Dienstag, 9. April 2019

Das Problem steht vor der Klasse.

aus Spiegel.de, 08.04.2019

Eine Lehrerin packt aus
"Das Problem steht vor der Klasse" Desinteressiert oder autoritär, im schlimmsten Fall auch beides: So hat Lehrerin Sigrid Wagner ihre Kollegen erlebt und darüber ein Buch geschrieben. Hier erzählt sie, wer den Job lieber nicht machen sollte.

Ein Interview von  

Manchmal, sagt Sigrid Wagner, manchmal habe sie beim Schreiben des Buchs geweint. Weil es ihr so naheging, sich an die vielen schlimmen Situationen zu erinnern, die sie als Lehrerin und Mutter erlebt hat. Machtspiele im Lehrerzimmer gehörten dazu, Willkür gegenüber Schülern, ein Klima der Angst und Demütigung in den Schulen.

"In Deutschlands Lehrerzimmern herrschen Inkompetenz, Neid und Machtmissbrauch", sagt Sigrid Wagner. Schon 2016 hatte sie in einer Polemik im SPIEGEL den großen Frust in den Kollegien beklagt. Ihre Kritik hat die 63-Jährige, die selbst fünf Kinder hat, nach ihrer Pensionierung als Buch veröffentlicht.

Sigrid Wagner, Jahrgang 1956, hat 22 Jahre lang als Lehrerin unterrichtet. Gearbeitet hat sie an whttps://cdn1.spiegel.de/images/image-1338071-thumbbiga-wlqe-1338071.jpgeiterführenden Schulen in Hamburg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Ursprünglich ausgebildet für die Fächer Englisch und Arbeitslehre/Technik, hat sie als Vertretungslehrerin auch noch in zehn weiteren Fächern vor Schülern gestanden.  


SPIEGEL ONLINE: Frau Wagner, Ihr Buch trägt einen ziemlich plakativen Titel: "Das Problem sind die Lehrer". Warum dreschen Sie so auf Ihre ehemaligen Kollegen ein?
 
Sigrid Wagner: Lehrer waren schon immer ein Problem in den Schulen. Die meisten Menschen, die an ihre Schulzeit zurückdenken, erinnern sich an das Hierarchische, die Macht und die Gewalt. Heute wird die vor allem psychisch ausgeübt, aber es gibt leider auch immer noch die physische Seite. Die Kinder werden in der Schule oft kleingemacht, Lehrer lassen ihren Frust an ihnen aus. Deshalb meine These: Das Problem steht vor der Klasse.
 
SPIEGEL ONLINE: Klingt so, als wäre das ein Problem der Personalauswahl.
 
Wagner: Das ist es auch. Bis heute fällt es vielen Lehrern schwer, mit den Kindern gemeinschaftlich zu arbeiten. Denn dafür müsste man ja akzeptieren, dass es Situationen geben kann, in denen die Schüler auch mal mehr wissen als die Lehrer. Stattdessen habe ich als Lehrerin und als Mutter flächendeckend immer wieder Machtmissbrauch und Notenspielchen erlebt.
 
SPIEGEL ONLINE: Was genau?
 
Wagner: Lehrer, die keine Autorität haben und deshalb ihre hierarchische Macht einsetzen, um Kinder zu demütigen. Und die die Eltern von Schülern wie Kinder behandeln. Oder die Schüler bestrafen, weil es einen Konflikt zwischen Eltern und Lehrern gibt. Da gibt es alle möglichen Varianten.
 
SPIEGEL ONLINE: Wie erklären Sie sich solches Verhalten?
 
Wagner: Ich denke, dass die meisten Lehrer aus Hilflosigkeit, Unsicherheit und Frustration so agieren. Das nehmen sie selbst aber gar nicht wahr, sondern begeben sich lieber in eine Opferrolle. Und klagen dann: "Wir kriegen nur noch unerzogene Kinder." Meine Güte, was erwarten die denn? Die Gesellschaft hat sich verändert - dann müssen sich die Schulstrukturen und der Unterricht eben auch ändern! Ich habe den Eindruck, der Großteil der Lehrerschaft hat noch nicht verstanden, wo es hingeht. Die gehen tagtäglich zur Schule, weil man da eben hingehen muss - und nicht, weil sie lehren und selbst auch noch lernen wollen.


Sigrid Wagner
Das Problem sind die Lehrer: Eine Bilanz
 

Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Seiten: 272
Preis:EUR 12,99
 
SPIEGEL ONLINE: Urteilen Sie da nicht ein bisschen zu pauschal? 

Wagner: Fragen Sie doch mal jemanden: Wie viele gute Lehrer hattest du? Dann kommen die allermeisten nur auf zwei oder drei während der gesamten Schulzeit. Das ist doch eine beschämend niedrige Quote! Natürlich gibt es richtig tolle und engagierte Kollegen, sogar ganze Schulen, in denen sich die Guten sammeln. Aber das ist leider immer noch die Ausnahme. Das System zieht die Falschen an: verunsicherte junge Menschen, die nach der eigenen Schulzeit am liebsten da bleiben wollen, wo sie sich auskennen - in der Schule. Und die studieren dann Lehramt.
 
SPIEGEL ONLINE: Das ist nicht Ihr Ernst.
 
Wagner: Doch. Mangelnde Sozialkompetenz hat bisher noch niemanden davon abgehalten, Lehrer zu werden. Meine Kinder haben das mal ganz böse ausgedrückt: Das Lehrerzimmer ist ein Sammelbecken für Opfer. Also für diejenigen, die früher in der Schule die Loser waren. Die werden dann Lehrer - und das ist häufig leider wahr. 

SPIEGEL ONLINE: Was würde den Schulen, vor allem aber den Schülern denn helfen?

Wagner: Meine Hoffnung liegt auf den Quereinsteigern, die wegen des Lehrermangels jetzt verstärkt in die Schulen kommen. Ich setze auf deren gesunden Menschenverstand - dass die sich das anschauen und sagen: Was ist denn hier los? Und dann den ganzen Laden vom Kopf auf die Füße stellen. Aber bisher fehlt für diese Kollegen mit anderen beruflichen Erfahrungen noch die Wertschätzung. Oft werden sie im Lehrerzimmer an den Katzentisch gesetzt, irgendwo neben dem Durchgang zur Kaffeeküche oder zum Klo. Das muss sich ändern. Es müssen einfach andere Menschen ins Schulsystem. 

SPIEGEL ONLINE: Wem würden Sie denn raten, in den Schuldienst zu gehen?
 
Wagner: Das Beamtentum darf jedenfalls nicht die Motivation sein. Lehrer ist für mich einer der härtesten Jobs der Welt. Wenn ich da nicht jederzeit voll da bin, gehe ich unter. Wer das machen will, braucht Präsenz und Widerstandsfähigkeit, Humor und Lust aufs Gestalten. Und den Willen, sich mit anderen guten Lehrern zu vernetzen. Man sollte auch Ahnung von anderen, größeren Themen haben, etwa von Gesundheit und Gehirnforschung.



 
SPIEGEL ONLINE: Und was soll mit den anderen passieren? Mit denjenigen, die noch nach alten Standards ausgebildet wurden und die ja - nach Ihrer Aussage - das Hauptproblem der Schulen sind?
 
Wagner: Wünschenswert wäre natürlich, sie durch eine neue Schulkultur und durch motivierende Fortbildungen mitzunehmen. Ich würde niemandem von vorneherein absprechen, dass er seine Arbeit als Lehrer nicht noch ändern und verbessern kann. Aber klar ist auch: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Es muss einen riesigen Kehraus in den Lehrerzimmern geben - flächendeckend.


Nota. - Das Problem der Schule waren schon immer die Lehrer, jedenfalls seit sie eine reguläre und regulierende öffentliche Institution geworden ist. Als solche übt sie eine Anziehung gerade auf solche Temperamente aus, die fürs Unterrichten - und generell für Pädagogik - gar nicht geeignet sind. Wir erleben es gerade wieder in Berlin, wo sie, nachdem sie reformerisch-eifrig ins freie Angestelltenverhältnis entlassen wurden, nun wieder verbeamtet werden sollen - um Bewerber anzulocken! Na, das werden grad die Richtigen sein... 

Bemerkt wurde es bereits in den Anfängen. Johann Friedrich Herbart, der in Deutschland die wissenschaftliche Pädagogik begründet hat, hat sich ein Leben lang, leider vergeblich, dagegen gewehrt, dass die Schule zum beherrschenden Format der Menschenbildung gemacht würde - nicht zuletzt mit diesem Einwand: Nicht nur würde sie als bürokratischer Apparat ihre von pädagogischen Erwägungen freien Eigeninteressen entwickeln, sondern sie würde einen massenhaften Berufsstand in die Welt setzen, der die eigenen Interessen von den pädagogischen Erwägungen gar nicht erst unterscheiden kann.

Doch hat die Schule als Massenveranstaltung ihre eigenen, eingeborenen Fehler, um deretwegen es für sie 'richtige' Leute gar nicht geben kann, denn die vom Temperament zum Pädagogen bestimmt sind, tun gut daran, um sie einen großen Bogen zu machen. Als Massenbetrieb kann die Schule gar ncht anders als den Durchschnitt zum Maßstab erheben, was nicht einmal für die durchschnittlichen Schüler gut ist, umso weniger für die andern. Sie wird immer nach Techniken, Methoden und Strukturen jammern, die ihre Unfähigkeit, den Schülern als Personen zu begegnen, kompensieren sollen - und ewig umsonst.

Schließlich wird sie, durch die unnatürlich Zusammenballung einer großen Menge von Kindern in einem Zwangsrahmen, all den üblen Neigungen der Kinder Vorschub leisten und deren produktive Fähigkeiten, die zu ihrer Entfaltung freilich Unbefangenheit und das Unvorhersehbare brauchen, abwürgen.

So dass man am Schluss zu dem irritierenden Ergebnis kommt: Das Problem, das die Schule selber darstellt, können wiederum nur Pädagogen lösen. Und bis sie's im Großen können, müssen sie sich mit klein-klein im Klassenzimmer bescheiden. Dass gerade die Quereinsteiger dafür das nötige dicke Fell haben, wage ich für mein' Teil nicht zu hoffen.
JE






PS. Das Foto zum Titel gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Es ist ein Symbolfoto, den abgebildeten Lehrer kenne ich nicht, er ist selbstverständlich nicht persönlich gemeint. Wenn der Besitzer des Fotos oder der Abgebildete seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünscht, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.
JE
 

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