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aus derStandard.at, 21. April 2018, 08:00
Kommen die Klugen zu kurz?
Geht
es im Schulalltag wirklich nur noch – wie es derzeit scheint – um
Deutschförderklassen und Kopftücher? Auch in anderen Bereichen zeigt die
Bildungspolitik Schwächen, etwa bei der Förderung von Talenten. Dafür
braucht es nicht nur Einzelinitiativen, sondern einen
Perspektivenwechsel.
von Karin Riss
Wir diskutieren über Kopftücher, getrennte
Klassen für Kinder mit Sprachproblemen und aggressives Verhalten auf dem
Schulhof. Wir suchen nach Erklärungen für schlechte Leseleistungen und
Ahnungslosigkeit in Mathematik und beklagen das Desinteresse der Jugend.
Einmal abgesehen davon, dass sich gerade der Bildungsbereich nicht zum
Pauschalisieren eignet: Reicht das? Kümmern wir uns mit der gleichen
Intensität um die ... äh, wie nennt man sie am unverfänglichsten ...
Überflieger? Wunderkinder? Klugen Köpfe? Leuchten? Hochbegabten?
Wer nach Antworten sucht, lernt schnell: derzeit nicht.
Mehr als Intelligenz
Dabei
geht es nicht um ein Randphänomen, wie der nicht mehr zeitgemäße
Begriff "Hochbegabte" suggeriert: 15 bis 20 Prozent aller Schüler (und
damit über 200.000 Kinder in Österreich) haben laut Wissenschaft das
Potenzial zu hohen Leistungen, wenn die Förderbedingungen passen. Wenn
sie passen.
Bernhard Görg, vor vielen Jahren schwarzer
Vizebürgermeister in Wien, hat schon früh für die Interessen dieser
Kinder gekämpft und im vierten Bezirk eine Schule für besonders begabte
Kinder mitbegründet – die Popper-Schule, benannt nach dem Philosophen
Sir Karl Popper. Damals, 1998, war die Stimmung beim Thema
Begabungsförderung ideologisch viel aufgeladener, erinnert sich Görg:
"Es gab einen Sturm der Entrüstung, auch in Ihrer Zeitung!" Heute gilt
die Art und Weise, wie "die Popperln" lernen, über Parteigrenzen hinweg
als vorbildlich: mit Modulsystem, Sprachenschwerpunkt, "Science",
individualisiertem Lernen und Feedback-Beurteilungen.
Mit diesem
Schulprofil ist die Popper-Schule auch Teil der Initiative "Schule im
Aufbruch", eines Zusammenschlusses von Schulreformern und solchen, die
es werden wollen. Mit der Berliner Schulgründerin Margret Rasfeld und
dem deutschen Hirnforscher Gerald Hüther als Vordenkern folgt man hier
einer sehr weiten Definition von Begabungsförderung – und doch passt die
Popper-Schule wunderbar ins Konzept. "Jedes Kind ist hochbegabt",
postuliert der Neurologe Hüther landauf, landab, auch in zahlreichen
Büchern – und sei es im Kirschkernspucken oder Bäumeklettern. "Bei uns
machen Schulen mit, bei denen es eine Lernkultur der Potenzialentfaltung
gibt", formuliert es Martin Ruckensteiner aus dem Kernteam der
Initiative. Gemeint ist nichts anderes als: es jedem Einzelnen zu
ermöglichen, seine individuellen Fähigkeiten zu entdecken, auszubilden
und zu schärfen und damit den Grundstein für ein freudvolles Leben zu
legen. "Das könnte genauso gut auch Begabungsförderung heißen", sagt
Ruckensteiner.
Wenn Begabungsförderung so definiert wird, braucht
sich selbst die Politik nicht mehr davor zu fürchten. Also hatte sich
bereits die rot-schwarze Vorgängerregierung vorgenommen, mehr Augenmerk
auf diesen Bereich des Bildungssystems zu legen. ÖVP und FPÖ
haben sich jetzt sogar eine "Begabtenförderungsstrategie" samt
"standardisiertem Talentecheck" für alle Schüler in der dritten Klasse
Volksschule ins Programm geschrieben. Und: Die Popper-Schule soll es
künftig in jedem Bundesland geben.
In den vergangenen 15 Jahren
sei das Augenmerk der Politik jedenfalls sicher nicht auf der
Begabungsförderung gelegen, weiß man beim vom Bildungsministerium
finanzierten Begabtenzentrum. Man fühlt sich gar als "Stiefkind"
bildungspolitischer Ambitionen. Und, mindestens ebenso frustrierend für
Geschäftsführerin Claudia Resch: Eine zwei Jahre zurückliegende
Befragung unter Lehrerausbildnern an pädagogischen Hochschulen ergab,
dass sie weder ausreichend facheinschlägiges Wissen über
Begabungsförderung besitzen noch das Thema als besonders wichtig
erachten. Wie bitte? Wo, wenn nicht hier, an den Orten der Inspiration
und Ausbildung künftiger Pädagogengenerationen, soll das Thema Bedeutung
besitzen?
Abgehängt
Bei Pisa, dem internationalen
Bildungsvergleichstest, hat das dann unter anderem solche Ergebnisse zur
Folge: Die Gruppe der Spitzenschüler wird immer kleiner. Der Anteil
jener Jugendlichen, die in mindestens einem der drei Testgebiete
Naturwissenschaften, Mathematik und Lesen Spitzenleistungen erbracht
haben, ist von 2005 bis 2015 um fünf Prozent gesunken. Bei der
Lesestudie Pirls, an der heimische Viertklässler zuletzt vor zwei Jahren
teilgenommen haben, lag der Anteil besonders guter Leser bei acht
Prozent – und damit im EU-Vergleich im unteren Drittel.
In
Österreich gilt immer noch: Ob eine Begabung erkannt wird, hängt stark
vom Engagement einzelner Lehrkräfte oder schlicht vom Zufall ab.
Manchmal werde das Potenzial eines Kindes erst durch eine Testung auf
ADHS, also Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, bekannt, heißt
es aus dem Begabungsförderzentrum des Wiener Stadtschulrats. Bei
Mädchen sei es besonders schwierig, Begabungen zu erkennen, weiß dessen
Leiterin Angelika Engel, "die passen sich meist dem Können ihrer
Freundinnen an".
Getestet werden dürfen Kinder übrigens nur von
Psychologinnen und Psychologen. Eine von ihnen ist Stefana
Holocher-Ertl, sie leitet das Kinderpsychologische Zentrum an der
Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien. Ihr Diagnosemodell für
Hochbegabte ergänzt den Faktor Intelligenz um Aspekte wie die
Frustrationstoleranz eines Kindes, seine Ausdauer, aber auch ob es in
Familie und Schule Unterstützung bekommt.
Begabung als Ressource
Dass
hochbegabte Kinder sozial auffällig wären, kann sie mit Verweis auf
Studien entkräften. Die Psychologin sagt: "Grundsätzlich geht man davon
aus, dass eine hohe Begabung eine Ressource ist. Schwierig wird es nur
dann, wenn ein solcher Mensch im Sozialen als ‚anders‘ wahrgenommen
wird, Ausgrenzungserfahrung macht."
Auch das Bild vom
nickelbrillentragenden Wunderwuzzi ist so klischeehaft wie unzutreffend:
"Kinder können eine Hochbegabung und gleichzeitig eine Rechenschwäche
haben", sagt Holocher-Ertl. Ganz grundsätzlich gilt: Was hochbegabte
Kinder auszeichnet, ist oft eine Kombination aus hohem Detailwissen,
guter Sprachfähigkeit, schneller Auffassungsgabe und der Fähigkeit zum
vernetzten Denken.
Was also tun, wenn das Potenzial zu
außergewöhnlichen Leistungen festgestellt wird? Enrichment und
Akzeleration heißt die Zauberformel für sensibilisierte Pädagogen:
Schülern die Möglichkeit zur Vertiefung bieten (etwa in
leistungshomogenen Gruppen, mithilfe frei gewählter Inhalte) mit der
Option auf einen beschleunigten Lauf durch das Curriculum.
"Drehtürmodell" nennt sich ein solch flexibilisierter Unterricht – im
Kleinsten kann das bedeuten, dass ein Kind sich innerhalb des
Klassenraums mit einem Spezialthema beschäftigt. Es kann aber auch so
weit gehen, dass Schüler in einem Fach bereits eine höhere Klasse
besuchen oder nebenbei studieren.
In Oberösterreich setzt man seit
2006 auf außerschulische Zusatzförderung. Lehrerinnen der dritten
Klasse Volksschule werden angehalten, Kinder zum Test für Hochbegabung
zu motivieren. Wer hier auffällt, wird von der Stiftung Talente, einer
Kooperation zwischen Land und privaten Finanziers, mit Klubs und Kursen
versorgt. "In diese Tiefe kann Schule gar nicht gehen", ist Erika Racher
von der Stiftung überzeugt.
Beim Begabtenzentrum verfolgt man
einen ähnlichen Ansatz und wünscht sich, dass die Tätigkeit der Vereine
endlich in Zusammenhang mit Begabungsförderung gewürdigt werden sollen.
Im Mix mit entsprechend individualisiertem Unterricht könnte das ja zum
massentauglichen Zukunftskonzept werden! Und den scheinbaren Widerspruch
von Integrationspolitik und Begabungsförderung überwinden – etwa durch
mehr Lehrpersonal mit interkulturellen Kompetenzen.
Nicht nur Superstars
Eltern,
die auch in der Schule das Beste für ihre Kinder wollen, landen mit
entsprechendem Zahlungswillen in Wien zum Beispiel im Theresianum. Oder
bei den Schotten. Bei Josef Harold, dem Direktor des Schottengymnasiums,
stapeln sich die Bewerbungen bildungshungriger Familien. Überschießende
Erwartungen will man hier aber dämpfen: "Wir wollen nicht aus jedem
Kind einen Superstar machen."
Was Eltern hier, an den Horten
traditioneller akademischer Bildung, zu suchen scheinen, wünscht sich
Görg im Großen, von einer Art Bewegung: "Die Eltern müssten am Tor der
politisch Verantwortlichen rütteln und ein Schulprojekt wie jenes an der
Popper-Schule einfordern" – an jeder Schule. Das Sensationelle sei dort
nämlich nicht, dass es lauter Hochbegabte gebe, "das Sensationelle ist
der Unterricht".
Nota. - Wenn irgendwo ins Auge springt, dass auch die beste Schule nur eine Notlösung wäre, dann ist es das Thema Begabtenförderung. Die Schule ist eine große Organisation, die muss verwaltet werden, und ihr Maßstab ist unvermeidlich der Durchschnitt. Das kann man ihr nicht abgewöhnen. Eher sollte man nach Wegen suchen, uns die Schulen abzugewöhnen.
Denn brachgelegte Begabungen veröden nicht nur das Leben vieler Kinder. Sie veröden die ganze Gesellschaft.
JE
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