Mittwoch, 1. Juli 2015

Nicht ganz von dieser Welt.


aus Der Standard, Wien, 30. Juni 2015

Pubertät:
Hyperaktiver Totalumbau im Gehirn

von Walter Müller, 

"Jetzt räum endlich deine Sachen weg, es müffelt ja schon in deinem Zimmer. Und außerdem: Solange du nicht Mathe lernst, kannst du dir die Party am Wochenende abschminken." Die Appelle der Eltern sind deutlich – verfehlen aber das Ziel. Sie gehen beim einen Ohr hinein und, ohne irgendwo dazwischen in der grauen Masse hängenzubleiben, beim anderen wieder hinaus. Nach einigen Minuten der Stille meldet sich der sechszehnjährige Sprössling: "Was habt ihr gesagt?" Er war nicht da, irgendwo, aber nicht im Hier und Jetzt der Eltern.

Umbauarbeiten im Gehirn
Eine weitere Eskalationsstufe sollten sich Eltern in solch pädagogisch haarigen Situationen aber doch überlegen. Die Heranwachsenden machen es nicht absichtlich, sie stehen wirklich daneben und checken die Hälfte nicht. In den Gehirnen Pubertierender finden einige weitreichende Umbauarbeiten statt, neue Schaltungen werden aufgebaut, alte lahmgelegt. "Neben den hormonellen Veränderungen, die mit der Geschlechtsreife zu tun haben, gibt es auch in diesem Entwicklungsfenster messbare Veränderungen in der Architektur und der Funktionsweise des Gehirns", sagt Peter Uhlhaas vom Institute of Neuroscience and Psychology an der University of Glasgow im Gespräch mit dem STANDARD. Uhlhaas erforscht seit Jahren die sich verändernden Gehirnaktivitäten von Jugendlichen in der Adoleszenz.
Uhlhaas: Hirnregion für Kontrolle nicht vollständig integriert
Für den Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, war das Phänomen Pubertät ja noch ziemlich eindimensional fokussiert: "Der Sexualtrieb war bisher vorwiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen (…). Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte (…). Der Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion, er wird sozusagen altruistisch". (Sigmund Freud: "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie")
Uhlhaas sieht sich die Sache einige Stockwerke höher an und misst mit hochsensiblen elektronischen Geräten, was sich im Gehirn während der turbulenten Adoleszenzzeit abspielt.
Hyperaktives limbisches System
"Es kommt in der Adoleszenz zu einem gewissen Abbau von synaptischen Kontakten von Schaltstellen, die Kommunikationswege über längere Distanzen werden verstärkt. Diese Phänomene können wir klar messen", sagt Peter Uhlhaas und fügt hinzu: "Wir sehen anatomische Veränderungen der Hirnregion im Frontallappen, die für die Steuerung von Verhalten zuständig ist. Was man gefunden hat ist, dass es zu einer gewissen Disbalance der Gehirnregionen kommt. Dass also die Hirnregion, die für das emotionale Erleben, für das Triebverhalten verantwortlich ist, das limbische System, quasi hyperaktiv ist und früher heranreift. Und jene Hirnregionen die im Erwachsenenalter für die Kontrolle des Verhaltens verantwortlich sind, noch nicht ganz im System integriert sind. Es ist eine singuläre Phase, die mit erhöhtem Risikoverhalten einhergeht. Das ist sehr gut belegt", sagt Uhlhaas.
Peergroups werden wichtiger
Es dieser Zeitspanne zwischen 12 und 18 Jahren werden jedenfalls die Peergroups für die Entwicklung der Identität und Meinungsbildung wesentlich wichtiger als die Eltern, die an Stellenwert verlieren. Es sei ein, auch biologisch herleitbarer, logischer Impuls, sich "aus der Primärfamilie loszulösen, das elterliche Nest zu verlassen, um unabhängig zu werden".
Die Ablösung vom Elternhaus sei natürlich nicht absolut zwingend, sagt Uhlhaas. Die Umweltfaktoren dürften dabei nicht außer Acht gelassen werden.
"Verhalten ist eine Interaktion zwischen biologischen Prozessen und dem, was die Umwelt uns bietet. Biologie ist nicht deterministisch, die Umwelt hat einen starken Einfluss, ob ein Verhalten zutage tritt oder nicht. Es kann durchaus sein, dass die Umweltbedingungen sich nicht dazu eignen, unabhängig zu werden, dann werden die biologischen Faktoren zurückgedrängt", sagt Psychologe Uhlhaas.
Trost für die Eltern
Was können nun Eltern tun? Nervös warten, bis das lange Gewitter der Adoleszenz vorbei ist?
Das Wissen darum, dass es sich um einen normalen, teilweise biologisch begründeten Wandel handelt, mag für Eltern ein gewisser Trost sein und sollte sie gelassener machen. "Das soll natürlich nicht heißen, dass man nicht auf die Jugendlichen einwirken soll", sagt Uhlhaas. Man sollte nur wissen, dass Jugendliche in der kritischen Zeitspanne vielleicht unerwartet und anders reagieren. Sie sind gewissermaßen affektiv instabiler, haben größere Schwankungen im Gefühlsleben und eine Tendenz, unüberlegter zu handeln. Uhlhaas: "Wir modifizieren unseren Umgang ja auch mit anderen Altersstufen. Wir erwarten von einem Kind nicht, dass es eine Quadratwurzel errechnet, und so kann man auch nicht davon ausgehen, dass sich ein Jugendlicher in allen Kontexten adäquat verhält."
Wichtige Phase für Früherkennung
Die Adoleszenz ist psychologisch in jedem Falle eine sehr sensible Phase. "Viele psychische Erkrankungen nehmen hier den Anfang, werden aber erst im Erwachsenenalter behandelt, wenn es oft schon zu spät ist", sagt Uhlhaas. Natürlich würden, ganz nach Freud, in der Kindheit Grundlagen der Persönlichkeit gebildet. Uhlhaas: "Die Gehirnentwicklung ist, anders als man früher dachte, in der Kindheit aber nicht abgeschlossen, sondern ein lang anhaltender Prozess, der im Jugendalter noch tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt. Die Zeitspanne ist auch für die Früherkennung der psychiatrischen Krankheiten wichtig. Das hat man erst in den letzten zehn bis 15 Jahren vollständiger erforscht."  


Nota. - Es gab eine Zeit, wo man - in Anlehnung an Kretschmers Gestalttypenlehre - das "asthenische" Erscheinungsbild der Pubertierenden mit einer entwicklungsbedingten Schizoidie in Verbindung brachte: nicht (übrigens auch nicht bei der Schizophrenie) einer Aufspaltung in mehrere Persönlichkeiten, sondern eine Dissoziation der Persönlichkeitsbereiche emotionales Erleben - Kognition - Motrizität und Körper-gefühl. Die Forschungen in Glasgow weisen in eine ähnliche Richtung, wobei ein Zusammenhang mit der unausgeglichenen Hirnentwicklung faktisch viel plausibler ist als einer mit dem Längenwachstum; jener wäre rein statistisch...
JE 

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