Bildung - Nation - Ästhetik
Ein Brief an Julian Nida-Rümelin
Unter dem Titel Alles wandelt sich, der Humanismus bleibt druckte am 27. März 2002
die Welt den Vortrag ab, den der
Staatsminister im Bundeskanzleramt für Angelegenheiten der Kultur und der Medien,
Prof. Julian Nida-Rümelin, drei Tage zuvor zur Eröffnung des 18. Kongresses der
Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft gehalten hatte. Darin
beklagte er die „technokratische Verkürzung“ der pädagogi- schen Debatten der
vergangenen Jahrzehnte, die im „Dickicht der Institutionen“ stecken geblieben
sei, und rief zu einer „inhaltlichen Neubestimmung“ auf dem Boden einer „kulturellen
Leitidee“ auf - der humani- stischen Bildungskonzeption. Als deren aktuelle
Schwerpunkte nannte er: Selbstbestimmung als Sinnge- bung des eigenen Lebens, ästhetische
Bildung, Interaktion und Verständigung sowie Integration und „Umgang mit
Differenz“.
Berlin, den 30. 3. 2002
Sehr geehrter Herr Professor Nida-Rümelin,
zu Ihrer Rede vor der Deutschen
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft über die Aktualität der humanisti- schen
Bildungsidee mächte ich Sie und uns herzlich beglückwünschen. Endlich erinnert
einer daran, daß zu den Dingen der Pädagogik nicht dem
Erziehungswissenschaftler, sondern dem Philosophen das erste Wort gehört,
weil's um das Was geht und nicht ums Wie. Eine inhaltliche Neubestimmung
fordern Sie, und dafür ist es höchste Zeit. Doch nicht besser kann man einen
Text würdigen als durch Kritik. Kritik heißt in diesem Fall: Zuspitzung. Nicht
nur als Philosoph haben Sie zu den Erziehungswissenschaftlern geredet, sondern
auch als Regierungsvertreter, und da war Zuspitzung nicht oberstes Gebot. Da
mag es Ihnen recht sein, wenn das Zuspitzen ein andrer übernimmt. Zuspitzen heißt
in diesem wie in vielen andern Fällen: die nebenein- ander liegenden Elemente zu
einander ins Verhältnis setzen.
Eingangs sprechen Sie den historischen
Zusammenhang zwischen dem deutschen Bildungsbegriff und der Verspätung der
deutschen Nationwerdung an. Tatsächlich ist die Entgegensetzung von Bildung und
dem Lernen nützlicher Realien für sozialölkonomische Zwecke eine deutsche
Erfindung. Sie wurde zur identitätsstiftenden nationalen Leitidee, denn eine
solche brauchten wir. Die andern großen Nationen mußten ihre Identität nicht
aus der Reflexion konstruieren, sie konn- ten sie anschauen: in einem lebendigen
verbindlichen Menschenbild, in dessen charakteristischen Zügen die Spuren der
gemeinsamen Geschichte lesbar sind. Der englische gentleman personifiziert die historische Vereinigung von Adel und
Großbürgertum zur typisch britischen Oligarchie, im französischen citoyen verbinden sich der plebejische
Stolz des Sansculotten mit römischer Staatsvergötzung, der amerikanische pioneer vereinigt den beengten Blick auf
den nächstliegenden Vorteil mit einer kontinentalen Weite des Horizonts. Die
tausendfach zersplitterten Deutschen haben als Nationaltype lediglich den Michel hervorge-bracht, und schämten
sich seiner: Er mußte sich erst einmal bilden.
Das sollte ihm der Deutsche Idealismus
besorgen. Dieser Titel verbirgt zwei durchaus entgegengesetzte Richtungen.
Historisch wirksam wurde die restaurative Spätform der Schelling und Hegel,
eine positive Metaphysik der objektiven Ideen und Begriffe. Die prägte das
humanistische Bildungssystem, um das Deutschland im 19. Jahrhundert von seinen
Nachbarn beneidet wurde. Doch positive Ideen lassen sich lernen wie eine
beliebige Realie, und einer Laufbahn im höheren Staatsdienst konnten sie
durchaus nützlich sein. So war denn das typische Produkt dieses Systems zum
Ende des Jahrhunderts nicht das eigenverantwortliche Subjekt, sondern der von
Nietzsche gegeißelte Bildungsphilister, der sich so gut mit dem preußischen
Untertan vertrug.
Die frühe, romantisch-revolutionäre
Richtung des Idealismus, die Kritische Philosophie von Kant und Fichte, war in
der Restauration untergegangen. Aus ihr hatte aber die Bildungsidee ihr Pathos
gewonnen! Das erste Dokument der neuen deutschen Nationalbewegung waren Fichtes
Reden an die deutsche Nation - und
die handelten nicht vom Aufstand gegen Napoleon, sondern vom ‚Plan einer
nationalen Bildungsanstalt’. (Die Landschulheim-Bewegung des 20. Jahrhunderts
geht unmittelbar auf Fichtes Reden zurück.) Anfang und Ende der Kritischen
Philosophie - und der Bildungs-Idee - ist das sich selbst bestimmende Subjekt.
Der Satz, ‚Deutschsein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun’, war keine
Tatsachenbehauptung, sondern ein Postulat: So soll es sein - nur wenn die Deutschen
freie Menschen werden, können sie sich zur Nation bilden wie andere Völker (ein
Gedanke, den Marx auf das Proletariat übertragen hat).
Das Prinzip der selbstbestimmten Persönlickeit ist nicht beiläufig mit der Idee ästhetischer Bildung verbunden, sondern historisch - und logisch. Dreh- und Angelpunkt der Kant'schen Kritik ist das Konstrukt des transzendentalen Subjekts. Doch hat er es nicht, wie etwa Descartes sein cogito, aus der Reflexion gewonnen, sondern aus erlebter Anschauung. Freilich nicht aus seiner eignen. Nachdem er in Shaftesburys Ästhetischer Metaphysik seinen archimedischen Punkt gesucht hatte, war ihm, wie so vielen Zeitgenossen, bei Rousseau das Licht aufgegangen: „Kein materielles Wesen ist durch sich selbst tätig; ich aber bin es. Man kann es mir bestreiten - ich fühle es, und dieses Gefühl, das zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, die es bestreitet“, sagt der Savoyische Vikar in Rousseaus Émile. Ästhetisch ist dieses Erlebnis, weil es das Gefühl seiner Gewißheit unmittelbar bei sich führt, vor aller Reflexion, und analytischer Rekonstruktion nicht zugänglich. In Fichtes Wissenschaftslehre tritt es in der Figur der ‚Tathandlung’ wieder auf, und die Energie, die als ihr zu Grunde liegend gedacht wird, nennt er ‚produktive Einbildungskraft’. Friedrich Schiller hat die Wissenschaftslehre, als er sie eben druckfrisch in den Händen hielt, fast wörtlich in seine Ästhetische Erziehung des Menschen einbauen können (ab dem 19. Brief).
Die Zeitumstände - der Atheismusstreit -
haben Fichte verführt, das Feld, auf dem die Einbildungskraft vorzüglich
produktiv ist, als das Ethische zu bestimmen. Doch Stein des Anstoßes war
gewesen, daß er den ‚Grund für unsern Glauben an eine göttliche Weltregierung’ in
einem Bild ausgemacht haben wollte -
in einem sinnbildlichen Ereignis, wo das Wahre, das Gute und das Schöne allerdings
in Eins fallen. Sein (abtrünniger) Schüler Joh. Fr. Herbart hat die radikale
Konsequenz daraus gezogen. Er nennt das ganze Reich der Praktischen Philosophie
schlichtweg Ästhetik, und was wir landläufig Ethik nennen, gilt ihm nur als ein
Anwendungsfall derselben. Moralität heißt bei ihm folgerichtig ‚der sittliche
Geschmack’.
Herbart war der Begründer der
wissenschaftlichen Allgemeinen Pädadogik. Aber geprägt hat er sie erst, nachdem
ihn die selbsternannten Herbartianer
auf den Kopf gestellt hatten! Er selbst hatte „die Hauptaufgabe der Pädagogik“
als „die ästhetische Darstellung der Welt“
bestimmt, doch bei den Herbartianern hieß die Hauptaufgabe der Pädagogik: büffeln.
Als die Jugendbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Sturm auf die Lernschule blies - die
Landschulheim-Bewegung vorneweg -, machte sie bizarrerweise gerade Herbart zu
ihrem Buhmann.
Die deutsche Bildungsidee, auf die wir uns
so lange so viel zugute gehalten haben, hat nicht erst mit Georg Picht und
Theodor Litt vor dem Nutzen kapituliert, sondern schon mit der Restauration und
dem Biedermeier. Solange ihr die industrielle Revolution und der Triumph des
Fabriksystems noch bevorstanden, konnte sie sich nicht behaupten. Sie mußte
utilitär versanden. Es galten Verwertbarkeit und Planung. Doch heut am Ende der
industriellen Zivilisation, am Anfang der „Mediengesellschaft“, wo produktive
Einbildungskraft und Wagemut selbst im Krämersinn nützlich werden, erhält sie unverhofft ihre zweite Chance. Aber
sicher nicht in ihrer metaphysisch-objektivistischen Verfallsform, sondern als
das kritisch-romantische Original; als ästhetische Bildung.
Das heißt nicht bloß: mehr Kunst- und
Musikstunden. Die inhaltliche Neubestimmung, die Sie fordern, muß eine Neubegründung
der gesamten Pädagogik werden - auf der Einsicht, daß allein das Ästhetische
das Feld ist, welches die Reflexion zu bestellen hat. Das ist kein
Sowohl-als-auch, sondern ein Um-zu.
In der „entstandardisierten“
Risikogesellschaft wird Identität ein
akuteres Problem denn je. Persönlichkeit, Charakter, Selbstheit ist keine dem
individuellen Leben vorausgesetzte Entelechie. Identität muß sich bilden - in
der Angerührtheit vom Erlebnis der Andersheit des Andern. Und das ist der ästhetische
Elementarakt! Stoff und Medium persönlicher Bildung ist der, die, das Fremde -
insofern ich ihn, sie, es von mir unterscheide. Das geschieht in der
Anschauung, nicht erst in der Reflexion - denn es ist das, worauf alle
Reflexion sich bezieht. Pädagoge ist nicht schon der Didaktiker, der die
Information X aus dem Speicher a in den Speicher b überführt. Ein Pädagoge ist
ein Seelenfänger, und Seelen fängt man nicht, wenn man sie jagt, sondern indem
man sie verführt: zum Erleben der Selbstheit in der Befremdung durch den
Andern. Er verwickelt seinen Zögling in einen Roman, den der selber zu Ende
bringen muß, und das ist nicht die Erfüllung eines Programms, sondern ein
Sprung ins Ungewisse. Was passiert im Roman? Ein Bild ‚zeichnet sich ab’. Das
Bild einer Welt, darin das Bild eines Ich. Wie sie in einander fließen und sich
gegen einander absetzen, das macht die Handlung aus. Eigentlich ist jeder Roman
ein „Bildungs“-Roman, nur eben nicht immer ein gelungener. Und weil doch
Bildung immer ein Roman ist, spricht
man besser von einer romantischen
Idee als von einer humanistischen.
Sich ein Bild machen, das heißt nicht nur:
anschauen, sondern auch: es als bleibend festhalten - bestimmen als dieses und
kein anderes. Das ist die Arbeit der Reflexion, der kognitiven Vermögen. Ästhetische
Bildung ist darum nicht Konkurrent der Verstandesbildung, sondern, im
Gegenteil, ihre Begründung. Identität beginnt als erlebte Gewißheit der Selbsttätigkeit.
Aber sie bewährt sich als Bewußtsein.
Daß die Deutschen mit ihrer schon immer und nach Auschwitz erst recht gefährdeten nationalen Identität besondere Mühe haben, das Fremde in ihrer Mitte zu ‚integrieren’, wen kann es wundern? Doch integrieren heißt nicht angleichen, nicht vermengen bis zur Ununterscheidbarkeit, wo alles gleich-gilt. Vielmehr ist ja die Andersheit des Andern die Gewähr meiner Identität. Doch nur unter dieser Prämisse: dem normativen Rang der Person. Das ist das spezifisch abendländische Axiom, das wir mit unsern Nachbarn teilen. Es macht unsere gemeinsame Kultur zwar einerseits universalistisch, aber scheidet sie zugleich von allen anderen. Wir haben sie noch ein bißchen nötiger als die Nachbarn, und so liegt die Hoffnung der Deutschen auf eine nationale Identität darin, daß wir noch ein bißchen „westlicher“ werden als jene. Die Voraussetzung dafür hieße Bildung.
Sehr geehrter Herr Professor Nida-Rümelin,
ich hoffe, Sie werden sich weiterhin nicht nur als Philosoph, sondern auch als
Staatsminister für die Kultur in die bildungspolitischen Debatten einmischen!
Mit besten Grüßen,
Ihr Jochen Ebmeier,
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