Samstag, 31. März 2018

Seit wann Pädagogik eine Wissenschaft sein will.

Kritische Ausgangslage
Der Mensch wird nur durch Erziehung zum Menschen.
Herder
 Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt.  
Alles entartet unter den Händen des Menschen.
Rousseau

Nicht von ungefähr hat Herder seine Ideen zu Papier gebracht.[1] Anlaß war das literarische Großereignis des europäischen 18. Jahrhunderts. Kein anderes Buch hat je die Gemüter seiner Zeitgenossen so ergriffen wie Rousseaus Émile.[2] Die Parole ‚Zurück zur Natur’ steht dort zwar nirgends geschrieben. Wie anders hätten seine Leser den Gedanken, daß alles gut war, als es aus der Hand des Schöpfers kam, und erst durch den gesellschaftli- chen Verkehr und seine Traditionen (alias Kultur) korrumpiert worden sei, aber verstehen sollen! „Die erste Er- ziehung muß also rein negativ sein“, lautete die Konsequenz – „nämlich nichts tun und verhüten, daß etwas ge- tan wird“.[3] Herders trotzige Antwort war, daß „unser Geschlecht nur durch unser Geschlecht gebildet“ werde – „und wie könnten wir dies besser als Überlieferung nennen?“[4]
 

Im Lebenswerk Rousseaus hatte sich das kritische Prinzip der Aufklärung gegen sie selber gewendet. Es hat seine eigne Ironie, wie ihr Grundgedanke von der Allmacht der Erziehung prompt bei einem unserer drei großen Anti- aufklärer[5] ein neues Zuhause fand – und sich dabei zur bloßen Tradition beschied. Ebenso ironisch ist es, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Fragen der Pädagogik durchaus nicht bei deren Apologeten ihren Ausgang nahm, sondern bei den Kritikern. 



Daß ‚die Praxis’ von alleine ‚zur Theorie drängt’, ist eine Legende. Solang es geht, wird sie sich auch vor neuen Herausforderungen mit dem Spiel von Versuch und Irrtum begnügen. Damit Erziehung in den Bereich wissen- schaftlichen Denkens geriet, mußte auf Seiten der Wissenschaft das Interesse – ein logisches wie ein sachliches – erwachsen sein, auch diesen Ausschnitt der Welt zu vereinnahmen. Mit andern Worten, Wissenschaft mußte be- ginnen, sich zur öffentlich allzuständigen Instanz zu bilden, indem… die Wissenschaftler begannen, sich als gesellschaftlicher Stand festzusetzen. 

Descartes hatte mit seiner Unterscheidung der Zwei Substanzen[6] die Physik aus den Fesseln der Theologie be- freit und der Naturwissenschaft einen gewaltigen Aufschwung beschert. Aber er hatte einen Zwiespalt in die Welt gesetzt, der das Denken beunruhigte. Spinoza[7] hatte den Zwiespalt behoben, indem er die res cogitans ihrerseits als extensa, oder richtiger: als ‚sich ausdehnend’ definiert hatte.[8] Doch in dieser more geometrico rekonstruierten Welt war alles nur ‚Gesetz’ und ‚Determination’. 

Die Individualität, die doch, diesseits aller theoretischen Kon- und Rekonstruktion, zu den lebenspraktisch vor- dringlichen Realitäten gehört, ging unter. Das ‚Ich’ in eine mathematisch erfaßte Welt wieder einzuführen, war das Hauptanliegen von Leibniz.[9] Außer einer ausgedehnten, unendlich teilbaren Materie müsse es wohl noch „wesentliche Einheiten“ geben, die den toten Stoff zu etwas Wirklichem formen. „Man könnte sie metaphysische Punkte nennen: sie haben etwas Lebendiges und eine Art Wahrnehmung“.[10] Die charakteristische Form ihrer Wahrnehmung ist die mathematische: weil „bei der ersten Hervorbringung der Dinge eine gewisse göttliche Mathematik oder ein metaphysischer Mechanismus zur Anwendung kommt“.[11] Diese ‚Monaden’[12] sind geistige Einheiten und sind das eigentlich Reale. 

Diese Metaphysik war gewaltsam konstruiert, und Leibniz macht kein Hehl daraus, daß sie weniger auf Gründen beruht als auf Motiven: Sie kommt ihm „vorteilhaft“ und „schön“ vor.[13] Doch läßt sie sich nachträglich recht- fertigen, indem man sie zu einem – gewissermaßen selbsttragenden – logischen System ausbaut: Wenn alle Teile zusammenpassen, muß das Ganze wohl stimmen. Diesen Ausbau besorgte Christian Wolff,[14] der damit in Deutschland zum beherrschenden Denker seines Jahrhunderts wurde. Rationalismus hieß: die Welt mit Worten ausmessen – und das war „Aufklärung“! Die zahllosen Adepten des ‚Wolff-Leibniz’schen Systems’ machten sich über jeden Winkel der Welt und der Vorstellung her und meinten, eine Sache begriffen zu haben, sobald sie sie definieren konnten. Seither bedeutet Vernunft in Deutschland: sehr, sehr viele Wörter.



[1] J. F. Herder, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, (1784-91) Darmstadt 1966 
[2] J.J. Rousseau, Émile ou De l’éducation (Amsterdam 1762); dt. Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1971 
[3] ebd, S. 72f. 
[4] Herder aaO, S. 228; 227 
[5] neben Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi 
[6] s. hierzu J. Ebmeier, Die Grenzen der pädagogischen Vernunft in PÄD Forum: unterrichten erziehen, Heft 3/03, S. 173f. 
[7] Benedictus (Baruch) de Spinoza, holländischer Philosoph und Optiker; 1632-1677 
[8] Die sich-selber-zur-Welt-ausdehnende denkende Substanz ist niemand anders als ‚Gott’, deus sive natura, und „die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dasselbe (idem est) wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge“; in: Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata, (dt./lat.): Die Ethik, Stgt. 1977 (Reclam), II. Teil, 7. Lehrsatz; S. 122f. 
[9] Gottfried Wilhelm Leibniz, dt. Philosoph und Mathematiker; 1646-1716 
[10] Leibniz, Neues System der Natur in: ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, Stgt. 1966 (Reclam), S. 23 
[11] ebd, S. 42 
[12] von gr. monás: Einheit 

[13] Leibniz aaO, S. 33 

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