Sonntag, 8. April 2018

Kant über Schulreform.



Wie so viele Gelehrte seiner Zeit mußte sich auch Immanuel Kant in seinen Jugendjahren als “Hofmeister” (Hauslehrer) durchschlagen, ehe er eine Anstellung an der Königsberger Universität fand. Es habe wohl nie einen schlechteren Hofmeister gegeben als ihn, sagte er später. Aber das war wohl Koketterie. Seine Brotgeber und namentlich deren Kinder müssen es anders empfunden haben, denn sie blieben ihm über viele Jahre freundschaftlich verbunden.

Immerhin fällt auf, wie vergleichsweise uninspiriert Kants spätes Buch “Über Pädagogik”[1] geraten ist. Hat ihn das Thema nicht interessiert? Der Text wurde 1803 wenige Monate vor seinem Tod von Freunden herausgegeben, er selbst konnte schon nicht mehr daran mitwirken. Tatsächlich handelt es sich um Manuskripte zu einer Vorlesungsreihe, die Kant über Jahrzehnte immer wieder gehalten hat – notgedrungen: Preußens König brauchte Pastoren, die das Volk Ehrfurcht vor Thron und Altar lehrten, und so waren alle ordentlichen Professoren gehalten, reihum über Pädagogik zu lesen, was für ihre Studenten ebenso verbindlich war wie für die Lehrer. Vorschrift war auch, sich dabei an bewährte Lehrbücher zu halten. Kant wich in seinem Vortrag gelegentlich von den fremden Kompendien ab und bereicherte sie durch Einschübe aus seinen beliebten Anthropologie-Vorlesungen; z. B. Rousseau sagt: Ihr werdet niemals einen tüchtigen Mann bilden, wenn ihr nicht vorher einen Gassenjungen habt! Sein “eigenes” Werk ist seine ‚Pädagogik’ aber nicht. War ihm die Sache nicht wichtig genug?

Das Gegenteil ist der Fall. Nur war die Anteilnahme des “alleszermalmenden” Königsbergers an der Pädagogik nicht wissenschaftlicher, sondern unmittelbar praktischer Art!

Gezeichnet von der “Jugendsklaverei”, die er selber am Königsberger Fridericianum erdulden mußte, das vom Hallenser Pietismus geprägt war und wo man den kindlichen Sinn durch Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle brach, wurde er zu einem der lebhaftesten Propagandisten für Johann Bernhard Basedows “Philantropin” in Dessau. Über Jahre sammelte er Geld und rekrutierte Schüler. Wir dokumentieren hier einen Artikel, den er im Frühjahr 1776 unter dem Titel “An das gemeine Wesen” in den Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen veröffentlichte. In aufklärerischem Geist erwartet er von der Erziehung die Besserung der Menschheit. Er hofft auch noch auf eine ‚endgültige’ Schule, nämlich eine, die den Keim zur Selbsterneuerung in sich trägt. Doch schon der folgenden Generation galt die bürgerliche Nützlichkeits-Pädagogik der Philanthropiner als ein Irrweg. Ihr schärfster Kritiker war ausgerechnet ein ehemaliger Anführer der philosophischen Kant-Partei: Friedrich Immanuel Niethammer.[2]


Es fehlt in den gesitteten Ländern von Europa nicht an Erziehungsanstalten und an wohlgemeintem Fleiße der Lehrer, jedermann in diesem Stücke zu Diensten zu sein, und gleichwohl ist es jetzt einleuchtend bewiesen, daß sie insgesamt im ersten Zuschnitt verdorben sind, daß, weil alles darin der Natur entgegen arbeitet, dadurch bei weitem nicht das Gute aus den Menschen gebracht werde, wozu die Natur die Anlage gegeben, und daß, weil wir tierische Geschöpfe nur durch Ausbildung zu Menschen gemacht werden, wir in kurzem ganz andre Menschen um uns sehen würden, wenn diejenige Erziehungsmethode allgemein in Schwang käme, die weislich aus der Natur selbst gezogen und nicht von der alten Gewohnheit unerfahrener Zeitalter sklavisch nachgeahmt worden.

Es ist aber vergeblich, dieses Heil des menschlichen Geschlechts von einer allmählichen Schulverbesserung zu erwarten. Sie müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll: weil sie in ihrer ursprünglichen Einrichtung fehlerhaft sind, und selbst die Lehrer derselben eine neue Bildung annehmen müssen. Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution kann dieses bewirken. Und dazu gehört nichts weiter als nur eine Schule, die nach der echten Methode von Grunde aus neu angeordnet, von aufgeklärten Männern nicht mit lohnsüchtigem, sondern edelmütigem Eifer bearbeitet und während ihrem Fortschritte zur Vollkommenheit von dem aufmerksamen Auge der Kenner in allen Ländern beobachtet und beurteilt, aber auch durch den vereinigten Beitrag aller Menschenfreunde bis zur Erreichung ihrer Vollständigkeit unterstützt und fortgeholfen würde.

Eine solche Schule ist nicht bloß für die, welche sie erzieht, sondern, welches ungleich wichtiger ist, durch diejenigen, denen sie Gelegenheit gibt, sich nach und nach in großer Zahl bei ihr nach der wahren Erziehungsmethode zu Lehrern zu bilden, ein Samkorn, vermittelst dessen sorgfältiger Pflege in kurzer Zeit eine Menge wohl unterwiesener Lehrer erwachsen kann, die ein ganzes Land bald mit guten Schulen bedecken werden.

Die Bemühungen des gemeinen Wesens aller Länder sollten nun darauf zuerst gerichtet sein, einer solchen Musterschule von allen Orten und Enden Handreichungen zu tun, um sie [sic] bald zu der ganzen Vollkommenheit zu verhelfen, dazu sie in sich selbst schon die Quellen enthält. Denn diese Einrichtung und Anlage sofort in andern Ländern nachahmen zu wollen und sie selbst, die das erste vollständige Beispiel und Pflanzschule der guten Erziehung werden soll, indessen unter Mangel und Hindernissen in ihrem Fortschritt zur Vollkommenheit aufhalten, das heißt soviel: als den Samen vor der Reife aussäen, um hernach Unkraut zu ernten.

Eine solche Erziehungsanstalt ist nun nicht mehr bloß eine schöne Idee, sondern zeigt sich mit sichtbaren Beweisen der Tunlichkeit dessen, was längst gewünscht worden (…). Gewiß eine Erscheinung unserer Zeit, die, obzwar von gemeinen Augen übersehen, jedem verständigen und an dem Wohl der Menschheit teilnehmenden Zuschauer viel wichtiger sein muß, als das glänzende Nichts auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatze der großen Welt, wodurch das Beste der Menschheit, wo nicht zurückgesetzt, doch nicht um ein Haar weiter gebracht wird.

Der öffentliche Ruf und vornehmlich die vereinigten Stimmen gewissenhafter und einsehender Kenner aus verschiedenen Ländern werden die Leser dieser Zeitung[3] schon das Dessauische Educationsinstitut (Philantropin) als dasjenige einzige kennen gelernt [sic] haben, was diese Merkmale der Vortrefflichkeit an sich trägt, wovon es eine nicht der geringsten ist: daß es seiner Einrichtung gemäß alle ihm im Anfange etwa noch vorhandenen Fehler natürlicher Weise von selbst abwerfen muß. (…)

Diesem Institute nun, welches der Menschheit und also der Teilnehmung jedes Weltbürgers gewidmet ist, einige Hilfe zu leisten (welche einzeln nur klein, aber durch die Menge wichtig werden kann) wird jetzt die Gelegenheit dargeboten. Wollte man seine Erfindungskraft anstrengen, um eine Gelegenheit zu erdenken, wo durch einen geringen Beitrag das größt mögliche, dauerhafteste und allgemeine Gute befördert werden könnte, so müßte es doch diejenige sein, da der Samen des Guten selbst, damit er sich mit der Zeit verbreite und verewige, gepflegt und unterhalten werden kann.

Diesen Begriffen und der guten Meinung zufolge, die wir uns von der Zahl wohl denkender Personen unseres gemeinen Wesens machen, beziehen wir uns auf das 21. Stück dieser gelehrten und politischen Zeitung[4] (…) und sehen einer zahlreichen Pränumeration entgegen: von allen Herren des geistlichen und Schulstandes, von Eltern überhaupt, denen, was zur besseren Bildung ihrer Kinder dient, nicht gleichgültig sein kann, ja selbst von denen, die, obgleich sie nicht Kinder haben, doch ehedem als Kinder Erziehung genossen und eben darum die Verbindlichkeit erkennen werden, wo nicht zur Vermehrung, doch wenigstens zur Bildung der Menschen das Ihrige beizutragen.

Auf diese von dem Dessauischen Educationsinstitut herauskommende Monatsschrift unter dem Titel Pädagogische Unterhandlungen wird nun die Pränumeration mit 2 Reichstalern 10 Groschen unseres Geldes angenommen. (…) Denn gedachtes Institut macht sich die Hoffnung: daß es viele edeldenkende Personen in allen Ländern gebe, die eine solche Gelegenheit willig ergreifen würden, um bei dieser Veranlassung über das Pränumerationsquantum noch ein feiwilliges kleines Geschenk (…) hinzuzufügen. Denn da (…) die Regierungen jetziger Zeit zu Schul- verbesserungen kein Geld zu haben scheinen, so wird es doch endlich, wofern solche nicht gar ungeschehen bleiben soll[en], auf bemittelte Privatpersonen ankommen, die so wichtige allgemeine Angelegenheit durch großmütigen Beitrag selbst zu befördern. Die Pränumeration hiesigen Orts wird bei Herrn Prof. Kant in den Vormittagsstunden von 10 bis Nachmittag gegen 1 Uhr und in der Kanterschen Buchhandlung[5] zu aller Zeit gegen Pränumerationsschein abgegeben.
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[1] in: Immanuel Kant, Werke (Hg. Weischedel), Bd. XII, Frankfurt/M 1968

[2]Fr. I. Niethammer, Der Streit des Philanthropinismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts (1808; neu: Weinheim 1968) – Nachfolger auf Kants Königsberger Lehrstuhl war 1809-1833 übrigens Joh. Fr, Herbart, der Begründer der ‚wissenschaftlichen’ Pädagogik.

3]In den “Königsberger gelehrten und politische Zeitungen”, in denen Kants Aufsatz erschien, hatten auch andere namhafte Autoren für das Philanthropin geworben.
[4]die Ausgbe vom 13. März 1776 enthielt eine Vorankündigung der Basedow’schen Zeitschrift
5]Kants Wohnadresse und Vorlesungssaal

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