Selbstorganisiert in der Schule
Lerne zu lernen!
Selbstorganisiertes Lernen soll Schüler motivieren und ihnen Eigenverantwortung beibringen. Das Konzept ist umstritten. Sicher ist, dass es Schulbetriebe flexibler macht.
von Robin Schwarzenbach
Ein Montagmorgen im «Lernatelier» der Sekundarschule Pratteln: Der Raum ist grösser als die übrigen Klassenzimmer und bietet Platz für bis zu drei Klassen. Die Schüler haben einen eigenen Arbeitsplatz, den sie zwar schmücken dürfen, der vorne, links und rechts aber mit einem Sichtschutz versehen ist – damit sich jeder konzentrieren kann. Francesco Rizzo beschäftigt sich gegen Ende dieser Doppelstunde mit Deutsch und Mathematik. Der Zwölfjährige arbeitet eine Liste mit Pluralformen durch; dann widmet er sich einem Papier, das Aufgaben mit verschiedenen Längenmassen bereithält. Wenn er fertig ist, macht er auf seinen Kann-Listen einen Haken («Ich kann Nomen verlängern, um die richtige Schreibweise herauszufinden», «Ich kann Längenmasse verwandeln»).
Was Francesco sich konkret vornimmt und wie er seine Zeit einteilt im «Lernatelier», muss er selber entscheiden. Lehrer sind zwar ebenfalls anwesend in dem Raum. Doch sie halten sich zurück. Anweisungen an alle sind keine zu vernehmen. Überhaupt ist es auffallend still. Abgesehen von gelegentlichem Flüstern halten sich die Schüler an die Regel, die absolute Ruhe verlangt. Selbstorganisiertes Lernen nennt sich das Konzept, von dem hier die Rede sein soll und das in der Schweizer Bildungslandschaft mitunter für hitzige Debatten sorgt. Schulen, die sich diesem Ansatz komplett verschrieben haben, werden besonders kritisiert – nicht zuletzt von Lehrern, die mit solchen Modellen gar nichts anfangen können.
- Auch kleinere Klassen nützen nur den Durchschnittsschülern.
- Die ideale Schule gibt es nicht, weil die Schule selbst kein Ideal ist.
«Die sozialromantische Vorstellung à la ‹Meine Schüler – meine Klasse› führt bei uns ins Leere», sagt Gregory Turkawka, Schulleiter der Sekundarschule Niederhasli im Kanton Zürich. In Niederhasli gibt es keine Klassenstrukturen mehr. Als Wissensvermittler treten die Lehrer nurmehr in vergleichsweise kurzen, klassenübergreifenden Inputlektionen in Erscheinung. Den grossen Rest der Zeit verbringen die Schüler in einer Umgebung, die mit dem «Lernatelier» in Pratteln vergleichbar sein dürfte. Der Unterschied: Klassischen Unterricht gibt es in der Baselbieter Sekundarschule nach wie vor. Mathematik, Deutsch, Geschichte, Geografie und Fremdsprachen werden weiterhin in Klassenverbänden unterrichtet. Danach müssen die Schüler den Stoff aufbereiten, indem sie sich in Eigenregie an ihre Zielvorgaben machen. Der Fachunterricht in diesen Disziplinen beläuft sich auf ein Drittel. Ein weiteres Drittel der Wochenstunden arbeiten die Schüler für sich. Hinzu kommen Lektionen in den Fächern Biologie, Chemie und Physik, die im «Lernatelier» sehr selten bearbeitet werden.
Der Vergleich der beiden Schulen zeigt: Selbstorganisiertes Lernen kann verschieden interpretiert werden. Die Sekundarschule Pratteln, die das Modell im vergangenen Jahr eingeführt hat, hat sich unter anderem auch in Niederhasli kundig gemacht. Am Ende indes entschieden sich die Baselbieter für eine weniger radikale Variante. Beraten wurden beide Schulen von einer privaten Einrichtung aus Deutschland, die ihre Vorstellungen von selbstorganisiertem Lernen als Marke verkauft und sich damit offenbar finanzieren kann auf dem Weiterbildungsmarkt.
Wer hat, dem wird gegeben
Worum geht es? Das pädagogische Konzept geht davon aus, dass Eigenständigkeit im herkömmlichen Unterricht im Klassenzimmer zu kurz kommt. Darüber hinaus machen sich Sekundarschulen schon seit längerem Gedanken, was Unternehmen von künftigen Mitarbeitern erwarten. Disziplin, Motivation und Verantwortungsbewusstsein sind laut einer Studie von Economiesuisse besonders gefragt. Und genau in diesen Kategorien schneiden Schulabgänger schlecht ab. Diese unbefriedigende Situation hat dazu beigetragen, dass sich manche Schulen hinterfragen und zum Teil neue Wege gehen. Schüler sollen lernen, eigenständig zu handeln. Francesco Rizzo zum Beispiel muss selber wissen, wie er seine Aufgaben angeht im «Lernatelier» in Pratteln.
Denn dort fungieren die Lehrer nurmehr als Coach: Bei inhaltlichen Problemen stehen sie zwar zur Verfügung, doch dabei geben sie vor allem Tipps, wie die Jugendlichen selber weiterkommen könnten – sofern sie überhaupt gefragt werden. Francesco jedenfalls findet das «Lernatelier» gut. Seine Motivation stimmt. Er sagt, er mache lieber alles in der Schule fertig. Denn dann habe er mehr Freizeit. Und: «In der Primarschule haben mich die Schwächeren eher gestört.»
Es scheint einleuchtend, dass gute Schüler von solchen Unterrichtsmodellen profitieren. Die weniger guten hingegen dürften mehr Mühe haben. Auch das zeigt sich beim Augenschein in Pratteln, als sich ein Schüler einer Zweier-Gruppe anschliesst, die draussen auf dem Gang das Französisch-Lehrbuch aufgeschlagen hat. Statt wie vorgesehen an den Unterlagen orientiert sich der Knabe direkt an den Lösungen seiner beiden Kollegen – und übernimmt auch deren Fehler.
Die Problematik ist bekannt. Es gebe Schüler, denen man täglich unter die Arme greifen müsse, und solche, die das gar nicht nötig hätten, sagt Gregory Turkawka von der Sekundarschule Niederhasli. Für den Schulleiter ist das jedoch keine Schwäche, sondern vielmehr eine Stärke des Konzepts. Denn: Da die Mehrheit der Schüler selbständig arbeiten kann, haben die Lehrer umso mehr Zeit, denjenigen zur Seite zu stehen, die auf Unterstützung angewiesen sind.
Lehrer als Team
Die Voraussetzungen für eine enge Betreuung der Schwächsten hält Turkawka für besonders günstig. Schliesslich würden die Lehrer von der Kleinarbeit, die Klassenführung mit sich bringe, ebenfalls entlastet – eine Einschätzung, die umstritten ist (siehe Interview). Konrad Saameli, Deutsch- und Mathematiklehrer in Pratteln, sagt: «Noch neigen wir dazu, alles kontrollieren zu wollen.»
Die Vorteile auf der organisatorischen Ebene scheinen klarer. Im ‹Lernatelier› in Pratteln werden meist mehrere Klassen von mehreren Lehrpersonen beaufsichtigt. Das macht den Betrieb flexibel. Fällt ein Lehrer aus, kann die Schulstunde trotzdem in der gewohnten Form stattfinden. Fixe Zuständigkeiten gibt es nicht. Die Lehrer verstehen sich als Team – was allerdings die Bereitschaft voraussetzt, auch hier ein Stück weit loszulassen und sich offen zu zeigen für neue Ideen. So kann es sein, dass pädagogische Fragen diskutiert werden, die früher nicht zur Sprache kamen, da jeder Lehrer für sich und hinter verschlossenen Türen unterrichtete. Doch was ist, wenn Lehrer, pardon, wenn Coachs in Fächern weiterhelfen sollen, die sie gar nicht unterrichten? Was ist, wenn sich Coach und Schüler über Dinge unterhalten, von denen die ganze Klasse profitieren würde?
Selbstorganisiertes Lernen soll auch zur Reflexion anregen. Doch was ist, wenn solche Gespräche gar nicht stattfinden, da die meisten Jugendlichen nicht in der Lage sind, die entsprechenden Fragen zu stellen? All das wäre zu diskutieren. Der Trend indes scheint klar. Die Universität Zürich etwa hat ein Forschungsprojekt zum Thema lanciert. Es interessieren vor allem Schulen, die personalisierte Lernformen bereits praktizieren – und andere Schulen inspirieren sollen.
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