"Free Range Kids":
Frei laufende Kinder
In den USA entwickelt sich mit den "Free Range Kids" eine Gegenbewegung zum "Helicopter Parenting". Oft gegen geltendes Recht.
von Sabine Mezler-Andelberg
Wie schmal der Spielraum für elterliche Entscheidungen sein kann, musste das amerikanische Ehepaar Meitiv vor einigen Wochen erfahren. Auf dem Rückweg von der Synagoge hatte der Vater seinen Kindern erlaubt, am Spielplatz auszusteigen und später zu Fuß nach Hause zu kommen. Als ganz so einfach erwies sich dieses Unterfangen allerdings nicht: Als der zehnjährige Sohn und dessen sechsjährige Schwester den eine Meile langen Rückweg entlang einer belebten Straße antraten, hatten besorgte Anwohner ob der unbeaufsichtigten Kinder bereits die Polizei informiert, die die Kinder dann heim-, und den Eltern eine Anzeige wegen Kindesvernachlässigung brachte.
Kein Helicopter Parenting.
Ein Vorwurf, gegen den sich die Eltern heftig wehren, da sie als Anhänger der sogenannten „Free-Range Kids“-Bewegung einen Erziehungsstil befürworten, der Kindern gewisse Freiheiten gibt und sich als Gegenbewegung zum „Helicopter Parenting“ versteht, bei dem der Nachwuchs 24 Stunden täglich unter Kontrolle ist. Die Gesetzeslage macht es den Eltern solcher „frei laufenden Kinder“ allerdings in den meisten US-Bundesstaaten schwer, ihre Vorstellungen umzusetzen, wie auch der Fall der Meitivs zeigt: Sie wurden jetzt wegen „Unnötiger Kindesvernachlässigung“ belangt, eine Entscheidung, die unter anderem dazu führt, dass das Jugendamt für die nächsten fünf Jahre eine Akte über die Familie führen wird und sich Schritte vorbehält, sollten die Kinder noch einmal unbeaufsichtigt in der Nachbarschaft gesehen werden.
„Das Problem ist, dass sich das Grundvertrauen in verantwortungsvolle Elternschaft in unserer Gesellschaft in ein Grundmisstrauen gegenüber den Eltern verwandelt hat“, ist Lenore Skenazy, Autorin des Buches „Free-Range Kids“ und Begründerin der gleichnamigen Bewegung, überzeugt. Die Mutter zweier Söhne geriet im Jahr 2008 in die Schlagzeilen und wurde in den USA als „World's worst mom“, also „Schlechteste Mutter der Welt“, bekannt, weil sie ihrem Neunjährigen erlaubt hatte, allein mit der U-Bahn zu fahren. Als sie in einer Kolumne in der „New York Sun“ darüber berichtete, brach ein Sturm der Entrüstung los, gegen den sich die Journalistin in sämtlichen Talkshows und Nachrichtensendungen des Landes verteidigen musste.
Dabei hatte sie ihr Kind nicht etwa aus Gedankenlosigkeit durch die Stadt geschickt, sondern sorgfältig auf Bitten ihres Sohnes hin eine einfache Strecke geplant, ihn mit genügend Geld auch für Notfälle ausgerüstet und zum Startpunkt begleitet – in dem Wissen, dass ihr Mann daheim schon auf den Junior wartete. In ihrer Kolumne berichtete die New Yorkerin dann darüber, wie strahlend vor Stolz der Junior heimgekommen war; hoffend, andere Mütter zu ermutigen, ihren Kindern hin und wieder etwas mehr zuzutrauen, als es im Amerika des dritten Jahrtausends üblich ist. „Inzwischen wird uns die Prämisse suggeriert, dass unsere Kinder sich in ständiger Gefahr befinden“, bedauert sie im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“, „deshalb werden Eltern kriminalisiert, die ihre Kinder auch nur eine Minute allein im Auto oder unbeaufsichtigt im Vorgarten spielen lassen, oder müssen Backgroundchecks über sich ergehen lassen, wenn sie die Schule ihrer Kinder betreten wollen.“
Wie weit diese Paranoia gehen kann, verdeutlicht sie anhand einiger Beispiele: „Tennessee hat gerade ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, jederzeit die Scheiben eines Autos einzuschlagen, wenn darin ein Kind allein sitzt; und in Rhode Island wurde im Vorjahr ein Gesetzentwurf eingebracht, demzufolge es Kindern unter zwölf Jahren verboten werden sollte, allein vom Schulbus nach Hause zu gehen.“ Eine Entfernung, die im amerikanischen System eine höchst überschaubare ist. Daran, dass dieses Gesetz letztlich gescheitert ist, hat auch Skenazys Bewegung ihren Anteil, denn immer mehr gleich gesinnte Eltern organisieren und outen sich als „Free-Range Parents“ – was inzwischen deutlich weniger hochgezogene Augenbrauen auslöst als noch in den Anfangsjahren.
Seltsame Gesetze.
„Als ich nach dem Vorfall 2009 mein Buch geschrieben habe und mir auf die ersten Visitenkarten drucken ließ ,Free-Range Kids – das Buch, der Blog, die Bewegung‘, war ich mir nicht sicher, ob ich das überhaupt eine Bewegung nennen durfte“, erinnert sie sich lachend. Diese Zweifel sind inzwischen verflogen, nicht zuletzt deshalb, weil Skenazy mittlerweile nicht nur ein Buch und einen Blog, sondern in ihrer eigenen Realityshow als eine Art Supernanny ängstlichen Eltern dabei geholfen hat, ein wenig mehr Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Kinder zu entwickeln. „Darunter waren teilweise Mütter, die ihre Zehnjährigen ausschließlich mit dem Löffel gefüttert haben, vor lauter Angst, sie mit ,gefährlichen‘ Werkzeugen wie Messer oder Gabel in Kontakt kommen zu lassen“, erzählt sie. Anderen half sie, ihren Kindern erstmals den Schulweg allein zuzutrauen – keine leichte Entscheidung in einem Land, in dem lediglich 13 Prozent der Kinder zu Fuß zur Schule gehen und nur sechs Prozent der Neun- bis Zwölfjährigen mindestens einmal pro Woche draußen spielen.
Prägende Erfolgserlebnisse.
„Der entscheidende, alles verändernde Moment ist immer der, in dem die Eltern erleben, was für ein unglaubliches Erfolgserlebnis es für ihre Kinder ist, eine Herausforderung bewältigt zu haben, und zu sehen, zu was sie schon fähig sind“, berichtet die Autorin, die mittlerweile in der ganzen Welt Vorträge zum Thema hält. Wobei es nicht um riskante Manöver jedweder Art, sondern um all die Dinge geht, die noch vor einer Generation das Normalste der Welt waren: mit dem Rad zur Schule zu fahren, allein zur Bücherei zu gehen oder ungestört mit einem Freund im elterlichen Garten zu spielen.
Um es leichter zu machen, Spielkameraden für solch „abenteuerliche“ Erziehungsmethoden aufzuspüren, hat Skenazy in der Vorwoche eine App gelauncht, mit der sich andere frei laufende Kinder und deren Eltern in der näheren Umgebung finden lassen. Und die suchen anscheinend einige: Bereits am ersten Tag hatten 250 Eltern die App heruntergeladen.
Kommentar einer Professionellen
Wenn Mütter ihre Kinder helikoptern, ist das ganz schlecht. Die tun das aus eigenem Antrieb und ohne alle Distanz. Berufsmäßige Erzieher dagegen tun das sach- und fachgerecht und ohne emotionalen Überschuss. Das kann gar nicht genug dauern - am besten den ganzen lieben langen Tag, so dass sie gleich mehrere Schichten fahren können.
Dipl. Päd. Wibke Möchte-Gerne
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