Interview
Miese Noten für den Pisa-Test
Wolfram Meyerhöfer ist Experte für Mathematikunterricht und dezidierter Gegner des Pisa-Tests. Der Pisa-Test teste nicht, was er zu testen vorgebe, und presse die Schüler ins Mittelmass, sagt er.
Interview: Jenni Roth
Sie sind ein ausgewiesener Pisa-Gegner. Wie ist es so weit gekommen?
1998 promovierte ich zu «TIMSS». Diese «Third International Mathematics and Science Study» war eine Art Pisa-Vorläufer. Da wurden Siebt- und Achtklässler in Mathe und Naturwissenschaften getestet. Es gab eine Art Erdbeben, weil Deutschland nicht so gut abschnitt. Ich dachte mir: Wow! Mit diesem unglaublichen Datenschatz will ich herausfinden, wie man den guten Mathematikunterricht macht. Ich stellte dann aber bald fest, dass das nicht funktionierte, weil der Test nicht das testete, was er zu testen vorgab. Deshalb habe ich dann auch Pisa von Anfang an begleitet. Und es war, wie wenn man einen Nagel in eine morsche Wand schlagen will: Peu à peu kommt einem die ganze Wand entgegen. Das Testkonzept wurde nicht sauber erarbeitet. Mittlerweile schneiden die Deutschen besser ab. Das heisst aber nur, dass sie ein schlechtes Testkonzept jetzt besser bedienen.
Warum schnitten die Finnen damals schon so gut ab?
Im Jahr 2000 wurden die armen Finnen durch ganz Europa geschleift. Aber die Finnen, die ich traf, meinten, sie hätten genau dieselben Probleme im Unterricht wie überall. Sie sahen die Pisa-Ergebnisse als Katastrophe: Notwendige Reformen wurden abgeblasen.
Aber warum galt Finnland dann so lange weiter als Vorbild?
Es passte kulturell: In der TIMSS waren vor allem die Schweiz und Japan stark. Aber keiner wollte den extremen japanischen Drill. Die Schweiz hatte damals ein System, dessen Freiheit man lieber nicht aufnehmen wollte. Die Pisa-Aufgaben passten zur finnischen Schulkultur – was gerade im Bereich Deutsch gravierend ist: Bis Pisa war der Deutschunterricht in Deutschland literarisch orientiert. Aber bei Pisa geht es etwa darum, sehr schnell Fragen zur Preisgestaltung auf einem Schild an einer Dampferausflugsstelle zu beantworten. Die Schüler sollen das Schild so dechiffrieren, wie es der Tester will.
Das heisst, ein guter Pisa-Schüler weiss nicht unbedingt viel?
Pisa und auch TIMSS haben eine Tendenz, die Schüler ins Mittelmass zu pressen. Schüler, die etwas nicht können, können bei bestimmten Aufgaben erfolgreich sein, wenn sie ordentliche Ratestrategien haben. Und andersherum: Schülern, die ein Problem wirklich durchdringen, wird beigebracht, dass es darum nicht geht. Wenn sie anfangen, tiefergehend nachzudenken, läuft ihnen die Zeit davon, oder sie kommen gar zu einem als falsch gewerteten Ergebnis.
Warum sind die Aufgaben dann so konstruiert?
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung interessiert die OECD die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen. Die Tests orientieren sich also an der Brauchbarkeit von Schülern als Arbeitskräften. Aber das kann nicht das einzige Ziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein! In anderthalb Minuten zu entscheiden und bei einem Sachproblem lediglich ein Kreuz zu setzen, das folgt einem ökonomischen Konzept, welches für ein Land mit einer Wirtschaftsstruktur wie Deutschland fatal ist. Für Pisa ist die OECD auch Allianzen mit multinationalen und profitorientierten Unternehmen eingegangen, die versuchen, von jedem von Pisa behaupteten Bildungsproblem zu profitieren. Die internationalen Bildungskonzerne benötigen Tests wie Pisa, um eigene Bildungsprogramme zu legitimieren, laufen mit ihren Bildungsinhalten aber in eine völlig falsche Richtung.
Wenn die Mängel so offensichtlich sind: Warum ist Pisa dann trotzdem so erfolgreich? Immerhin hat sich die Zahl der teilnehmenden Länder innerhalb weniger Jahre verdoppelt, Tendenz steigend.
Pisa ist ein Konsortium von Testkonzernen in verschiedenen Ländern, das eine sehr erfolgreiche Marketingstrategie verfolgt hat. Der Erfolg von Pisa gründet auf einer bewussten Markterschliessung, auch durch Strategien wie die Ankündigung: «Am 5. Mai veröffentlichen wir die Ergebnisse, aber bestimmte Medien bekommen am 3. Mai vorab schon einige Informationen.» Dabei wurde komplett übersehen, dass es auch nichts bringt, eine Viertelmillion Schüler zu testen, wenn der Test schlecht ist.
Aber das ist lange her – und Pisa ist immer noch erfolgreich!
Es passt eben gut zur strukturellen Verfasstheit des Schulwesens. Vor 30 Jahren war alle Politik noch gemächlicher, da funktionierte vieles auf Zuruf. Heute ist unsere Gesellschaft durchformalisiert, Kennzahlen und Studien sind das Mass aller Dinge: Wenn eine Strasse gebaut wird, fragt man nicht mehr nach Wohlbefinden, sondern macht Berechnungen. Das ist das, was Max Weber «Bürokratisierungstendenz» nennt.
Vor einem Jahr haben 2500 Professoren, Schulleiter und Lehrer aus der ganzen Welt in einem offenen Brief an Pisa-Chef Schleicher kritisiert, das Messen einer Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit einem engen und einseitigen Massstab könne Schulen und Schülern schaden. Inwiefern?
Standardisierte Tests entprofessionalisieren die Lehrerschaft. Sie müssen die Schüler auf die Tests hin trimmen, statt mit ihnen das Spannungsfeld der Bildung von Autonomie auszuloten. Ich habe aber den Brief trotzdem nicht unterzeichnet. Ich möchte, dass der Job von Herrn Schleicher abgeschafft wird, da bitte ich ihn doch nicht per Brief, Pisa bildungsnäher zu gestalten. Diese Tests gehören abgeschafft.
Wolfram Meyerhöfer ist Professor der Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn und gilt als einer der grössten Pisa-Kritiker.
Wolfram Meyerhöfer ist Professor der Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn und gilt als einer der grössten Pisa-Kritiker.
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