Mittwoch, 27. März 2019

Verblöden durch Domestikation.

aus scinexx

Hunde: Dümmer durch Domestikation? 
Haushunde schneiden beim selbstständigen Lösen von Problemen schlechter ab als Wölfe 

Hunde haben durch ihre enge Beziehung zum Menschen offenbar einiges an Grips und Selbstständigkeit eingebüßt. Denn wenn sie allein ein Problem lösen sollen, verlieren sie schnell die Lust und blicken stattdessen hilfesuchend zum Menschen. Wölfe dagegen knobeln solange, bis sie es geschafft haben, wie ein Experiment belegt. Das Versagen der Hunde spricht dafür, dass die starke Ausrichtung auf uns Menschen ihre Problemlöse-Fähigkeiten hemmt, wie Forscher im Fachmagazin "Biology Letters" berichten. 

Hunde sind echte Menschenkenner: Sie folgen unseren Blicken, erkennen unser Lächeln und entnehmen unserer Tonlage selbst feine Nuancen unserer Stimmung. Doch diese Anpassung an den Menschen scheint nicht ohne Kosten zu sein. Bereits 2014 fanden Forscher heraus, dass Hunde schlechter zählen können als ihre wilden Verwandten, die Wölfe.


Monique Udell von der Oregon State University in Corvallis und ihre Kollegen haben nun ein weiteres Indiz dafür gefunden, dass Domestikation die Hunde in gewisser Hinsicht eher dümmer machte. In ihrem Experiment testeten sie, wie gut Wölfe und Hunde eine knifflige Aufgabe lösten. Dafür legten die Forscher im Beisein des Hundes eine Wurst in eine durchsichtige Plastikbox. Ihr Deckel ließ sich jedoch nur abziehen, wenn die Tiere an einem daran befestigten Seil zerrten.


Wölfe schaffen es, Hunde nicht 

Wie sich zeigte, lösten acht von zehn Wölfen die Aufgabe problemlos. Sie zerrten und bissen so lange an der Box herum, bis sie den Deckel erfolgreich abgezogen hatten. Nicht so die Hunde: Schon nach kurzer Zeit gaben sie auf und blickten sie hilfesuchend zu dem im Raum anwesenden Menschen. "Die Hunde verbrachten signifikant mehr Zeit damit, zum Menschen hinzusehen, als die Wölfe", berichten die Forscher.



Wölfe tüfteln solange, bis sie die Aufgabe gelöst haben.

Die magere Erfolgsbilanz: Von den zehn Haushunden schaffte es keiner, die Box zu öffnen, unter den zehn Hunden aus dem Tierheim gelang dies nur einem. Und dies änderte sich auch kaum, als der Mensch den Hunden Rückmeldung gab und sie aktiv zum Weitermachen ermunterte. Zwar beschäftigten sie sich dann länger mit der Box, von den 20 Hunden schafften es aber selbst dann nur vier Tierheimhunde und ein Haushund, an die Wurst heranzukommen.


Hilfe suchen statt selbstständig handeln 

Nach Ansicht von Udell und ihren Kollegen zeigt dies, dass Wölfe besser darin sind, unabhängig Probleme zu lösen. Diese Fähigkeit scheinen Hunde zumindest zum Teil eingebüßt zu haben. "Hunde sind hypersozial, verglichen mit ihren wilden Gegenparts", erklärt Udell. "Ihre erhöhte soziale Sensibilität könnte ihre Fähigkeiten zum unabhängigen Problemlösen stören."


Oder anders ausgedrückt: Hunde haben sich daran gewöhnt, sich auf den Menschen und seine sozialen Signale zu verlassen. Vor ein Problem gestellt, suchen sie daher bei ihm Hilfe, beispielsweise in Form einer erhellenden Geste. "Hunde könnten gelernt haben, in Abwesenheit klarer menschlicher Hinweise eher vorsichtig zu sein", meint Udell. "Das ist langfristig beim Zusammenleben mit Menschen sicher ein Vorteil."


Die Kehrseite ist allerdings, dass die Hunde auf sich allein gestellt weniger gut klarkommen als ihre wilden Verwandten. Wenn darum geht, Probleme selbstständig zu lösen, verlieren sie schnell die Lust. (Royal Society Biology Letters, 2015; doi: 10.1098/rsbl.2015.0489


(Royal Society, 16.09.2015 - NPO)


Nota. - Was das in der Konsequenz für die Pädagogik bedeutet, kann sich jeder selbst ausmalen. Da bedarf es keiner Interpretationshilfe.
JE

Montag, 25. März 2019

Und überall stehn sie unter Aufsicht.

Elisofon
aus derStandard.at, 24. März 2019,

Zoom-Kindermuseum 
"Buben bauen große, Mädchen kleine Dinge"
Kinder, die nicht mit der Schere schneiden können. Eltern, die es mit der Frühförderung übertreiben. Als Leiterin des Zoom-Kindermuseums hat Elisabeth Menasse-Wiesbauer Spielen und Lernen im Wandel beobachtet 

Interview von Peter Mayr, Karin Riss

STANDARD: Das Wiener Kindermuseum Zoom feiert 25-Jahr-Jubiläum. Wenn Sie zurückblicken, wie sehr haben sich die Kinder in all diesen Jahren verändert?

Menasse: Die gesamte Gesellschaft hat sich stark verändert. Beim Start 1994 war von Digitalisierung noch keine Rede. Ein Handy? Gab es kaum, für Kinder schon gar nicht. Ein Computer? Selten. Außerdem war die Bevölkerung vergleichsweise homogen und die Schulklassen weniger divers und bunt. Das hat sehr viel am Selbstverständnis der Kinder geändert.

STANDARD: Wie merken Sie das?

Menasse: Im Unterschied zu Erwachsenen sind Kinder heute viel mehr daran gewöhnt, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft zu tun zu haben. Das ist für sie mittlerweile völlig normal ...

STANDARD: ... wie auch die neuen Medien. Sind sie mehr Bereicherung oder nurmehr Konkurrenz?

Menasse: Neue Medien haben den Vorteil, dass sie Kindern Einblicke in andere Welten bieten. Gleichzeitig ist die analoge Welt sehr viel wichtiger. Es kommen Kinder zu uns, die manuell ziemlich ungeschickt sind. Sie wischen ständig über irgendeinen Bildschirm, basteln aber kaum noch. Auch in der Schule nimmt das ab, weil der Werkunterricht so eingeschränkt worden ist. Bei uns im Atelier fragen Kinder manchmal: "Kannst du mir das bitte schneiden? Ich kann das nicht." Da schwingt auch dieser Servicegedanke mit, dass das jemand anderer für einen erledigen soll.

STANDARD: Finden Kinder zu wenig Freiräume, wo sie sich ohne Erwachsene ausprobieren können?

Menasse: Die Freiräume werden immer kleiner. Weil Kinder zunehmend in institutioneller Betreuung sind, also in Kindergärten, Schulen, Horten. Dort sind sie ständig unter Aufsicht. Zusätzlich gibt es in Großstädten kaum Orte, wo sich Kinder frei entfalten und bewegen können. 


STANDARD: Das Museum als Großstadtrefugium?

Menasse: Das Kindermuseum bietet sicher gewissen Freiraum. Einmal haben wir Kinder gefragt, was sie von einer Führung halten würden. Da hieß es dann nur: Nein! Dann ist es ja wie in der Schule.

STANDARD: Sie sagen: Spielen ist die beste Form des Lernens. Das bedeutet aber, dass in den Schulen einiges falsch läuft.

Menasse: Spielen ist eine sehr effektive und individuelle Form des Lernens. Bei 25 Kindern in der Klasse ist das natürlich schwierig. Mittlerweile haben viele Volksschulen Elemente alternativer pädagogischer Konzepte übernommen, die auch aufs Spielen setzen. Aber kaum ist die Volksschule beendet, wird es wieder rigider.

STANDARD: Es gilt, den Lehrstoff unterzubringen.

Menasse: Die Schulreformen der letzten Jahre sind immer mehr in Richtung Evaluierung und Vergleichbarkeit gegangen, die Lehrkräfte werden mit Bürokratie auf Trab gehalten. Wenn sie ein Spezialgebiet begeistert, können sie das den Kindern kaum mehr vermitteln, weil so wahnsinnig viel Stoff abgehakt werden muss. Das ist eine Art Gleichschaltung und Entindividualisierung des Unterrichts. Ich kenne viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die darunter leiden.

STANDARD: Wie viel Wissen bringen Volksschulkinder heute mit?

Menasse: Die Unterschiede sind wahnsinnig groß. Das macht das Lehrersein auch so schwer. Es gibt Kinder aus gebildeten Familien mit großem Spezialwissen. Die kommentieren manchmal mit, als wären sie kleine Professoren. Und dann gibt es Kinder, die verstehen kaum die Anleitungen unserer Künstlerinnen und Künstler.

STANDARD: Stichwort Geschlechterrollen und Technik: Gibt es unterschiedliche Herangehensweisen von Mädchen und Buben?

Menasse: Ja, diese Unterschiede sind noch immer ein Thema – sehr. Ein Beispiel: Immer wieder stellen wir einen riesigen Tonhaufen in das Atelier. Daraus formen die Kinder Objekte. Was auffällt: Die Buben bauen groß – Burgen, Türme. Die Mädchen bauen kleine Dinge, die auch feinmotorisch viel komplizierter sind – Blumen etwa. Hier versuchen wir gegenzusteuern und beide Geschlechter für die jeweils andere Herangehensweise zu interessieren.

STANDARD: Wenn wir uns die Eltern anschauen: Hat sich deren Zugang in all den Jahren geändert?

Menasse: In der Anfangszeit des Zoom musste man ihnen genau erklären, dass die Kinder hier im Mittelpunkt stehen und sich alleine durch die Ausstellung bewegen können. Auch unser spielerischer Zugang war vielen Eltern fremd. Dann gab es eine lange Phase der Zustimmung zu unserem Konzept. Jetzt kippt das gerade wieder. Wir haben Eltern, die uns sagen: "Also ein bisschen mehr Wissen müsste man da schon vermitteln." Der Bildungsbegriff wird bei manchen wieder enger.

STANDARD: Ist das dem Leistungsgedanken geschuldet?

Menasse: Das hat hundertprozentig damit zu tun. Dass man die Kinder fit machen möchte fürs Leben. Nur bezieht sich in unserer Wissensgesellschaft der Leistungsgedanke vor allem darauf, was die Kinder an Faktenwissen haben. Ob sie geschickt sind oder wie es mit ihren sozialen Kompetenzen aussieht, das wird dabei leider unwichtiger. Manche Eltern wollen, dass wir ihren Vierjährigen den Nährstoffkreislauf erklären – und zwar wissenschaftlich exakt. Das ist dann wirklich schwierig. Es geht nämlich in dem Alter nicht. Aber Lernen ist ja auch etwas Intuitives. Kinder lernen auch, indem sie einfach etwas tun.

Elisabeth Menasse-Wiesbauer hat Geschichte, Psychologie und Philosophie studiert. Seit 2003 ist sie Direktorin des Zoom-Kindermuseums in Wien. Heuer geht sie in Pension. 


Nota. - Ja darf man* sich denn überhaupt so ausdrücken: "Buben bauen große, Mädchen kleine Dinge" - ohne wenigstens nachzuschieben, dass das natürlich ihrer eingeübten Großmannssucht und Selbstbeschei- dung geschuldet ist?! Aber immerhin: Gegensteuern will sie schon.

Spielen sei die beste From des Lernens? Na ja. Da kommt es wohl darauf an, was gelernt werden soll. Und auf alle Fälle ist lernen nicht der tiefere Sinn des Spielens. Spielen ist freie Betätigung der Einbildungskraft, und darum verträgt es sich nicht mit Beaufsichtigung. Es ist ganz falsch, dass im Unterricht mehr gespielt werden müsste. Spielen ist freie Tätigkeit, weil es zweck freie Tätigkeit ist. Das ist lernen nicht, es hat einen Zweck, sei es Wissen, seien es 'Kompetenzen'. Es ist nicht zuviel verlangt, dass Kinder diesen Unterschied kennenlernen.

Bleibt, dass sie zu freier Betätigung der Einbildungskraft heute immer weniger Gelegenheit und schon gar keine Anregung finden. Spielen ist wohl Bildung, aber kein Unterricht. Die Lösung ist daher nicht mehr Spiel in der Schule, sondern weniger Schule.
JE

Mittwoch, 20. März 2019

Sie bewegen sich kaum noch.


aus welt.de, 20. 3. 2019

Mädchen und Jungen bewegen sich im Alltag immer weniger

So viele Kinder wie nie zuvor sind Mitglieder in Sportvereinen. Doch eine Langzeitstudie zeigt: Die Bewegung im Alltag steigt dadurch nicht – im Gegenteil. Die Wissenschaftler führen das nur bedingt auf den wachsenden Medienkonsum zurück. 

Im Alltag bewegen sich Kinder und Jugendliche immer weniger – das gehört zu den neuesten Erkennt- nissen der Langzeitstudie „Motorik-Modul“ („MoMo“). Obwohl so viele Kinder wie nie zuvor in Sport- vereinen engagiert seien, könne dies den Bewegungsmangel im Alltag nicht ausgleichen, sagte der Karlsruher Sportwissenschaftler Alexander Woll, der die Studie betreut. „Unter dem Strich haben wir ein Minus an Bewegung.“

Seinen Angaben zufolge sank die körperliche Alltagsaktivität in der Altersgruppe der Vier- bis 17-Jährigen in den vergangenen zwölf Jahren um 37 Prozent und damit um 31 Minuten pro Woche.

 
Das sei aber nicht unbedingt dem drastisch steigenden Medienkonsum geschuldet: Erstaunlicherweise habe sich gezeigt, dass körperliche Aktivität und Mediennutzung nicht direkt miteinander zusammenhängen. Sprich: Kinder, die weniger daddeln, surfen oder auf sozialen Medien unterwegs sind, bewegten sich nicht zwangsläufig mehr, so Woll mit Blick auf den Kongress „Kinder bewegen“, der am Donnerstag beginnt.

Unterschiede zwischen Geschlechtern wachsen

Medienkonsum sei deswegen noch lange nicht harmlos, betonte Woll. „Spannend wäre zum Beispiel zu sehen, wie hoch die Sitzzeit ist bei den Kindern mit hohen Bildschirmzeiten. Da könnte ich mir dann sehr wohl vorstellen, dass Medienkonsum ein unabhängiger Risikofaktor ist für viele Zivilisationskrankheiten.“

Auffällig sei auch, dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern in den letzten sechs Jahren größer geworden sei. Mädchen schnitten in Sachen Bewegung deutlich schlechter ab als Jungen.

Die repräsentative Studie wertet alle drei Jahre Motorikdaten von zwischen 4500 und 6200 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus. Dabei werden die Daten im Längsschnitt verglichen – also dieselben Personen über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet. Zudem werden die Daten im Querschnitt betrachtet, indem Personengruppen immer desselben Alters verglichen werden. 



Nota. -  Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, in der Wichtigkeit, mit der sie über alles reden, was ihre Kinder betrifft, spräche sich eine Vergötzung der Kindheit als "das wahrere Leben" aus. Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie wurde Kindheit so eng als Vorbereitungszeit auf Später aufgefasst als heute, und wenn es heißt, Kinder müssten "zu allererst Kinder sein dürfen", dann ist gemeint: sich einen Vorrat an Fun zulegen, der sie für den künftigen Ernst des Lebens rüstet. Spielen ist Einüben von Kompetenzen; sinnvoll.

Rennen und Raufen ist das unnütze Gegenteil. Jungen werden sich immer mehr bewegen als Mädchen. Aber erwünscht ist es nicht, allenfalls geduldet, wenn in Hüpfburgen eingehegt. 

PS. Andreas Schleicher kennt im übrigen die Lösung: Wenn sonst nichts hilft, hilft im Zweifelsfall - die Ganztagsschule, was denn sonst?

JE 

 

Freitag, 8. März 2019

Der bildungsindustrielle Komplex.

vci
aus FAZ.NET, 8. 3. 2019*

Definiert Pisa, was Bildung ist? 
Leistungsmessungen wie der Pisa-Test werden von einem globalen Netzwerk diktiert, sagt der Soziologe Richard Münch. Der Pisa-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher, widerspricht. Ein Streitgespräch. 

Von Martin Wiarda
Herr Münch, in Ihrem neuen Buch warnen Sie vor einem „globalen bildungsindustriellen Komplex“. Die nationale Bildungspolitik werde davon abgehalten, nach ihrer bisherigen Logik zu arbeiten. An ihre Stelle sei ein globales Netzwerk getreten unter der Führung der OECD und anderer Akteure, mit dem OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher als einer der zentralen Figuren.

Richard Münch: In diesem internationalen Netzwerk konzentriert sich die Macht. Seine Akteure sind organisiert im sogenannten Pisa-Konsortium. Das sind die Agenturen und Unternehmen hinter dem internationalen Schulvergleichstest, der global umsatzstärkste Bildungskonzern Pearson gehört genauso dazu wie die größte Testfirma der Welt, der Educational Testing Service (ETS). Aber auch staatlich finanzierte Einrichtungen sind dabei, der australische Council for Educational Research zum Beispiel oder in Deutschland das Dipf – Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Es geht um die Beantwortung der Frage nach dem Wesen von Bildung, das anhand eines angloamerikanischen Modells von Basiskompetenzen beschrieben und mit Hilfe von eigens entwickelten Tests abgeprüft wird.

Herr Schleicher, wie fühlt man sich als Zentralfigur des bildungsindustriellen Komplexes?

Richard Münch ist Soziologe und hat zuletzt an der Universität Bamberg gelehrt, wo er weiterhin „Emeritus of Excellence“ ist. Er hat die Streitschrift „Der bildungsindustrielle Komplex“ vorgelegt.Richard Münch ist Soziologe und hat zuletzt an der Universität Bamberg gelehrt, wo er weiterhin „Emeritus of Excellence“ ist. Er hat die Streitschrift „Der bildungsindustrielle Komplex“ vorgelegt.

Andreas Schleicher: Ich weiß nichts von einem solchen Komplex. Pisa will die Bildungssysteme besser machen. Mit Macht oder Machtausübung von außen hat Pisa rein gar nichts zu tun. Es wird geleitet und finanziert von den Bildungsministerien der Mitgliedsländer, und die Entwicklung des Pisa-Tests geschieht unter der Leitung eines Gremiums führender Wissenschaftler, die von den teilnehmenden Staaten benannt werden. 

Münch: Natürlich braucht man für Pisa Wissenschaftler, um die Fragen zu designen. Aber um den Test in der Breite umzusetzen, braucht es die Schlagkraft der Agenturen und Unternehmen, und deren Rolle verselbständigt sich zwangsläufig. Irgendwann können die nationalen Bildungsministerien nur noch die Daten entgegennehmen – mitsamt den Empfehlungen, die daraus abgeleitet werden. Pearson selbst berichtete 2014 auf seiner Homepage wörtlich, dass es den Pisa-Test 2018 für die OECD entwickelt. 

Schleicher: Noch mal: Die Pisa-Tests werden von einer Expertengruppe entwickelt, in der alle Mitgliedstaaten vertreten sind, aber kein einziger Unternehmensvertreter. Technische Expertise wird später hereingeholt, um bestimmte Fragestellungen zu verfeinern, zu operationalisieren. Pearson etwa hatte als Teil des Pisa-Konsortiums 2015 und 2018 einen Auftrag für die Entwicklung der Rahmenkonzeption der Tests – mit einem Volumen von einem Bruchteil eines Prozents der Gesamtaufwendungen. Die Bildungsministerien bestimmen, was wo wie und von wem gemessen wird. Niemand anders, auch nicht die OECD. Und ganz sicher nicht die Industrie.

Münch: Sie tun so, als sei die OECD nur Moderator bei Pisa, und unterschlagen, dass Sie selbst zunehmend Empfehlungen über die Medien spielen. Die führen in den Ministerien dann zu Kurzschlussreaktionen.

Welche Kurzschlussreaktionen meinen Sie?

Andreas Schleicher ist Statistiker, leitet das Direktorat für Bildung bei der OECD und ist Internationaler Koordinator für die Pisa-Studien Er hat eine Waldorfschule besucht. Andreas Schleicher ist Statistiker, leitet das Direktorat für Bildung bei der OECD und ist Internationaler Koordinator für die Pisa-Studien Er hat eine Waldorfschule besucht  

Münch: Es fing damit an, dass die OECD aus Pisa schlussfolgerte, die Merkmale wirklich erfolgreicher Bildungssysteme seien mehr Schulautonomie, eine starke Leitung und zentrale Leistungstests. Wenn solche Botschaften verbreitet werden, gerät die Politik unter Druck, das auch umzusetzen. Das Ergebnis sieht man paradigmatisch in den Vereinigten Staaten, wo die Schulen bei weitem nicht so erfolgreich sind wie in Ostasien. Und warum? Weil ähnliche Schulmodelle abhängig von den kulturellen Unterschieden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Schleicher: Merken Sie, wie Sie sich selbst widersprechen? Sie behaupten, die OECD propagiere das amerikanische Modell. Gleichzeitig betonen Sie, dass Amerikas Schulsystem im internationalen Vergleich nicht besonders gut abschneidet. Was wir aber erst durch Pisa wissen. Seitdem wissen wir auch: Länder wie Finnland, Japan oder Portugal bekommen Schule besser hin. Und nein, die OECD hat keinem Land gesagt, es solle die Schulautonomie stärken. Aber offenbar ist das ein Faktor, der beispielsweise in Finnland wirkt. Das ist doch das Spannende, was Pisa geschaffen hat: eine globale Plattform, eine globale Plattform zum Austausch verschiedenster Lösungsansätze. Im Übrigen: Wenn Ihre These von der Allmacht von Pisa richtig wäre, Herr Münch, müssten wir überall dieselben Bildungssysteme haben. Haben wir aber nicht.

Münch: Natürlich hat jedes Bildungssystem seine eigene Tradition. Aber sie ist konfrontiert mit den Daten und den Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden. Deshalb werden die Schulsysteme nicht genau wie in Finnland oder China. Aber es werden Elemente übernommen. In Deutschland die Bildungsstandards, die Fokussierung auf die Kompetenzen im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften.

Schleicher: Die kompetenzorientierten Bildungsstandards kommen nicht von Pisa, sondern weil die deutsche Bildungspolitik gesehen hat: Viele Länder mit leistungsstarken Schulen haben verbindliche Bildungsziele, anstatt jede Schule jedes Ziel vor Ort neu erfinden zu lassen. Ich halte das für eine richtige Beobachtung und eine gute Schlussfolgerung.

Herr Schleicher, Sie betonen die Wissenschaftlichkeit von Pisa. Nun sagt Herr Münch allerdings auch, die Bildungsforschung sei eine „weitgehend angewandte Forschung und dadurch naturgemäß Dienstleistung für die jeweils herrschende politische Agenda.

Schleicher: Natürlich ist die Bedeutung der Bildungsforschung gestiegen – so wie die Bedeutung der empirischen Forschung insgesamt. Die Verknüpfungen zwischen Bildungspolitik, Bildungsforschung und Bildungspraxis sind enger geworden. Zum Glück, wie ich finde. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass der überwiegende Teil der Bildungswissenschaften heute angewandt ist. Im Gegenteil, viele Lehrkräfte beklagen, dass die Bildungswissenschaften immer noch zu weit entfernt sind von ihrem Alltag, zu abgehoben.

Münch: Wir haben es mit einem Monopol zu tun. Pisa hat auf globaler Ebene betrachtet die Daten und trifft bei ihrer Erhebung und Verarbeitung Selektionsentscheidungen, wodurch das, was als Bildung gilt, definiert wird. Und genau hier, in dieser engen Konzentration auf die Basiskompetenzen, liegt die Verknüpfung zur politischen Agenda, die einen Namen hat: New Public Management. Sie definiert das datengetriebene Kontrollregime, das ich vorhin beschrieben habe.

Wer setzt diese Agenda?

Münch: Dahinter stehen die Pisa-Macher, aber auch Ökonomen sind maßgeblich beteiligt. Man möchte ein System etablieren, in dem man das Versprechen von mehr Autonomie an umfangreiche Kontrollen bindet. Das ist in anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung genauso, auch an den Hochschulen gilt das.

Schleicher: Das New Public Management ist keine Erfindung der OECD, sondern entstand bereits in den achtziger Jahren, als noch keiner an Pisa dachte. Einen Kritikpunkt möchte ich aber annehmen: Die Tests haben im Moment einen zu engen Kompetenzbegriff als Grundlage, also einen zu starken Fokus auf Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist aber ein gutes Beispiel für den geringen Einfluss des OECD-Generalsekretariats im Verhältnis zu unseren Mitgliedstaaten. Hätten wir mehr zu sagen, würden wir mehr Gewicht auf soziale und emotionale Kompetenzen legen.

Stimmen Sie mit der These von Herrn Münch überein, dass Pisa als Ganzes mäßig erfolgreich war?

Schleicher: Ich weiß nicht, wie er darauf kommt. Vor 2000 gab es in Deutschland keine Debatte über frühkindliche Förderung in den Kitas, dafür gab es viele Leute, die sagten: „Mütter, die ihre Kinder in den Kindergarten geben, haben nicht deren Bestes im Sinn.“ Und glauben Sie, wir hätten ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen oder die Bestrebungen, Schüler mit Migrationshintergrund besser zu fördern? Vor Pisa haben die Bildungspolitiker auch hierzulande geglaubt, sie wüssten, was sie tun. Weil sie es immer schon so gemacht hatten und nichts anderes kannten. Der Status quo hat bis heute viele Unterstützer im Bildungssystem, und den hat Pisa in Frage gestellt.

Münch: Ja, aber um welchen Preis? Viele Länder sind nach 2000 in Richtung New Public Management umgeschwenkt und haben seitdem ausgerechnet in den Pisa-Tests immer schlechtere Leistungen erzielt. Großbritannien ist ein sehr gutes Beispiel dafür.

Schleicher: Es ist aber doch genau andersherum! Pisa hat die Methoden des New Public Managements in der Bildung eher in Frage gestellt, wie Sie selbst sagen, wenn Sie auf die schlechteren Ergebnisse Großbritanniens verweisen.

Herr Schleicher, Herr Münch kritisiert in seinem Buch, die OECD rede viel von der Autonomie der Schulen, doch faktisch habe Pisa dazu beigetragen, dass die Autonomie der Schulen geschrumpft sei.

Schleicher: Genau deshalb ist es schön, wenn man Daten hat. Die Frage lässt sich empirisch klar beantworten: Die Freiräume der Schulen in Deutschland sind in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewachsen. Nicht in allen Bundesländern gleichermaßen, aber in der Regel haben die Schulleitungen heute ein Mitspracherecht bei der Einstellung neuer Lehrer und auch bei der Frage, wen sie befördern wollen. Die Schulen können ihren Unterricht freier gestalten, die einzelnen Lehrkräfte können ebenfalls mehr selbst entscheiden.

Münch: Mal ehrlich, welche Freiheitsgrade haben Entscheidungen, die Schulen treffen, weil sie sich im Wettbewerb mit anderen befinden? Real bedeutet das Konzept der „eigenverantwortlichen Schule“ einen viel höheren Aufwand an Berichten, Dokumenten und Evaluationen. Echte, professionelle Autonomie würde bedeuten, dass man die natürliche Autorität der Lehrerinnen und Lehrer gelten lässt, dass man ihnen Freiheit lässt bei der Umsetzung des Curriculums.

Die Fragen stellte Martin Wiarda.


Nota. -  Bildungsindustrieller Komplex? "Ich weiß nichts von einem solchen Komplex." Leo Trotzki sagte in Hinblick auf die sich ausbildende Sowjetbürokratie: Die Bürokratie bebietet unerbittlich wie Jehova, du sollst meinen Namen nicht aussprechen.

Wissenschaftlich hat sich PISA selbst desavouiert, als es sich weigerte - bis heute -, nicht nur seine Auswertungen, sondern auch die erhobenen Daten, die ihnen zugrunde legen, an die Öffentlichkeit zu bringen. Man kann ihnen glauben oder nicht.
Warum sollte man?

PISA ist keine Einrichtung der Erziehungswissenschaften - das wäre zweifelhaft genug -, sondern der Regierungen und der Industrie. Es vertritt Interessen, aber das sind nicht die der Bildung, sondern die von Politik und Wirtschaft an Ausbildung für den Markt - den keiner vorausberechnen kann, doch um die Zukunft der heranwachsenden Generation geht es gar nicht, sondern um die kurz- und mittelfristigen Verwertungsbedingungen des Kapitals. Ausschuss mag es immer geben, aber das ist nicht dessen Sorge. 
 

Welches seine Erfolgskriterien sind, lässt Schleicher durchblicken: "Glauben Sie, wir hätten ohne Pisa den Trend zur Ganztagsschule bekommen?" Was PISAs übelste Giftbeule ist, liegt im ausschließlichen Interesse des bildungsindustriellen Komplexes. Dass die Ganztagsschule der Bildung nützt, hat seit Jahrzehnten nun schon keiner mehr zu behaupten gewagt, und dass unsere Schulhöfe ein Ort sozialen Lernens und der Integration von Migrantenkindern wären, trauen sie sich auch nur noch bei Gelegenheiten zu sagen, wo sie unter sich und sicher sind, dass von Mobbing und Gewalt keine Anwesender reden wird.

Und im übrigen hat noch nie einer behauptet, PISA wolle selber Macht ausüben. Die Macht, die PISA ausübt, indem es sie weiterleitet, ist die der Industrie.
JE