neoliberaler Glaube. Der Pisa-Test ist das Kind dieses
Denkens. Der angeblich neutrale Pisa-Test führt zu einem völlig neuen
Begriff von Bildung: Es geht nicht um Wissen, sondern um die Fähigkeit,
sich anzupassen. Das steht im krassen Widerspruch zu allem, was die alte
Bildungstradition ausmacht. Komplette Anpassung war nie ihr Ziel.
Ist das gefährlich?
Ich
halte diese Entwicklung für sehr bedenklich. Man muss den jungen Leuten
beibringen, selbständig zu denken und nicht nur äusserlich zu
funktionieren. Für die Demokratie ist diese Entwicklung hochgefährlich.
Kulturell ist sie verheerend. Und für die Wirtschaft ist sie riskant,
weil Können und Wissen verloren gehen. Dieses System erzeugt Menschen,
die zwar nach Richtlinien arbeiten können, aber keinen Bezug zu ihrer
Arbeit haben. Schulzimmer werden heute zum Teil gestaltet wie
Grossraumbüros, und im «selbstorganisierten Lernen» arbeitet man an
seiner «Sozialkompetenz» und «Teamfähigkeit». Als durchgängiges
pädagogisches Modell funktioniert das nicht. Lernen ist und bleibt ein
Beziehungsgeschehen zwischen Lehrer und Schülern und der gemeinsamen
Sache.
Kann man diese Entwicklung überhaupt noch aufhalten?
Das
ist eine Frage des politischen Willens. Es braucht eine öffentliche
Debatte dazu. Ich bin durchaus optimistisch, denn es wird in letzter
Zeit viel gesprochen über Kompetenzen, auch durchaus kritisch. Die ganze
Sache ist keineswegs unumstritten. Aber man muss diesen Diskurs auch
wollen. Hier sind gerade in der Schweiz mit ihrer direktdemokratischen
Kultur die Politik und auch die Eltern gefragt. Sie sollen mit den
Schulen und in der Öffentlichkeit den Diskurs führen und wo möglich
Abstimmungen provozieren. Denn das Bildungsverständnis der OECD ist am
Volk vorbei eingeführt worden. Dagegen kann man sich wehren.
Soll man den Pisa-Test abschaffen?
Ja.
Denn wir verlieren dabei nichts und gewinnen viel. Das Geld für die
Pisa-Tests könnte man im Bildungsbereich besser investieren.
Latein
muss man noch richtig büffeln, um es zu verstehen. War die Abschaffung
des obligatorischen Latinums das Ende einer echten europäischen
Bildungsbeflissenheit?
Sie sprechen mit
einem ehemaligen Lateinlehrer. Leider kann man heute auch Latein
kompetenzorientiert unterrichten und prüfen. Aber grundsätzlich hat
Latein eine sprachliche Struktur, die sich gegen das Kompetenzsystem
wehrt. Latein fördert und fordert genaues Verstehen und Begründen. Ich
halte es – zumindest in einem Teil der Studiengänge – für
hochproblematisch, wenn dieses Bewusstsein nicht mehr vorhanden ist.
Jochen
Krautz ist Professor für Kunstpädagogik an der Bergischen Universität
Wuppertal. 2007 erschien von ihm das Buch «Ware Bildung – Schule und
Universität unter dem Diktat der Ökonomie».
Nota.
Als PISA 2001 auf dem Markt erschien, habe ich aus meiner Freude kein Hehl gemacht: Nicht durch stures Büffeln erlernbares Wissen sollte länger als Sinn und Zweck des Schulunterrichts gelten, sondern die individuelle Fähigkeit der "Welterschließung", wie es treffend und angemessen vieldeutig genannt wurde; anstelle von Daten speichern wieder persönliche Bildung! Um dies zu befördern, habe ich nicht gezögert, für eine sehr leichtverständliche Zeitschrift für Lehrer und Erzieher ein Konzentrat des ersten, größeren Teils über Lesekompetenz anzufertigen.* Endlich sollten knallharte empirische Daten auf den Tisch kommen, und nicht jeder irgendwie Interessierte würde weiterhin froh drauflos fabulieren können, wo es um schulische Angelegenheiten ging.
Es ist dann, wie Sie wissen, ganz anders gekommen. An die Veröffentlichung ihrer Daten haben die PISA-Leute nie gedacht, es blieb alles geheime Verschlusssache, ihren Veröffentlichungen muss man glauben undkann es lassen, und es dard nicht wundern, dass schon am nächsten Tag jeder seine altbackenen Semmeln wieder auf den Tresen legte und sagte "PISA hat gezeigt, PISA hat bewiesen, seit PISA wissen wir..."
Das Groteskeste von Allem: Wurde bei der Erhebung von 2001 noch Wert darauf gelegt, dass keineswegs Schulen oder gar Schulsystem und womöglich selbst Lehrpläne miteinander verglichen würden, sondern die allegemeinen Fähigkeiten von fünfzehnjährigen Menschen in den OECD-Ländern, und es blieb einer deutschen Duodezministerin vorbehalten, trotzdem von einer "Schulvergleichsstudie" zu schreiben,* so als ob sie PISA nie in den Fingern gehalten hätte. Das ist sie wohlbemerkt bis heute nicht, aber die PISA-Leute tun inzwischen selber alles Erdenkliche, damit es so scheint.
PISA hat die Debatte nicht nur nicht versachlicht, sondern die Irrationalität auf neue Höhen getrieben. Es wird frenetisch an den Lehrplänen gebastelt, es wird weiter gebüffelt, zwar nicht so viele sinnleere Daten, aber dafür umso mehr sinnleere 'Kompetenzen', von denen nicht einmal bekannt ist, welche auf dem Arbeitsmarkt von morgen - um den geht's nämlich - wirklich nachgefragt werden. Und der Stress ist größer als je zuvor.
PISA war ein kostspieliger Humbug. Was morgen gebraucht werden wird, lehrt dich der gesunde Menschenverstand, und heute noch unmissverständlicher als gestern: Die beste Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt von morgen ist Bildung, sie ist die Universalkompetenz, die flexibel ist und jederzeit "anschlussfähig", und das wollt ihr doch, nicht wahr?
JE
*) in PÄDForum 3/2002; es stand auch im Internet, ist dort aber von Google gelöscht worden.
**) Doris Ahnen, „Schule im Zentrum“ in: Der Tagesspiegel, 2. 7. 02