Ganz zaghaft erlaubt sich neuerdings die Frankfurter Allgemeine ein paar skeptische Worte zur schleichenden Verstaatlichung der Kindheit im westlichen Deutschland (im östlichen wars immer so)
"Viele Krippen und Ganztagsschulen werden neu eröffnet. Viele wollen mehr – doch jede zweite Familie hat genug. Der Ausbau geht weiter, und Eltern fürchten, dass Angebote schleichend zur Pflicht werden", schreibt Jan Grossarth unter der Überschrift Kindheit nach Stundenplan in der heutigen Ausgabe; freilich nicht im Feuilleton, sondern im Wirtschaftsteil.
Im Wirtschaftsteil? Da gehört es hin, denn da kommt es her: "CDU, FDP und die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sehen den wirtschaftlichen Nutzen der 'Vereinbarkeit', SPD, Grüne und Linke emanzipatorische Aspekte. Arbeitnehmern und Kindern aber auch mehr Freizeit zu ermöglichen, diese alte Idee spielt in der großen Koalition keine große Rolle. In dieser Woche sagte die Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) sogar, sie wolle nun den Ausbau von 24-Stunden-Krippen forcieren. Dorthin könnten Arbeiter in der Nachtschicht oder spät arbeitende Kassiererinnen ihre Kleinkinder bringen. Die Wirtschaftsverbände sind sehr dafür." Keine politische Partei wagt noch, sich gegen den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen zu stellen - obwohl es ein großer Teil der Eltern tut!
"Manche Erwachsene sagen, die schönsten Momente ihrer Kindheit seien die Stunden und Tage gewesen, an denen sie in Ruhe gelassen wurden. Wo sie zum Beispiel mit Freunden spielten, auf dem Bolzplatz und auf der Straße, oder einfach so herumsaßen, in die Luft guckten und sich selbst etwas einfallen lassen mussten." So sieht es auch Tamara Neckermann, Leiterin einer Grundschule im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen. "Sie sagt, sie bedauere, dass man heute kaum noch Kinder auf der Straße spielen sehe. Vielleicht liegt es an ängstlichen Eltern, oder am engen Terminkorsett der Kinder. 'Von romantischen Vorstellungen der Kindheit müssen wir uns aber heute wohl verabschieden', sagt Frau Neckermann." Doch nach den Großen Ferien wird auch ihre Schule zur Ganztagseinrichtung und wirkt auch sie "daran mit, dass die Kinder von der Straße verschwinden".
Aber es gibt auch Eltern, denen der Ausbau nun genügt. "Wie eine Studie von Allensbach für das Bundesfamilienministerium in dieser Woche zeigte, sind die Eltern gespalten. Wurde gefragt, ob das Betreuungsangebot für Kleinkinder oder das Angebot an Nachmittagsschulen ausreiche, antwortete rund die Hälfte der Familien mit nein, die andere aber mit ja. In den Zeitungen fand meist das Nein Widerhall: Familien wünschen sich mehr Teilzeit, mehr Gleichberechtigung in der Erziehung, mehr staatliche Kinderbetreuung. Aber es gibt auch die andere Hälfte. Eben nur die eine Hälfte findet, 'die Politik sollte Eltern unterstützen, die beide gleich viel arbeiten und sich die Kinderbetreuung gleichermaßen aufteilen.' 50 Prozent sehen das anders."
Darunter werden auch mansche "Helikoptereltern" sein, die ihre Kinder ganz für sich allein wollen. "Es gibt aber auch Eltern, denen es um Freiräume für Kinder geht. Zum Beispiel wäre da Silke Herbrandt, die mit vier Kindern und Mann im Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch lebt. Sie arbeitete früher als Betriebswirtin und Dozentin an der Hochschule. Nach den ersten zwei Kindern sollte ein letztes drittes folgen, doch dies waren Zwillinge. Jetzt fand sie, dass sie als Arbeitnehmerin nicht mehr zumutbar war: Immer war ein Kind krank. Sie blieb erstmal Hausfrau. 'Der Beruf der Hausfrau ist ja eine Tätigkeit, die auch ihre Berechtigung hat', sagt sie.
Sie möchte ihn nun gut machen und den Kindern, solange sie klein sind, bei den Hausaufgaben helfen, mit ihnen Mittag essen, von ihnen erfahren, was in der Schule los ist. 'Wir wünschen uns eine Halbtagsschule, weil wir eine andere Vorstellung vom Kinderhaben und Familie haben', sagt sie, 'wir haben uns das lange und gut überlegt.' Ein Schultag von 8 bis 17 Uhr gehört nicht zu dieser Vorstellung. 'Dann sind die Kinder platt und erzählen nichts mehr, so einen langen Arbeitstag hat nicht mal jeder Erwachsene', meint Silke Herbrandt.
Doch in diesem Herbst wird auch die Schule ihrer Kinder auf Ganztagsbetrieb umstellen, "so wie sehr viele in Baden-Württemberg. Als sie davon hörte, dachte die Mutter: 'Wäre es nicht absurd, wenn ich von morgens bis um 17 Uhr zu Hause säße, weil ich Hausfrau sein möchte, und dürfte meine Kinder gar nicht sehen, auch wenn ich und sie das wollten?'
Dazu kann es leicht kommen. Meistens müssen Kinder die Grundschule in ihrem Bezirk besuchen. Nur in Ausnahmefällen werden Anträge genehmigt, die Schule zu wechseln. Dass Eltern gern eine Halbtagsschule hätten, ist kein anerkannter Grund. Gibt es eine gebundene Ganztagsschule, also mit verpflichtendem Nachmittagsprogramm, muss das Kind da hin. Davon gibt es aber relativ wenige: 1200 Grundschulen in ganz Deutschland waren 2013 gebundene Ganztagsschulen, fast 7000 offene. Aber der Anteil nimmt zu. 155000 Grundschüler besuchten eine gebundene Ganztagsgrundschule, im Jahr 2009 waren es erst 117000. Besonders hoch ist der Anteil in Hamburg, Bremen, Sachsen; in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gibt es fast nur freiwillige Nachmittagsschulen.
Silke Herbrandt tat sich mit anderen Eltern zusammen und kämpfte für Freiräume. Sie hatten Erfolg. Die Grundschule in Sillenbuch wird zur offenen Ganztagsschule. 'Bei uns in Stuttgart ist es so', meint Silke Herbrandt, 'dass es nur noch deshalb Halbtagsschulen gibt, weil Eltern Druck machen'. Eine Umfrage unter Eltern ergab dabei auch dort ein geteiltes Bild: die Hälfte war für Halb-, die andere Hälfte für Ganztagsbetreuung. Und in Hessen ergab eine Studie, dass 29 Prozent der Eltern eine verpflichtende Ganztagsschule wünschen, 30 Prozent die Ganztagsschule ablehnen und die anderen für Wahlmöglichkeiten sind."
Ganz groß in Mode kamen die Ganztagsschulen erst nach dem "PISA-Schock" von 2001 - wider Sinn und Verstand, denn in den Erhebungen von PISA fand sich nichts (nichts!), was für oder gegen diese oder jene Schulform gesprochen hätte. Aber die Interessenten - s. o. - standen in den Startlöchern (und bei Grünen und Sozialdemokraten geht es wohl auch nicht so sehr um Emanzipation, sondern um die Standesinteressen der pädagogischen Berufe, die zu ihrer Klientel gehören).
"Vor sechs Jahren waren noch 48 Prozent aller deutschen Schulen Ganztagsschulen, 5 Jahre später schon 59 Prozent oder 16198, die Hälfte davon Grundschulen. Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen sind derzeit besonders engagiert im Ausbau. Wenn es die Betreuungsangebote erst mal gibt und sie ein Großteil der Eltern annimmt, ist eine neue Normalität geschaffen. So dreht sich die Spirale, die von der Bullerbü-Kindheit in eine weitgehend von Pädagogen betreute Kindheit führt" - "die auch sehr schön sein kann", fügt der Autor hinzu, wenig überzeugend und wohl auch wenig überzeugt, doch das war er vielleicht seinen KollegInnen schuldig..
Aber lobenswert ist immerhin, dass "in den Zeitungen" nun erstmals auch die andern 50 Prozent "Widerhall finden" und die Kinder doch nicht sang- und klanglos Leviathan zum Fraß überlassen werden.
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