Berlin, den 19. 10.
2000
Lieber
Herr Professor P.,
während
unseres Gesprächs über die Wissenschaftlichkeit der Pädagogik habe ich mich
dazu hinreißen lassen, das Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur Erziehungskunst
zu vergleichen mit dem Verhältnis der Musik- wissenschaft zur Tonkunst. Das muss
ich nach längerem Nachdenken revidieren!
Der
Vergleich stammt übrigens von Herbart, der selber komponiert hat und also wusste,
wovon er sprach. Unter seinen Prämissen stimmt der Vergleich auch. Aber die Prämissen
sind falsch!
Musik
und Musikwissenschaft verfügen [sic] über ein physikalisches Substrat, den Ton.
Es gibt ein Fachgebiet namens Psychoakustik; da wird experimentell
nachgewiesen, welche Signale wie übers Ohr ins Gehirn gelangen und dort als 'Musik' wahrgenommen werden.... Am Ende kann man sagen: Wenn du mit den Tönen
'dieses und jenes' anstellst, dann bekommst du eine Violinsonate (denn beachte:
die Musik verfügt [sic] über Instrumente - die sich noch nach Hunderten von
Jahren exakt kopieren lassen; wenn auch nicht ihr ästhetischer 'Effekt').
Und
wenn man keine Violinsonate will, dann darf man 'dieses und jenes' eben nicht
anstellen. Übrigens: Was eine Violinsonate ist, unterliegt einer
historisch-kulturellen („geschmacklichen“) Setzung. Kann man bis Reger noch von
„Sonatenform“ reden? Ab Webern schon nicht mehr? Usw. Aber das macht nichts: Es
bleibt ja alles immanent! Es kommt aus der Musik und bleibt in der Musik. Wer
Musik nicht hören will, darf getrost drauf pfeifen.
Die
Pädagogik verfügt über kein physikalisches (oder sonst irgend objektivierbares)
Substrat. Sie hat keine 'Instrumente' (sondern Institutionen, und die sind
nicht kopierbar*! Und sagen Sie nicht, der Rohrstock sei ein Instrument: Der
ist völlig unspezifisch, eine vorbestimmte Wirkung erzielt er höchstens zufällig.)
Man kann also nicht sagen: Nimm das und das, mach damit dieses und jenes, und
dann erhältst du Dings und Bums (alias Erziehungsziel, Menschenbild, „Werte“; für
evtl. Nebenwirkungen beachten Sie die Packungsbeilage). Dings und Bums, inkl.
Nebenwirkungen, sind immer genau so historisch-kulturell gesetzt wie die
Sonatenform. Aber wie man sie „erhält“,
und ob überhaupt, steht buchstäblich in den Sternen. Allerdings – „immanent“
ist das Ganze nicht! Man kann nicht sagen: Da hör ich gar nicht hin und darauf
pfeif ich; denn dieser Krake hat seine Fangarme und Saugnäpfe (die vor allem) überall.
(Bei
Herbart gibt es ein solches Substrat, weil er sich nämlich die Psychologie als
Physik vorstellt: sogenannte 'Vorstellungsmassen' (die man absichtsvoll
'erzeugen' könne) 'überwiegen' andere 'Vorstellungsmassen', und so 'entsteht'
ein 'Wille'. Und was die 'Zwecke' anlangt: Er hat zwar vorne herum die „Wertlehre“
ausgetrieben, da ist er [recte] sogar kantischer als Kant; aber hintenrum hat
er sie dann wieder eingeschmuggelt... Übrigens ist seine Ethik nur in der Durchführung
(auf die's freilich ankommt) bizarr; in der Grundidee ist sie das Beste am
ganzen Herbart: dass nämlich das Ethische nur ein Sonderfall des Ästhetischen
sei.)
Eine
('vergleichende') pädagogische Wissenschaft, wie Sie sie beschrieben haben,
könnte (wenn sie eben mehr sein wollte als ein Zweig der Humanethologie) nur
die Meinungen sammeln, die andere Leute über ein X geäußert haben, das sie „Erziehung“
nennen; und sie logisch-kritisch aufbereiten. Darüber hinaus kann sie in
literarischer Sprache erzählen, was dieselben Leute - soweit man es sehen kann
- dabei getan haben. In einer irgend exakten Weise beobachten kann sie es aber
nicht, denn dazu bräuchte sie Begriffe - und woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Und in ganz besonders farbigen Worten kann sie uns ausmalen, was dabei „herausgekommen“
zu sein scheint - im Guten wie im Bösen. Das meine ich wörtlich: Es ist am Ende
eine Frage von gut und böse. Das taugt nicht für Wissenschaft, sondern für den
Roman. Viel was anderes macht die Dilthey-Schule übrigens nicht; nur lesen sich
deren Romane nicht sehr unterhaltend, weil sie in so wichtigem Deutsch verfasst
sind. In nüchterne Worte gebracht, zerfiele diese Forschungsrichtung in 1)
Doxologie, und 2) historische Institutionssoziologie. Aber wie die beiden
zusammenhängen (folgt die Meinung aus den Institutionen? oder die Institution
aus den Meinun- gen? Oder was heißt hier „Wechselwirkung“?) - das bleibt immer
Sache eines hermeneutischen Kunststücks.
Notabene,
ob und in welchem Sinn die Ausbildung der pädagogischen Professionellen
wissenschaftlich zu sein hat, ist
eine ganz andere Frage.
...
...
*)
Die empirische Sozialforschung kann - in Längs- und in Querschnitten -
herausfinden, welche Institutionen in der Geschichte ursächlich “irgendwie“ mit
der Verbreitung einzelner kultureller Kompetenzen in einem Gemeinwesen
zusammenhängen. Aber die Summe dieser Kompetenzen insgesamt begrifflich unter „Erziehung“
zu fassen, ist genau so ein definitorischer Gewaltakt wie 'Intelligenz ist das,
was der IQ-Test misst'. Darauf können sich Forscher in heuristischer Absicht
einstweilen verständigen. Aber ansonsten ist es rein nominal und Schall und
Rauch.
Mit den besten Grüßen
J.E.
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