Dienstag, 19. Mai 2015

Schulangst in Deutschland.

aus beta.nzz.ch, 19. 5. 2015, 14.25 Uhr

Schulangst in Deutschland
Kinderseelen in Panik
Ein Gymnasiast bricht das Schuljahr ab, eine Realschülerin bricht während einer Französischprüfung zusammen – Schüler mit Schulangst gibt es immer häufiger. Liegen die Ursachen im Bildungssystem?

von Akiko Lachenmann, Stuttgart

Irgendwann ist Tim einfach nicht mehr zum Unterricht erschienen. Keiner kann sich das recht erklären, weder die Lehrer noch die Klassenkameraden. Er gehört zu der Sorte Schüler, die in allen Fächern glänzt und dazu noch nett und umgänglich ist. Er spielt mehrere Instrumente, engagiert sich in Vereinen, ist beliebt. Dass Tim tief im Inneren gegen Panikgefühle kämpfte, merkte man ihm nicht an. Irgendwann fehlte ihm die Kraft dafür, so zu tun, als wäre alles normal. Selbst dass er in der letzten Klausur die Bestnote erreichte, hatte für ihn keine Relevanz mehr. Tim leidet unter Schulangst.

Boom der Fernschulen

Nun, da seine Klassenkameraden sich auf das Abitur vorbereiten, verbringt er den Tag in seinem Zimmer. Was er durchgemacht hat, will er lieber seine Mutter erzählen lassen. «Morgens kam er nicht aus dem Bett», beginnt sie. Sie habe auf ihn eingeredet, bald gebettelt, bald gedroht, ihm die Kleider zurechtgelegt, das Frühstück gemacht. Aber Tim weinte und tobte, kam oft erst in der letzten Minute aus dem Zimmer. Irgendwann half aber kein Betteln und Flehen mehr. Tim, 17 Jahre alt, weigerte sich, das Haus zu verlassen.

Kinder und Jugendliche mit Schulangst gibt es seit je [?], das Phänomen ist vermutlich so alt wie die Schule selbst [ah!]. Wie viele Kinder heute in Deutschland darunter leiden, ist statistisch nicht erfasst. Doch die Experten sind sich einig, dass die Zahl der Betroffenen wächst. Die schulpsychologische Beratungsstelle in Stuttgart beispielsweise verzeichnet «eine deutlich gewachsene Zahl von Anfragen von Eltern mit emotional belasteten Kindern». Der Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte schätzt, dass mittlerweile jedes fünfte Kind unter einer ausgeprägten Form von Schulangst leidet.

Das zeigt sich beispielsweise in dem Angebot von Fernschulen wie der Web-Schule in Bochum, die Jugendliche per Internet unterrichtet. Die Schule, die vor zwölf Jahren gegründet wurde, richtete sich ursprünglich an junge Künstler oder Sportler, die viel unterwegs sind. «Mittlerweile ist jedes dritte Kind, das wir unterrichten, wegen psychischer Probleme bei uns», sagt die Schulleiterin Anne Gebbers-Fritsche. Ihr Anfrageordner quillt über. Eben hat sie zwei neue Lehrer eingestellt.

Dass der Bedarf nach Hilfsangeboten wächst, erlebt derzeit auch eine Einrichtung in der Stadt Göppingen. Vor zweieinhalb Jahren gründete die Oberbergschule der Bruderhaus-Diakonie das «Beratungs- und Förderzentrum für emotionale und soziale Entwicklung». Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich eine von wenigen Schulen in Deutschland, die sich auf Jugendliche mit Schulangst spezialisiert hat. Die Einrichtung zog in das Parterre eines Wohnhauses mitten im Stadtzentrum. Sie gleicht eher einer gemütlichen Studenten-WG denn einer Schule: drei geräumige Zimmer mit Plakaten und Bildern der Schüler und eine Küche, wo sich mit Vornamen versehene Teedosen und Cornflakes-Packungen türmen. «Wir haben mit zwei Jugendlichen angefangen», sagt der Leiter Michael Schubert. Inzwischen klingeln morgens vierzehn Schüler an der Wohnungstür. «Wir müssen leider mit Wartelisten arbeiten», sagt der Schulleiter Schubert.


Der Unterricht sieht hier anders aus. Schubert schildert ihn am Beispiel von Theo, einem seiner ersten Schüler. Am Anfang unterrichtete der Pädagoge ihn allein: «Wir haben nur miteinander geplaudert, über Fussball, Belangloses.» Als er das Gefühl hatte, dass Theo gern zu ihm kam, fragte er ihn, welches Fach er am liebsten mag. Mathe, war die Antwort, und so begann Schubert mit einfachen Rechenaufgaben, zunächst zwei Stunden an zwei Wochentagen. Später nahm er Deutsch hinzu. Dann bekam Theo einen Mitschüler an seine Seite, dann einen zweiten Lehrer. Die Stunden nahmen zu, die Aufgaben wurden schwieriger, die Hausaufgaben umfangreicher. Am Anfang des neuen Schuljahrs gelang Theo schliesslich die Rückkehr an die Regelschule. «Nicht alle schaffen das», betont Schubert. «Einige machen ihren Abschluss bei uns.»

Entstanden ist das Zentrum, weil die Klinikschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Christophsbad Göppingen nicht wusste, wohin mit all jenen Schülern, die nach dem Klinikaufenthalt noch nicht reif für die Regelschule sind. Angesichts des steigenden Bedarfs würden bald weitere Klinikschulen in Deutschland dem Göppinger Beispiel folgen, erzählt Schubert.

Bildung als Lebensaufgabe

Was hinter der Zunahme von Schulangst steckt, ist schwer auszumachen. Sie kann unterschiedliche Ursachen haben und kommt in verschiedensten Symptomen zum Ausdruck. Das Familienhandbuch des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik zählt zehn Formen der Schulangst auf, von der Prüfungsangst bis hin zur Angst vor der Trennung vom Elternhaus. Häufige Ursachen sind Mobbing, Leistungsdruck oder Sozialphobien. Typische Symptome reichen von Kopf- und Bauchschmerzen bis hin zu Essstörungen.

Auch für Tims Mutter ist die Frage nach Gründen keine einfache. Ratlos blickt sie zurück auf seine Kindheit. «Er war immer gut drauf, neugierig, lernwillig, oft Klassenbester», so erinnert sie sich. Vielleicht war der plötzliche Tod eines Verwandten der Wendepunkt. Tim wurde damals einige Tage vom Unterricht befreit. Als er wieder zurück in der Schule war, lief es nicht mehr ganz so glatt. Das Lernen fiel ihm schwerer. Er litt darunter, es eigentlich besser zu können. «Da hat er vielleicht das erste Mal gespürt, nicht alles unter Kontrolle haben zu können», sagt die Mutter. Von da an wuchs seine Angst vor Prüfungen. Irgendwann sah er sich nicht mehr in der Lage, zu Klausuren zu erscheinen. Bald schob er eine Bugwelle von Nachschreibeterminen vor sich her. Tim entschied, die Klasse freiwillig zu wiederholen. Gegen Ende der Sommerferien räumte er sein Zimmer auf, hochmotiviert nahm er einen zweiten Anlauf. Zwei Monate hielt er durch.

Schulpflicht, Schulangst und Schulschwänzer

In Deutschland gibt es die gesetzliche Schulpflicht, wonach jedes Kind neun Jahre die Schule besuchen muss. Kinder mit Schulangst können nur davon befreit werden, wenn ihnen ein Arzt bescheinigt, dass sie schulunfähig sind. Allerdings gilt das unter Experten als letztes Mittel. Zunächst müsse man versuchen, die Angst dort, wo sie entstanden sei, wieder abzubauen, rät der Berufsverband für Psychiatrie. Das gelinge vor allem durch eine gezielte Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern, Schulpsychologen und Sozialpädagogen.

Zu unterscheiden sind Kinder mit Schulangst von sogenannten Schulverweigerern, die zwar zur Schule gehen können, aber keine Lust dazu haben. Auch ihre Zahl steigt laut einer Untersuchung von der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin. Schätzungsweise fallen ein bis zwei Prozent der Schüler oder etwa 100 000 bis 200 000 Kinder in diese Kategorie.

In der Regel hat jede Schule einen Beratungslehrer, an den sich betroffene Eltern wenden können. Beratungslehrer werden in speziellen Weiterbildungen darauf vorbereitet, Schülern und Eltern zu helfen, wenn Probleme bei der Bewältigung des Schulalltags auftauchen. In vielen Bundesländern bieten zudem schulpsychologische Beratungsstellen Hilfe an. Sie unterstützen Lehrer, bieten aber Ratsuchenden auch direkt Hilfe an.

Auf einem Kongress des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte machten die Mediziner vor allem schulische Überforderung für die Zunahme psychischer Probleme ihrer Patienten verantwortlich. «Wir sind nicht der Reparaturbetrieb einer verfehlten Schulpolitik», monierte der Kinderarzt Uwe Büsching, der den Kongress leitete. Eltern und Pädagogen würden zunehmend Druck auf die Pädiater ausüben, Medikamente zu verordnen. Dass die Heilmittel auffangen könnten, was die Schule aufbürde, sei jedoch trügerisch, sagt Büsching. Neben der immer wieder kritisierten verkürzten Gymnasialzeit (G 8) und der Benotungskultur sehen Soziologen aber auch hausgemachten Druck als Gefahrenquelle.

Die vom Familienministerium und von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Auftrag gegebene Studie «Eltern-Lehrer-Schulerfolg» fand heraus, dass sich immer mehr Eltern für den Schulerfolg ihrer Kinder verantwortlich fühlen – und diese unter Druck setzen. 75 Prozent der befragten Eltern geben an, dass Schule ein Reizthema sei, das das Familienklima vergifte. «Ich habe mit Müttern gesprochen, die ihren Beruf an den Nagel hängen, um mit ihrem Kind lernen zu können», sagt Katja Wippermann, eine Autorin der Studie. Der Soziologe Heinz Bude führt diesen Druck auch auf eine neue Statuspanik in der gesellschaftlichen Mitte zurück: Während die Elterngeneration selbst noch die Hausaufgaben allein verrichtet habe und auf die nächstgelegene Schule geschickt worden sei, werde das Kind über handverlesene Schulen notfalls zum Abitur getragen, um einen sozialen Abstieg zu verhindern, schreibt Bude in seinem Buch «Bildungsdruck». Kinder lernten in einem Klima der Angst.

Die Gründe liegen tiefer

Dass Prüfungsängste oft nur ein Symptom sind und die wahren Ursachen woanders liegen, zeigt der Fall von Corinna. Auch sie litt unter Prüfungsängsten, bevor sie in der zehnten Klasse eine stationäre Therapie in einer Klinik begann. Diese Zeit liegt lang zurück. Sie kann heute darüber reden und kommt ohne ihre Eltern zum Gespräch – ein blondes Mädchen mit Nasenring und eigenwilligem Outfit. Reflektiert erzählt sie ihre Leidensgeschichte, die zunächst nichts mit Leistungs-, sondern eher mit Anpassungsdruck zu tun hat.

In der fünften Klasse einer Realschule wird sie ausgegrenzt wegen ihrer gepunkteten Strumpfhosen und ihrer gestreiften Röcke. Sie bemüht sich, nicht mehr aufzufallen, misst sich immer mehr daran, was andere von ihr halten. Ihre Schulleistungen sind mässig. Sie glaubt, dass die Lehrer sie nicht mögen, fühlt sich abgelehnt. Hinzu kommen Probleme mit der alleinerziehenden Mutter, die keine Zeit hat, ihre Not zu erkennen.

In der zehnten Klasse setzen die Bauchkrämpfe ein, immer vor der Schule. Sie kommt zu spät zum Unterricht. Die Schmerzen werden schlimmer – auch aus Angst, nicht pünktlich zu sein. Ihre Noten werden immer schlechter. Erst verliert sie den Anschluss im Französisch. In den Klausuren hat sie Panikattacken, Schwindel und Brechreiz. Eines Morgens bricht sie vor dem Unterricht zusammen. Sie landet in der Klinik. Depressionen fesseln sie ans Bett.

Corinna weiss heute, dass nicht der Leistungsdruck der Grund ihrer Probleme war. Sie konnte ihm nicht standhalten, weil ihr Selbstvertrauen beschädigt wurde, durch Mobbing und ein schulisches Umfeld, das ihr nicht zu helfen wusste. Von der fünften bis zur zehnten Klasse habe sie kein einziger Lehrer gefragt, ob etwas nicht stimme, sagt Corinna. «Sie hatten von mir das Bild einer Schülerin, die sich halt drücken will.» Dass das Kultusministerium mittlerweile etliche Lehrerfortbildungen und umfangreiche Präventionsprogramme zu dem Thema anbietet, half in ihrem Fall nicht weiter.

Nach ihrem Klinikaufenthalt besuchte Corinna eine Freie Aktive Schule – eine Alternativschule in privater Trägerschaft, in der die Schüler selbst entscheiden, wann sie was und wie viel lernen. Dort durfte sie zu spät kommen und wurde immer pünktlicher. Sie machte den Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 2,6. Heute besucht sie ein sozialwissenschaftliches Gymnasium, um später Psychologie studieren zu können. «Die Ängste sind noch nicht besiegt», sagt sie. «Aber ich kann sie in Schach halten.»

Tim ist inzwischen 18 Jahre alt, aber noch nicht so weit. «Er braucht Zeit», sagt seine Mutter. Dabei wird sie ständig gefragt, wie es mit ihm weitergehe. Wie wär's mit einem Praktikum? Wofür interessiert er sich? Doch sie versuche derzeit, sich und ihrem Sohn solche Fragen nicht mehr zu stellen. «Jeder Erwartungsdruck ist in dieser Phase kontraproduktiv», sagt sie. Am Ende des Gesprächs zeigt Tims Mutter eine Seite aus dem Vokabelheft ihres Sohnes, aus der achten Klasse: eine weiche, ruhige Handschrift, dazwischen kleine Buntstiftzeichnungen von Comicfiguren. «Die hat er damals aus dem Arbeitsbuch abgemalt», sagt sie. «Da hat ihm Schule noch Spass gemacht.»



Nota. - Wo ist das Problem? Wenn täglich sechs Stunden nicht reichen, schicken wir sie eben neun Stunden lang in die Schule und setzen ihnen in betreuter Freizeit ein paar Sozialpädagogen in den Pelz, die sind für ihre Leistungskraft sprichwörtlich. Wenn dasselbe nicht reicht, darf es ruhig auch mal ein bisschen mehr davon sein.
JE

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