Ich war
vierzehn Tage vom Netz. Da hatte ich Muße und blieb mir nichts übrig, als meine
Festplatte durchzu- sehen. Dabei bin ich auf ein paar frühe Reflexionen über den
präsumtiv wissenschaftlichen Charakter der neu- eren Pädagogik gestoßen.
Ich werde sie
in den nächsten Tagen hier wiedergeben; nicht als Neuheiten, denn ich habe sie
seither in etlichen andern Texten ausgeführt. Sondern um nachzuweisen, dass ich
in meinen eigenen pädagogischen Reflexionen an keiner Stelle und zu keiner Zeit
von vorgefassten Begriffen und vorersonnen Theorien ausgegangen bin.
Ich bin zu
meinem pädagogischen Erwerbsberuf als reiner Praktiker gekommen – unbefangen
und lediglich mit dem gesunden Menschenverstand als Leitfaden.
Das heißt nicht
vorurteilslos: Der gesunde Menschenverstand beruht auf den abertausenden
Selbstverständ- lichkeiten des täglichen Lebens. Aber frei von theoretischen
Vorurteilen, sofern sie sich als Begriffe darbieten. Die
Selbstverständlichkeiten des Alltags treten nicht schon begrifflich auf,
sondern als landläufiges Meinen. Solange man seine Meinungen nur für sich
behält, mögen sie als solche durchgehen. Aber ab 2000 verfolgte ich das Projekt
eines Landschulheims musisch-ästhetischer Prägung, da musste ich meine
Meinungen Andern vortragen. Begriffliche Verallgemeinerungen wurden nötig. Da
kam es mir zustatten, dass ich mich seit Jahren wieder der Philosophie zugewandt
hatte.
*
Ich bin ja ein
kritischer Kopf im weitesten Sinn. Ich mag nichts für wahr nehmen, was ich
nicht verstanden habe. Die Gründe der Dinge erkennen wollen ist aber naiv und
unkritisch. Mit den Dingen selbst habe ich ja nicht zu tun, sondern immer nur
mit meinen Vorstellungen von ihnen. Eine Vorstellung Y beruht auf einer
Vorstellung X, die ich mir zuvor schon gemacht habe, und sei es, ohne es recht
zu merken. Eine gegebene Vorstellung zurückführen auf die Vorstellungen, die
ihr zu Grunde liegen, ist das Verfahren der Transzenden- talphilosophie (und
bewährt sich an allen Themen, so praktisch
sie auch sein mögen).
Ernsthaft habe
ich mich mit der Transzendentalphilosophie zuerst 1981 beschäftigt, als ich schon
lange päda- gogisch berufstätig war. Nicht dass ich mich vorher mit ihr
unernsthaft oder gar nicht beschäftigt hätte. Doch bei Kant hatte ich, trotz Universitätsstudium, gar nicht recht
verstanden, worum es überhaupt geht. Das kam erst, als ich mich der
radikalisierten Version Fichtes zuwandte.
Freilich habe ich dort nicht unmittelbar nach Antworten auf pädagogische Fragen
gesucht. Ich habe mein Fichte-Studium ganz unabhängig von meinem Beruf
aufgenommen. Abstand und Muße waren dafür unverzichtbar, und die hatte mir ein
biographischer Zufall verschafft.
Transzendentalphilosophie
ist das Zurückführen alles Gesetzten auf sein Vorausgesetztes. Als letzten
Grund findet sie das vorstellende Ich. Wie aber kommt das Ich zum Vorstellen?
Es könnte doch untätig bleiben und auf-sich-selbst-beruhen, d. h. ein Ich gar
nicht erst werden -?!
Wir sind aber
alle Iche geworden und haben Dieses und Jenes in unserem Bewusstsein. Und damit
allein hat die Transzendentalphilosophie ja zu tun. Alles andere geht sie
nichts an. Da aber ein X sich zum Vorstellen aufgerafft hat und somit zu einem
Ich geworden ist, müssen wir wohl
annehmen, dass es das gekonnt hat. Die
Transzendentalphilosophie fügt der Erkenntnis materialiter nichts hinzu. Sie
mustert im Gegenteil nicht hin- reichend begründete Erkenntnis aus dem
Wissensfundus aus. In diesem Sinn ist die Transzendentalphilosophie rein kritisch. Sie ist das allgemeine
Schema (gr. [Sinn-] Bild), an dem das
positive Wissen sich messen lassen muss. Was sich nicht genetisch aus ihrem
Vorgang herleiten lässt, verfällt –
bestenfalls als private Schrulle, schlimm- stenfalls als interessierte Lüge.
Das Positive
der Transzendentalphilosophie ist das, was die Kritik am positiven Wissen
bestehen lässt. Für sich hat die
Transzendentalphilosophie gar keinen Bestand, sondern allein in ihrem Verhältnis
zum wirklichen Wissen; und jenes hat keinen Bestand außer in seinem Verhältnis
zur Kritik alias Transzendentalphilosophie.
*
Pädagogik ist
gar kein positives Wissen. Sie ist, wo sie als gedankliches Gebäude auftritt,
ein krudes Sammelsu- rium aus überkommenen Begriffen und privaten Meinungen. Und
sie ist von vornherein verdächtig: weil sie immer im Dienst eines eigensüchtigen Berufsstands steht; anders kommt sie überhaupt nicht vor. Mehr als jeder andere
Wissensbereich hat sie die strenge Kur der Kritik
nötig. Ob sie dadurch zu positivem Wissen, gar zu einer Wissenschaft werden kann, steht noch auf einem
andern Blatt. Aber selbst Einzelerkenntnisse kritisch verifizieren wäre hier
schon ein Fortschritt.
Welchen Beitrag
kann also die Kritik der Transzendentalphilosophie zur pädagogischen Einsicht
leisten?
Ihr erstes Fundstück
und Ausgangspunkt all ihrer genetischen Herleitungen ist das 'Ich, das sich
selber setzt, indem es sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Sie findet es
zuerst als Faktum: So war es, so ist der Mensch zum Vorstellen gekommen, so ist
ihm eine Welt erstanden.
Doch dass es so
ist, muss den Pädagogen noch nicht
beeindrucken. Seine Frage ist ja, ob es so sein soll; oder nicht doch besser etwas Anderes?
Bevor überhaupt
etwas „da war“, muss man annehmen, dass es dynamei
dagewesen ist als Möglichkeit, als „Ver- mögen“. Trieb nennt es J. G. Fichte, und bestimmt es näher als Wollen.* Die Vorstellungstätigkeit ist
nur zu begreifen, wenn der Mensch vor allen (!) andern Bestimmungen als wollend
angenommen wird. Doch während der Philosoph sagt: So entsteht Vorstellung, sagt
der Pädagogen: Vorstellung soll geschehen,
eine Welt soll ent- stehen. Er muss seinen
Zögling nicht nur – theoretisch – als wollendes Subjekt auffassen, sondern auch – prak- tisch – durch sein alltägliches Tun
und Lassen bestätigen.
Das ist nun
denkbar allgemein, aber nichtssagend ist es keineswegs, weil damit eine ganze
Menge (sic) anderer möglicher pädagogischer Grundoptionen ausgeschlossen werden.
Doch positiv
ist es auch: Irgendein Bauchgefühl ist noch kein Wollen. Es muss sich als
begründete Vorstellung rechtfertigen
können, um in unserer Welt Geltung zu
beanspruchen. (Privat für mich selbst, in meiner Welt, mag ich ohnehin meinen,
mögen und begehren, wonach mir das Herz steht.)
Es ist wahr,
die tägliche pädagogische Praxis ableiten
kann man daraus nicht. Das ist ohnehin unmöglich und auch gar nicht nötig. Denn
Handlungen, die der Außenstehende als pädagogisch taxieren mag, geschehen sowieso,
gewollt oder ungewollt, institutionell induziert oder ganz von allein. Die kann
man nicht und muss man nicht „ableiten“. Prüfen und gegebenenfalls neu
einrichten muss man sie, und dafür braucht man einen Maßstab; ein regulatives Prinzip nennt es die philosophische
Schulsprache.
Das ist es, was
die Philosophie – die Transzendentalphilosophie – für die Pädagogik sein kann:
ein regulatives Prinzip. Wozu immer du deinen Zögling bestimmen willst, bedenke
stets: Ein Ich ist er nur als wollendes Wesen, ein Ich 'setzt sich, indem es
sich ein/em Nichtich entgegensetzt'. Aber wozu
in specie du deinen Zögling bestimmen wollen sollst, und ob überhaupt, das kann
dich keine theoretische Philosophie lehren. In den Philo- sophien aller Länder
und aller Epochen findest du viele anregende Gedanken; aber was du davon zu
deiner Handlungsmaxime machen willst, das musst du schon ganz alleine wissen.
*) vgl.
'Intentionalität' bei Husserl; auch das Marx’sche Bedürfnis hat diesen intentionell-thetischen Charakter.
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