aus nzz.ch, 17. 4. 2015 Bände des Science Citation Index.
Die wahren Aufgaben der Universitäten
Echte Bildung anstatt nur Wissensvermittlung
Schulen und Universitäten vermitteln heute vor allem Wissen, aber nur selten den Mut zu unabhängigem und langfristigem Denken. Damit werden sie ihren Aufgaben nicht gerecht.
von Gottfried Schatz
Erfüllen unsere Universitäten ihre Aufgaben? Was sind diese Aufgaben? Die Gründungsurkunden der ältesten Universitäten geben darüber meist keine Auskunft. Die Urkunde von 1231 der Universität Cambridge möge dafür als Beispiel dienen. Sie verlieh dem Lehrkörper unter anderem das Recht, die Mieten für die Wohnhäuser am Universitätsgelände zu bestimmen, seine Mitglieder selbst zu bestrafen und gewisse Steuern nicht zu bezahlen. Wenige Jahre später erlaubte zudem eine päpstliche Urkunde es den Dozierenden und Absolventen, überall in der Christenheit zu lehren. Ganz anders jedoch die Stiftungsurkunde der Wiener Universität, die Herzog Rudolf IV. und zwei seiner Brüder im Jahre 1365 unterzeichneten. Leicht gekürzt in heutiges Deutsch übertragen lautete das Stiftungsziel: «. . . damit Gemeinwohl, gerechte Gerichte, menschliche Vernunft und Bescheidenheit zunehmen und wachsen und . . . ein jeder weiser Mensch vernünftiger, und ein unweiser zu menschlicher Vernunft . . . gebracht . . . werde.»
Vernunft und Bescheidenheit
Seither hat es Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt gegeben, und so wage ich es, das zitierte Stiftungsziel so zu interpretieren: «Die Universität möge Menschen das Vertrauen in den eigenen Verstand schenken und sie ermutigen, Dogmen und vorgefasste Meinungen zu hinterfragen. Sie soll ein Reinigungsbad sein, das von anerzogenen Vorurteilen befreit.» In dem Kernsatz von Rudolfs Stiftungsurkunde sucht man vergeblich das Wort «Wissen». Die Gründer der Wiener Universität setzten also nicht so sehr auf Ausbildung, sondern auf Bildung. Doch was ist Bildung? Für den britischen Staatsmann Lord Halifax war sie das, was übrig bleibt, wenn man vergessen hat, was man einmal gelernt hat. Der Weg zu ihr führt zwar über das Wissen, doch sie hat mit diesem nur wenig gemein.
Unsere Universitäten täten gut daran, die Botschaft von Rudolfs Stiftungsurkunde auch heute noch als Wahlspruch zu wählen. Bedeutende Menschen haben an ihnen gelehrt und geforscht, und ebenso eindrücklich ist die Liste ihrer ehemaligen Absolventen. Aber haben die Universitäten uns bescheidener und vernünftiger gemacht? Haben sie uns vor irrationalen Dogmen, Faschismus und Rassenhass bewahrt? Als Orte der Wissenschaft hätten sie gegen diese Bedrohungen immun sein müssen. Doch spätestens seit Anfang des vorigen Jahrhunderts setzten die meisten von ihnen immer mehr auf Ausbildung. Sie entwickelten sich zu Orten der reinen Wissensvermittlung – zu Berufsschulen. Dabei vergassen sie, dass Wissen und Wissenschaft gegensätzliche Charaktere besitzen und einander oft behindern.
Wissenschaft beschäftigt sich nicht vorrangig mit Wissen, sondern mit Unwissen. Sie verwandelt dieses Unwissen in Wissen, wobei ihr der Akt der Umwandlung meist wichtiger ist als das Ergebnis. Leidenschaftliche Forscherinnen und Forscher betrachten das von ihnen geschaffene Wissen fast als ein Nebenprodukt, dessen Verwaltung und Weitergabe sie gerne anderen überlassen. Ein Lehrbuch der Biochemie wäre für sie nicht «Biochemie», sondern die Geschichte der Biochemie – eine Zusammenfassung dessen, was sie bereits wissen oder zumindest wissen sollten. Ihre Heimat ist nicht das gesicherte Wissen, sondern dessen äusserste Grenze, wo Wissen dem Unwissen weicht.
In der Realität des wissenschaftlichen Alltags beschäftigen sich allerdings die meisten Wissenschafter mit Verwaltung und Weitergabe von Wissen, und nur eine kleine Minderheit – die aktiv Forschenden – verwandelt Unwissen in Wissen. Und in dieser Minderheit ist es wiederum nur eine winzige Elite, der es vergönnt ist, das höchste Ziel eines Forschenden zu erreichen: neues Unwissen zu schaffen. Also etwas zu entdecken, von dem wir nicht wussten, dass wir es nicht wissen. Als Gregor Mendel die Einheiten der Vererbung, Sigmund Freud das Unterbewusste und Albert Einstein das Relativitätsprinzip entdeckte, erschlossen sie uns geheimnisvolle neue Welten des Unwissens, deren Erforschung unser Weltbild entscheidend verändert hat.
Ein Zoo ungezähmter Tiere
Wissenschaft ist keine Hüterin von Stabilität und Ordnung, sondern eine Revolutionärin, die kreative Unruhe stiftet. Sie missachtet Dogmen und verunsichert, ebenso wie innovative Kunst. Deswegen unterdrücken totalitäre Staaten stets beide. Der sowjetische Dichter Ossip Mandelstam soll für Stalins Kulturterror folgende bittere Worte gefunden haben: «Wie glücklich sind wir doch, dass unser Staat Dichtung so sehr liebt, dass er wegen eines Gedichtes Menschen ermordet.» Und Ivan Maisky, der damalige Sowjetbotschafter in Grossbritannien, sagte im Jahre 1941 ganz ohne Bitterkeit: «In der Sowjetunion hat es keinen Platz für freie Wissenschaft.»
Wissen ist keine Ware, die man verpacken, etikettieren und für alle Zeiten ablegen kann. Es gleicht einem Zoo ungezähmter Tiere, die gegen ihre trennenden Käfiggitter anrennen, diese oft durchbrechen und unerwartete Nachkommen zeugen. Jean-Paul Sartres Ausspruch «Nicht wir machen Krieg, der Krieg macht uns» gilt auch für unser Wissen. Unter dem Ansturm der Forschung verändert es sich ohne Unterlass – und verändert damit auch uns. Wir mögen es zwar kurzfristig im Zaum halten oder sogar verfälschen, doch auf lange Sicht ist es immer stärker als wir. Es gehorcht seinen eigenen Gesetzen, die wir weder kennen noch ändern können. Das Victor Hugo zugeschriebene Zitat «Nichts ist unwiderstehlicher als eine Idee, deren Zeit gekommen ist» ist zwar nicht authentisch, aber dennoch wahr.
Dass unser Wissen sich unablässig ändert, ist für Wissenschafter nicht bedrohlich, denn wir haben zu ihm ein gespaltenes Verhältnis. Zwar setzen wir alles daran, es zu schaffen, doch sobald wir es geschaffen haben, misstrauen wir ihm und hinterfragen es. Der Besitz von Wissen bedeutet uns weniger als die Überzeugung, dass wir Wissen stets neu schaffen können. Wissen ist ein Kind der Vergangenheit und kann in einer stetig sich wandelnden Welt nie die Zukunft sichern. Dies kann nur die ewig junge Kraft wissenschaftlichen Denkens, die in allem Gegenwärtigen die Hypothese des Zukünftigen sucht. Dazu braucht es Menschen mit neuen Ideen, die es wagen, überliefertes Wissen anzuzweifeln. Es braucht Menschen, die sehen, was jeder sieht, dabei aber denken, was noch niemand gedacht hat. All dies erfordert Mut, der vor allem in jungen Menschen blüht. In Wissenschaft und Kunst ist die unbekümmerte Naivität der Jugend deshalb oft klüger als das Wissen des Alters. Echte Forscher zögern nicht, ferne und gefährliche Gewässer anzusteuern, wenn diese ihnen neues Wissen versprechen. Der amerikanische Gelehrte John A. Shed ermutigt diese Forscher so: «Ein Schiff im Hafen ist sicher; doch deswegen baut man keine Schiffe.»
Wie könnten unsere Universitäten diesen Mut zum Querdenken vermitteln? Wohl kaum einfach durch Vorlesungen und Seminare, sondern durch Lehrende, die diese Gabe besitzen und den Studierenden als Vorbild dienen. Solche persönlichen Vorbilder sind das wichtigste Geschenk einer Universität an ihre Studierenden, doch leider wählen wir unsere Lehrenden fast ausschliesslich nach ihrer wissenschaftlichen Vorleistung aus. Wann werden unsere Universitäten in ihren Berufungsverfahren der Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten endlich genügend Aufmerksamkeit schenken?
Wissen ist wertvoll, doch wir dürfen es nicht überbewerten. Unsere Schulen, unsere Universitäten und auch unsere Bildungspolitik setzen zu einseitig auf Wissen und ersticken dabei oft das unabhängige und kritische Denken – also die Wissenschaft. Die breite Öffentlichkeit meint, Forschung sei ein streng logischer Vorgang, in dem die Forschenden geduldig Stein auf Stein setzen, bis das minuziös vorausgeplante Gebäude beendet ist. Innovative Forschung ist aber fast genau das Gegenteil: Sie ist intuitiv, kaum planbar, voller Überraschungen und manchmal sogar chaotisch – genauso wie innovative Kunst. Innovative Kunst und Wissenschaft sind keine Spaziergänge auf freigeräumter Strasse, sondern Expeditionen in die unbekannte Wildnis, in der sich Künstler und Forscher oft verirren. Wo Ruhe und Ordnung herrschen, sind die Karten bereits gezeichnet und die schöpferischen Menschen bereits dort, wo ihre Intuition sie hingeführt hat.
Ein Generationenvertrag
Die von Rudolf IV. und seinen Brüdern angestrebte Vernunft erfordert auch langfristiges Denken. Wir Menschen sind wahrscheinlich die einzigen Lebewesen, die dazu bewusst fähig sind. Dennoch regiert heute kurzfristiges Denken die Welt. Politik und Wirtschaft denken selten weiter in die Zukunft als einige Jahre. In dieser Welt des kurzfristigen Denkens ist es eine Hauptaufgabe unserer Universitäten, langfristig zu denken und langfristig zu forschen. Langfristige Grundlagenforschung bereitet den Boden für die technologischen und gesellschaftlichen Neuerungen von morgen. Konfuzius mahnte bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden: «Wer nicht über die ferne Zukunft nachdenkt, wird dies schon in naher Zukunft bereuen.»
Möge es unseren Universitäten gelingen, ihren Studierenden nicht nur Wissen, sondern auch Vernunft, Bescheidenheit und den Mut zum eigenen Denken zu vermitteln. Dann, und nur dann, werden sie Orte der Wissenschaft sein. Diese ist für grosse Teile unserer Gesellschaft oft kaum mehr als eine Quelle neuer Technologien und wirksamer Medikamente. Wissenschaft ist jedoch viel mehr. Sie ist ein langfristiger Vertrag zwischen den Generationen. Erst dieser Vertrag gibt unserer westlichen Kultur Bestand. Universitäten sind Bürgen dieses Vertrags und damit Hüterinnen unserer Zukunft. Rainer Maria Rilke hat es so gesagt: «Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt, / kommt irgendwann Lebendigem zugute; / wenn es auch manchmal nur Gedanken sind, / sie lösen sich in jenem grossen Blute, / das weiterrinnt . . . / Und ist's Gefühl: wer weiss, wie weit es reicht / und was es in dem reinen Raum ergiebt, / in dem ein kleines Mehr von schwer und leicht / Welten bewegt und einen Stern verschiebt.»
Der Biochemiker Dr. Gottfried Schatz ist emeritierter Professor der Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nach dem Geheimnis der Lebensenergie».
Nota. - Die Universitäten können nur das zu einem Schluss bringen, was auf ihrem Zugang angelegt wurde. Anders gesagt - wenn Gottfried Schatz für die Universitäten Recht hat, dann hätte er es für die Gymnasien erst recht; und für die Grundschulen zumal. Und für die Kindergärten auch schon.
JE
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