daddylicious
Den folgenden Text habe ich im Sommer 1991 geschrieben als Entgegnung auf einen enthusia- stischen Bericht über Kinderdörfer und Pflegefamilien, der in einer ostberliner Tageszeitung er- schienen war. Als Leserbrief war er viel zu lang, und ich überließ ihn seinem Schicksal. Schließlich tauchte er in N°1 der Heimerzieherzeitung Berlin-Brandenburg vom Sept./Okt. 1991 auf. JE
Die eigenen Eltern kann niemand ersetzen.
oder: Das Gegenteil des Schlechten ist nicht immer das Gute.
Heimerziehung in der DDRwar bekannt als ein Kollektivismus der Kaserne, wo die Geselligkeit durch die Vor- schrift ersetzt wurde. Die SED-Obrigkeit war so schnell bei der Hand gewesen, den "unwürdigen Eltern" ihre Kinder wegzunehmen. Da liegt es nun nahe, sich das Heil vom geraden Gegenteil zu erhoffen: Die schlechteste Familie ist immer noch besser als das beste Heim - und wenn es dreist eine Ersatzfamilie ist.
Allerdings sollte man dabei Paul Watzlawicks Hinweis nich überhören, "dass das Gegenteil von schlecht nicht notwendigerweise gut ist, sondern noch schlechten sein kann".* Denn sieht man sich das von etlichen so warm befürwortete Alternativ-Modell der Albert-Schweizeer-Kinderdörfe einmal näher an, so finden wir hier genau das wieder, was zuvor abgelehnt worden war: An die Stelle der "schlechten" Familie soll die "bessere" gesetzt werden - und nun sogar, indem man Kindern bessere... Eltern verschreibt.
Es wird wohl seinen Grund haben, weshalb das Patentrezepz der Ersatzfamilie im Westen, wo es seit Kriegs- ende ungehindert propagiert werden konnte, so wenig Echo gefunden hat - und dass sich die Hermann-Gmeiner-Kinderdörfer unteer der Hand vom Vater-und-Mutter-Spiel längst verabschiedet haben. Es handelt sich nämlich um eine pädagogische Tretmine. Vom Standpunkt der betroffenen Kinder ebenso, wie für die Ersatzeltern.
Eine Beziehungsfalle
Wenn ein Kind Vater und Mutter vorloren hat, leuchtet es jedermann ohne weiteres ein, dass man ihm sein Andenken an die Eltern erhalten und pflegen muss - egal, was für krumme Hunde sie zu Lebzeiten auch ge- wesen sind: ist doch dieses Andenken das eigenste, was das Kind hat und was ihm verblieben ist!
Aber komisch - erst müssen die Eltern gestorben sein.
Denn solange sie leben, ist drlei Taktgefühl ganz und gar nicht selbstverständlich. Sind die lebenden Eltern Ver- sager, so glaubt man, dem Kind einen Gefallen zu tun, wenn man ihm sagt: Denk nicht mehr dran, hier hast du neue Eltern, die sind viel besser für dich!
Das kann nicht gutgehen.
Sicher kann man mit Freundlichkeit und Güte ein Kind dazu bringen, einige Jahre lang gute Miene zu diesem Spiel zu machen. Aber früher oder später wird es sich dafür rächen, dass man es um einen Teil seiner Lebens- geschichte, ja um den Kern seiner persönlichen Idetität hat betrügen wollen - so, als dürfte man ihm selbst das Intimste fortnehmen, weil es eben "noch ein Kind" ist. (Und im Interesse des Kindes muss man sogar wün- schen, dass es sich früher dafür zu rächen beginnt, als später...)
Es ist bestimmt kein Zufall, dass in unsere Kinderheimen der Anteil adoptierter Kinder so unvergleichlich viel höher ist, als in der Gesamtbevölkerung!
Denn nicht nur für die Kindern, auch für die Ersatz-Eltern ist das Vater-Mutteer-Spiel eine Zumutung, der sie nicht gewachsen ein können.
Im Herzen die Mördergrube
Wie jedermann weiß, sind Kinder nicht zu allen Zeiten reizend, sie geben auch immer wieder mal Anlass, sich herzlich über sie zu ärgern; sie sind nämlich auch nicht besser als die Erwachsenen. Wo wäre die Mutter, wo wäre der Vater, dem es bei solchen Gelegenheiten nicht schon einmal heiß durch den Kopf geschossen ist: "Wieso musste gerade ich ein so missratenes Kind bekommen?" - oder gar: "Wie gut haben es doch Leute, die ohne Kinder sind!"
Natürlich schämen sie sich schon Sekunden später so liebloser und undankbarer Einfälle: "Was einem doch im Zorn für irres Zeug in den Sinn kommt!" Und vielleicht ist ihnen vor Wut sogar ein unbedachtes Wort entfah- ren. Aber dann sagen sie sich, wenn sie durch übermäßige Fachlektüre nicht verdorben sind: Besser, die Seele macht sich mal Luft, als dass die Kinder dauernd in einer Hochdruckkabine leben müssen. Und mit Recht ver- trauen die Eltern darauf, dass ihre Kinder, wenn auch gekränkt, doch im Grunde wissen, dass es "nicht so ge- meint" war.
Wie anders bei künstlichen Eltern! Gedanken solcher Art dürfen sie schon vor sich selbt gar nicht erst zulassen.
Denn ist der Satz: "Wieso musste gerade ich...?" erst einmal gedacht, dann folgt die Assoziation zurückgeben-um- tauschn-abschaffen so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn sie gleich darauf vor Scham rotglühen und ihnen der Schweiß auf die Stirn tritt, dann... macht das die Sache nur noch schlimmer. Sie können sich nicht so leicht beruhigen: Ach, das musste mal raus, und: Mein Kind wird es schon nicht so schwer nehmen, es weiß ja, dass wir es lieben.
Das angenommene Kind kann ganz und gar nicht sicher sein, dass es - 'irgendwie' - geliebt wird. Es wird nie genau erfahren, aus welchm Grund seine Ersatzeltern es überhaupt "haben wolten". Es ist von Anfang an auf der Hut: Was wollen sie eigentlich von mir? Wie weit tragen ihre Versicherungen? Und natürlich wird es immer wieder die Tragfähigkeit der Eisdecke ausprobieren wollen.
Da kommt eine Spirale in Bewegung, selbst wo man es kaum wahrnimmt. Je energischer das Ersatzkind die Ersatzeltern auf die Probe stellt, umso stärker strapaziert es ihre Nerven. Und umso öfter meldet sich der Ver- dacht, dass ein Feher war, als man "ausgerechnet dieses Kind..."
Und ist die Idee einmal da, sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch. Man muss sie mit großem Aufwand niederkämp- fen, indem man sich einredet dass - man sie nie gehabt habe.
Tödliche Ungewissheit
Der Gestus 'Ab heute bin ich deine Mutter' ist eine Lebenslüge, die dem Kind untergejubelt wird. Sie führt eine gründliche und wesentliche Unaufrichtigkeit in den Alltag der Ersatzfamilie ein. Nichts ist mehr selbstverständ- lich, alles unterliegt dem Zweifel: Ist das auch wahr? Auf was kann ich mich noch verlassen?
Man belauert sich selbst und alle andern. Und das ist das Gegenteil von familiärer Geborgenheit, mit der die Ersatzelternschaft eigentlich begründet werden sollte.
Jede pädagogische Stätte, die darauf begründet ist, dass den Kindern andere Eltern gegeben und dass ihnen zugemutet wird, einen Teil ihres Leben schlicht und einfach als ungeschehen zu betrachten, ist eine Zeitbombe auf ihrem Lebensweg. Das gute Gewissen der Erwachsenen von heute wird da erkauft mit einer Hypothek auf den Seelenfrieden der Kinder - morgen.
Es kann sein, dass Kinder aus dem einen oder andern Grund zeitweilig nicht im selben Haushalt leben können wie ihre Eltern. Aber ein Grund, ihrer leibliche Eltern durch "bessere" Eltern zu ersetzen, ist das noch lange nicht.
*) ders., Vom Schlechten des Guten, München 1986, S. 39
Nachtrag. Als der Text in einer Zeitschrift erschien, die die Standesinteressen der Heimerzieherschaft vertrat, musste es scheinen, dass er die Pflegeelternschaft kritisierte, um Heimeinweisungen zu propagieren. Das war ganz falsch. Ich betrieb damals das Projekt eines Kinderhauses, das im Gegenteil den Zweck verfolgte, "Heim- einweisungen überflüssig zu machen", indem es den Selbtheilungskräften der Familien eine Chance gab und sie in kritischen Phasen von übermäßigem Druck entlastete. Es hat sich damals schnell gezeigt, dass ich in der Heim- erzieherlobby einige meiner giftigsten Gegner hatte.
Im übrigen möge obiger Text nicht doktrinär missverstanden werden. Nicht dass in Pflegefamilien Ungewiss- heit herrscht, macht ihre Problematik aus - Unsicherheit gehört zum Leben, übermäßige Sicherheit erstickt alles -, sondern dass es zu viel davon gibt. Im konkreten Fall mag so ein Pflegeverhältni sehr gut ausgehen. Aber das ist nicht das Wahrscheinlichste. Es ist schon wahrscheinlicher, dass es für alle Beteiligten belastend ist - und ob man das riskiert, wäre im Einzelfall zu prüfen.
Dabei ist zu bedenken: Gehts gut, ist es gut; aber geht es schlecht, ist keine Reißleine da, und man merkt es immer zu spät.
Das bedeutet nur, dass man das Pflegeelternmodell nicht für eine Standardlösung halten soll, sondern für eine zu begründende Ausnahme.
Nicht verschwiegen werden darf, dass es für die Bevorzugung von Pfegeplätzen einen triftigen fiskalische Grund gibt: Sie sind viel billiger als Heimplätze. Nämlich im Einzelfall, wenn's soweit ist: wenn Fremdunter- bringung fällig wird. Doch ist die Betrachtung der Einzelfälle nicht nur fiskalisch, sondern vor allem fachlich falsch, weil kostspielig: Eine systemische Herangehensweise kommt nicht nur den Steuerzahler billiger, sondern reduziert flächendeckend die menschlichen Unkosten.
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