Dienstag, 17. April 2018

Vorgänger: Arthur Schopenhauer über das natürliche Genie der Kinder.

Schopenhauer

Arthur Schopenhauer ist berühmt und berüchtigt als Stifter einer Metaphysik des “Willens”: Darunter versteht er den blinden, überindividuellen Lebenstrieb – die Urkraft allen Übels. Ihn zu überwinden durch absichtslose “Betrach- tung” sei der Zweck aller Bildung. Diese Philosophie wurde zum Glaubensbekenntnis des duckmäuserischen, aber stets rechthabenden deutschen Spießers. Und Schopenhauer galt auch in seinem privaten Leben als der Urtyp des unleidlichen Menschenfeinds – mit einem Pudel als einzigem Freund.

Doch hätte die furchtbar dicke Welt als Wille und Vorstellung kaum ihre Leser gefunden, würde nichtWilhelm Busch, Schopenhauer die verschrobene Ausgangsthese in einer Springflut kluger und witziger Einzelabhandlungen ausgeführt. Wobei der Autor von seinem verhaßten Lehrer Fichte mehr übernommen hat, als ihm klar sein mochte. Zum Beispiel, daß er als Aufmarschgebiet und Trainigsfeld der Vernunft das Ästhetische ausmacht; vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, Kap. 36. Und selbst dies: dass gerade die Kinder unter allen Menschen der Vernunft “von Natur aus” am nächsten stehen – bevor sie zu gewöhnlichen Erwachsenen verkümmern.
 
Nur ein Menschenfeind war Schopenhauer also doch nicht

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Aus: Aphorismen zur Lebensweisheit, Kap. VI, Vom Unterschied der Lebensalter; in: Sämmtliche Werke, Leipzig 1908, Bd. 5, S. 508f.

AnglerHieraus entspringt es, daß unsere Kinderjahre eine fortwäh- rende Poesie sind. Nämlich das Wesen der Poesie wie aller Kunst besteht im Auffassen der Platonischen Idee, das heißt des Wesentlichen und daher der ganzen Art Gemeinsamen, in jedem Einzelnen [...]. Nämlich das Leben in seiner ganzen Bedeutsamkeit steht noch so neu, frisch und ohne Wiederho- lung vor uns, daß wir mitten unter unserm kindischen Trei- ben stets im Stillen und ohne deutliche Absicht beschäftigt sind, an den einzelnen Szenen und Vorgängen das Wesen des Lebens selbst, die Grundtypen seiner Gestalten und Darstel- lungen, aufzufassen. Wir sehn, wie Spinoza es ausdrückt, alle Dinge und Personen sub specie aeternitatis. [...] 

So bildet sich demnach schon in den Kinderjahren die feste Grundlage unserer Weltansicht, mithin auch das Flache oder Tiefe derselben: sie wird später ausgeführt und vollendet, jedoch nicht im wesentlichen verändert. Also infolge dieser einen objektiven und dadurch poetischen Ansicht, die dem Kindesalter wesentlich ist und davon unterstützt wird, daß der Wille noch lange nicht mit seiner vollen Energie auftritt, verhalten wir uns als Kinder bei weitem mehr rein erkennend als wollend. [...] Während wir nun mit solchem Ernst dem ersten anschaulichen Verständnis der Dinge obliegen, ist andererseit die Erziehung bemüht, uns Begriffe beizubringen. Allein Begriffe liefern nicht das eigentlich Wesentliche: vielmehr liegt dieses, also der Fonds und echte Gehalt aller unserer Erkenntnisse, in der anschaulichen Auffassung der Welt. Diese kann aber nur von uns selbst gewonnen, nicht auf irgendeine Weise uns beigebracht werden. Daher kommt wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unsers eigenen Wesens hervor.

Aus: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Kap. 31, Vom Genie; in: Sämmtliche Werke, Leipzig 1908, Bd. 3, S. 451ff:

Noch hab ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, das heißt über eine gewisse Ähnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. In der Kindheit nämlich ist das Zerebral- und Nervensystem entschieden überwiegend, denn seine Entwicklung eilt der des übrigen Organismus weit voraus, so daß bereits im siebten Jahr das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. [...] Am spätesten hingegen fängt die Entwicklung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie in der Regel das Übergewicht über die Gehirnfunktion haben.

BetrachterHieraus ist erklärlich, daß Kinder im allgemeinen so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich infolge jenes Entwicklungsganges mehr Intellekt als Willen, das heißt als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und ebenso ist das Genitalsystem eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. [...] Die Basis jenes Glücks aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Dasein viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. [...]

Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen großen Vorrat von Erkenntnissen für künftige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig tätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf für die kommende Zeit. [...] Bis zur [Pubertät] waltet im kindlichen Leib die Plastizität vor. [...] Dann folgt auf die vorwaltend theoretische, lernbegierige Kindheit das unruhige, bald stürmische, bald schwermütige Jünglingsalter, welches nachher in das heftige und ernste Mannesalter übergeht. Gerade weil im Kind jener unheilschwangere Trieb fehlt, ist das Wollen desselben so gemäßigt und dem Erkennen untergeordnet, woraus jener Charakter von Unschuld, Intelligenz und Vernünftigkteit entsteht, welcher dem Kindesalter eigentümlich ist.

Worauf nun die Ähnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen: im Überschuß der Erkenntniskräfte über die Bedürfnisse des Willens und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Tätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie und jedes Genie gewissermaßen ein Kind. Die Verwandtschaft beider zeigt sich zunächst in der Naivität und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des echten Genies ist: sie tritt auch außerdem in manchen Zügen an den Tag; so daß eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charakter des Genies gehört. In Riemers Mitteilungen über Goethe wird erwähnt, daß Herder und andere Goethe tadelnd nachsagten, er sei ewig ein großes Kind: Gewiß haben sie es mit Recht gesagt, nur nicht mit Recht getadelt. Auch von Mozart hat es geheißen, er sei zeitlebens ein Kind geblieben. [...]

Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines anderen als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Tun sehen. Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchwegs gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein; nur nimmermehr ein Genie. In der Tat ist das Genie es dadurch, daß jenes, dem Kindesalter natürliche, Überwiegen des sensiblen Systems und der erkennenden Tätigkeit sich bei ihm, abnormer Weise, das ganze Leben hindurch erhält, also ein perennierendes wird. Eine Spur davon zieht sich freilich auch bei manchen gewöhnlichen Menschen noch bis ins Jünglingsalter hinüber; daher zum Beispiel an manchen Studenten noch ein rein geistiges Streben und geniale Exzentrizizät unverkennbar sind. Allein die Natur kehrt in ihr Gleis zurück: Sie verpuppen sich und erstehen, im Mannesalter, als eingefleischte Philister, über die man erschrickt, wenn man sie in späteren Jahren wieder antrifft.

Und schließlich findet sich dort folgender Vorgriff auf die sogenannte Neotenie-These, die der holländischen Anatomen Louis Bolk erst hundert Jahre später ausarbeiten sollte; ebd., S. 454:

Das hier in Erwägung genommene Überwiegen des zerebralen Nervensystems und der Intelligenz in derOrang Utan Kindheit, nebst dem Zurücktreten derselben im reifen Alter, erhält eine wichtige Erläuterung und Bestätigung dadurch, daß bei dem Tiergeschlecht, welches dem Menschen am nächsten steht, den Affen, dasselbe Verhältnis in auffallendem Grad Statt findet. Es ist allmählich gewiß geworden, daß der so höchst intelligente Orang-Utan [...], wenn herangewachsen, die große Menschenähnlichkeit des Antlitzes und zugleich die erstaunliche Intelligenz verliert; indem der untere, tierische Teil des Gesichts sich vergrößert, die Stirn dadurch zurücktritt, und [die wachsenden Kammknochen] zur Muskelanlage den Schädel tierisch gestalten; [ während ] die Tätigkeit des Nervensystems sinkt und an ihrer Stelle eine außerordentliche Muskelkraft sich entwickelt, welche, als zu seiner Erhaltung ausreichend, die große Intelligenz jetzt überflüssig macht.
Auswahl: J. Ebmeier

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