Bildungswunder Finnland?
Ein schwächelnder Musterschüler
von Jenni Roth
Es war einmal ein Land, das hatte das beste Schulsystem der Welt. Deshalb reisten Verehrer aus aller Herren Ländern dorthin, um herauszufinden, was es mit diesem Wunderland auf sich habe. Sie sahen, dass die Schüler nicht mit Bergen von Hausaufgaben und schwierigen Klausuren gegängelt wurden. Dass die Lehrer viel Freiheit hatten. Doch schon im Pisa-Ranking von 2009 waren die finnischen Schüler dann nicht mehr in Topform, 2012 schafften sie es in Mathematik nicht einmal mehr unter die ersten zehn. Was ist da los?
Gefährliche Reformen
Eine Antwort lautet: «Real Finnish Lessons: The true story of an education superpower». Der Autor der Studie, Gabriel Heller Sahlgren von der London School of Economics, führt das Schwächeln auf die Reformen der 1990er Jahre zurück – genau auf jene Reformen also, die die Bildungswelt zum finnischen Erfolgsgeheimnis erklärt hat. Er warnt davor, den Finnen nachzueifern: «Die Noten werden genau da schlechter, wo die Reformen anfangen zu wirken.»
Die Pisa-Erfolge vom Anfang der nuller Jahre seien das Ergebnis eines Systems, das vor den Reformen in Kraft war. «Die guten Ergebnisse beruhten auf einem älteren, traditionellen Schulsystem mit wenig Autonomie für Lehre und Lehrer», sagt Sahlgren und zitiert eine britische Forschergruppe nach ihrem Finnlandbesuch von 1996: «Egal in welcher Schule wir waren – überall derselbe Unterricht. Man hätte die Lehrer auswechseln können.» Dass die Pisa-Rankings so gut ausfielen, sei weniger der Bildungskultur als der wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet.
Verglichen mit seinen nordischen Nachbarn war Finnland in vielerlei Hinsicht ein Spätzünder: Die Industrialisierung kam ebenso schleppend in Gang wie das Wirtschaftswachstum und der Aufbau eines Wohlfahrtsstaats. Die Schulpflicht wurde erst 1921 eingeführt. Noch 1945 waren 75 Prozent der Bevölkerung Bauern, gebildet war vor allem die schwedischsprachige, aristokratische Minderheit. Doch mit der Unabhängigkeit 1917 erwachte ein nationales Selbstwertgefühl, Bildung wurde zum Leuchtturm des nationalen Projekts und die ersten finnischen Lehrer seine Helden. Ihre Auswahl und Ausbildung erfolgte, wie Sahlgren sagt, mit Blick auf preussischen Gehorsam: tanzen, trinken, rauchen – alles verboten. «Dieser Generation gehörten noch viele Lehrer an, die während der Pisa-Erfolge unterrichteten», sagt der Autor. Aber diese Wahrheit passe nicht ins Weltbild der Bildungsexperten.
Klar, dass bei solchen Thesen Widerspruch prompt folgt. Andreas Schleicher, OECD-Koordinator und Schöpfer der Pisa-Tests, argumentiert, dass die Schüler im traditionellen System der 1960er Jahre maximal durchschnittliche Leistungen erbracht hätten und dass schon in den 1970er Jahren Reformen in Angriff genommen worden seien, die den Erfolg der nuller Jahre begründet hätten. Zudem sei der jüngste Abfall moderat. Andere gehen noch weiter: «In dieser Studie geht es nicht um Bildung. Es geht um Politik und Industrie», sagt David Marsh. Marsh ist Bildungsexperte bei Edu-Cluster, einem Startup dreier Universitäten, das als Netzwerk der Bildungswirtschaft das finnische Bildungssystem exportieren will.
Das «progressive» System, das für Sahlgren eine Mitschuld an den schlechteren Noten trägt, ist für Marsh ein Reizwort: Progressiv beziehe sich auf etwas, das wachse, sich entwickle. Aber politisch stehe es für Reformen und gesellschaftliche Freiheit im Gegensatz zu Traditionalismus und Konservatismus. Marsh hält schon das Vorwort der Studie für fragwürdig: Darin schreiben die Tutoren Sahlgrens, Finnlands Erfolg und Abstieg seien nie systematisch analysiert worden. Zudem sprächen die beruflichen Hintergründe der Beteiligten für sich: Der eine Tutor sei Wirtschaftswissenschafter, der andere Finanzexperte. Und der Autor selbst sei schon in zahlreichen rechtskonservativ ausgerichteten Think-Tanks tätig gewesen. Ist die Studie also ein Symptom der schrillen englischen Debatte zwischen Progressiven und Traditionalisten?
Tatsächlich ist sie pünktlich zu den britischen Wahlen erschienen. Und auch ein Blick auf die etwa zeitgleichen Wahlkämpfe dort und in Finnland ist aufschlussreich: Während die britischen Liberalen und Konservativen sich gerade in Bildungsfragen entzweiten, entstand das finnische Reformkonzept im Konsens aller Parteien. Die Politiker haben mit allen Beteiligten diskutiert, mit Schülern, Lehrern, Kommunen, Wissenschaftern, und stets mit dem Ziel, Schulen als Lerngemeinschaften weiterzuentwickeln, in denen die Schüler mehr mitbestimmen können – etwa ihre Lernziele definieren –, dafür aber auch Verantwortung für ihren Lernerfolg tragen. Bleibt die Frage nach den abfallenden Pisa-Rankings – die doch gar nicht so entscheidend seien, wie Marsh in Finnland sagt.
Und doch reagieren die Finnen auf die schlechteren Pisa-Ergebnisse. Zumindest nahmen sie zeitgleich umfassende Reformen in Angriff. Oberstes Ziel: «Die Schule konsequent vom Lernprozess des Schülers her zu denken», sagt Irmeli Halinen, Reformverantwortliche im Schulministerium.
Der Schüler hat das Sagen
So sollen Schüler möglichst verschiedene Lernmedien wie Buch und Internet benutzen, um herauszufinden, welches ihnen am besten liegt, und sogar bei der Bewertung ihrer Leistung mitreden dürfen. «Ganz oben stehen die Freude am Lernen, die Begeisterung. Zusammen mit mehr Mitbestimmung der Schüler sind sie der Schlüssel zum Erfolg.» Und: Langsam entfernt sich das Verständnis von Bildung weiter vom traditionellen Wissenskanon. Es geht nicht mehr nur um Inhalte, sondern um die Fähigkeit, mit den Informationsfluten umzugehen und Zusammenhänge zu erkennen. Zu den festgelegten Kompetenzfeldern gehören etwa Kulturen kennenlernen, Beherrschen der Informationstechnologien sowie Aufbau einer nachhaltigen Zukunft.
Besonderes Aufsehen erregte die Nachricht, Finnland wolle als Teil der Reform die Schulfächer abschaffen. Das stimme so nicht ganz, sagt Halinen. «Fächer bleiben wichtig. Aber sie sind nicht mehr so streng voneinander abgegrenzt: Es wird nicht mehr strikt getrennt nach Mathematik oder Deutsch unterrichtet, sondern nach Themenkomplexen.» Im Themenbereich EU könnten das zum Beispiel Fremdsprachen, Politik oder Geografie sein.
Viele Lehrer, die auf ein Fachgebiet und eine Lernmethode spezialisiert sind, kritisieren die Methoden. Sie müssen einfallsreich und flexibel sein. Und es gibt Kollegen, die sich mit den Informationstechnologien schwertun und vor neuen Herausforderungen stehen: auch weil die Schüler ab 2016 keine Schreibschrift mehr lernen müssen und sich stattdessen aufs Tippen und Computertastaturen konzentrieren sollen.
Bis 2020 soll das Reformpaket umgesetzt sein. Und schon blickt die Bildungswelt wieder auf Finnland und lobt, dass die Schulen hier Kinder nicht durch «Prüfungsfabriken» jagen, sondern Charakter und Kommunikationsfähigkeiten fördern. Aber bei so viel Lob sollten die Experten nicht vergessen: Eine Diskussionskultur ist ebenso wenig ausgeprägt wie die Förderung von Hochbegabten.
Nota - statt eines Kommentars:
...Aber was kann die Schule dabei tun? Soll sie ein paarhundert Jahre Kulturgeschichte hinzu erfinden? Mit andern Worten, sie ist nur ein Moment in einer komplexen kulturellen Gemengelage, und wohl kaum das entscheidende.
Ein Blick auf Belgien! Flandern zählt zur Spitzengruppe, Wallonien zu den Schlußlichtern. Aber die Schule hat sich in beiden Landesteilen seit der Regionalisierung hinsichtlich ihrer Organisationsformen nicht geändert. Sie kann nicht schuld sein. Der wahre Grund liegt auf der Hand. Wallonien war jahrundertelang der wirtschaftlich, politisch und kulturell entwickeltere Landesteil und der Born belgischer Identität. Es wurde geprägt von einer liberalen Großbourgeoisie und einer sozialistischen Arbeiterbewegung. Wallonien hieß Industrie und Fortschritt. Flandern war sein ländlich-klerikal-bornierter Hinterhof. Das hat sich seit der Stahlkrise der Siebziger radikal umgekehrt. Wallonien steht für Niedergang, Arbeitslosigkeit und Vorgestern. Das jungfräuliche Flandern hat die Zukunft für sich entdeckt und glaubt an die Neuen Technologien. In keinem Berufsstand spricht sich aber der Zeitgeist so unverhohlen aus wie in der Lehrerschaft. Und in keiner Altersgruppe so lautstark wie bei den Fünfzehnjährigen. Die hat PISA geprüft.
aus: Nach PISA - Parteienkampf und Paradigmenwechsel
Nota II. - Was heißt das schon: Hat gut bei Pisa abgeschlossen... nicht so gut bei Pisa abgeschlossen! Pisa ist auch nicht mehr, was es war, und sei es nur, weil inzwischen Anderes davon erwartet wird; genauer gesagt; allein schon, dass es erwartet wird! Lesen Sie hierzu morgen auf diesem Blog:
Miese Noten für den PISA-Test.
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