Unter der Überschrift Bildung, Reform, Wahn schrieb Jürgen Kaube in der FAZ vom 4. September, in den Lehrerzimmern der Schulen der Republik sei die Stimmung so schlecht wie nie. Was die Lehrer zermürbt, sei nicht der normale Stress mit Schülern und Eltern, sondern die ewige Ungewissheit:
"In den vergangenen vierzig Jahren wurde an den Schulen so
gut wie alles geändert, wieder rückgängig gemacht und wieder geändert.
Hier eine gewiss unvollständige Reformliste als dadaistische Prosa.
Seit den siebziger Jahren wird das Schulsystem vielmehr in beispielloser Weise von politischen Reformwellen heimgesucht. Sie über- und unterspülen mit so hoher Frequenz die Schule, dass inzwischen nur noch Verwaltungsspezialisten und Bildungshistoriker wissen, welche Regeländerungen gerade in Kraft getreten sind, welche sich, kaum, dass man sich an sie gewöhnt hat, schon wieder auf dem Rückzug befinden und welche nach kurzer Abwesenheit unter anderem Etikett neuerlich Druck auf Unterricht und die Schulorganisation ausüben. Geändert, rückgängig gemacht und erneut geändert wurde an den Schulen in den vergangenen vierzig Jahren - alles."
Ich weiß, dass es die FAZ nicht schätzt, wenn ich ihre Artikel in meinen Blogs nachdrucke. Also kürze ich sie, wo immer es geht, und schreibe sie zu eignen Beiträgen um, um nicht mit dem Urheberrecht in Konflikt zu kommen. Aber in diesem Fall wird die Redaktion wie Jürgen Kaube selbst mir beistimmen: An diesem Beitrag ist nichts zu kürzen und kaum was umzuschreiben; ich hoffe, sie werden für diesmal Nachsicht üben.
Geändert wurden die Übergangsregelungen zwischen den Schultypen: ob der Übergang von der Elternent- scheidung abhängt, ob die Übergangsempfehlung durch Lehrer stark bindend oder teilweise verbindlich oder gar nicht verbindlich ist. Mit eigenen Tests oder mit mehrtägigem 'Prognoseunterricht' oder ohne, unter Heranziehung von Durchschnittsnoten oder unter möglicher Nichtberücksichtigung derselben.
Geändert wurden die jeweiligen Beschulungszeiten: Grundschule vier Jahre lang oder erweiterte Grundschule sechs Jahre lang, Ganztags- und Halbtagsschule, gemeinsamer Unterrichtbeginn oder unterschiedlicher, 45-Minuten-Stunde, Doppelstunde, einstündiger Unterricht, bei Lehrermangel Stundenausfall oder Rückgriff auf Hilfslehrer oder auf externe Kräfte, etwa durch 'Unterrichtsgarantie plus' mit Vertretungspools (Hessen seit 2006) oder durch „Verlässliche Schule“ mit Unterrichtsgarantie (Hessen seit 2008), Abitur nach neun oder acht Jahren Gymnasium oder Gesamtschule, flächendeckend oder als Modellversuch, oder das alte G 9 als Modellversuch bei einstimmigem(!) Elternwillen oder bei Mehrheit im Schulrat oder mit flächendeckender Wiedereinführung oder mit Wahlfreiheit, mit Modellversuchen an ganzen Schulen oder mit Wahlfreiheit innerhalb von Schulen.
Geändert wurden die Umstände, unter denen das Abitur erlangt werden kann: mit festen Pflichtfächern und starken oder schwachen Limitationen bei der Hauptfachwahl, mit Kurswahl, mit Noten oder Punktesystem, mit Abwahlmöglichkeiten (Mathematik nur bis zur zwölften Klasse) und ihrer Rücknahme, mit Wahlpflichtfächern, mit vorgezogenem Abitur bei entsprechender Durchschnittsnote nach der elften Klasse, mit Modellversuchen fächerweisen Frühstudiums, mit dezentralem Abitur und mit zentralem, zentralem in allen Fächern oder vorerst nur in einigen.
... Mathematik mit Formelsammlung, mit Taschenrechner, mit Taschenrechner nur im Unterricht oder auch in der Prüfung. Hefte und Schulbücher oder Kopiensammlungen und Aufgabenblätter mit anschließender Rückkehrbereitschaft zu weniger flüchtigen Materien.
Schreibschrift als Erstschrift mit oder ohne Schönheitsbenotung, Druckschrift als Erstschrift. Fremdsprachen- unterricht ohne Technologie, mittels Sprachlabor, dann dessen Abschaffung, dafür PC ab der ersten oder der dritten oder der fünften Klasse, in allen Fächern oder nur in manchen, Pflicht-PC zu Hause durch Lesekontrolle über internetbasierte Quizfragen zu Kinderbüchern, eigener computerbezogener Unterricht oder Computernutzung in den herkömmlichen Fächern. Laptops im Unterricht oder nicht.
... Wer unterrichtet (die Lehrkraft, die Schüler sich selbst, die Schüler einander). Wer zu unterrichten sei: die Klasse (also der Durchschnittsadressat), die Einzelnen individuell, die Schüler in Gruppen, homogenen oder inhomogenen, nach Leistungsstärke oder Alter zusammengefasst oder nach beidem.
Wie zu unterrichten sei: frontal, im Kreis, monologisch, dialogisch oder überhaupt logisch, mit Drannehmen oder ohne, Fehler berichtigend oder auf Selbstkorrektur durch die Klasse wartend, zu ihr auffordernd oder lieber schonungsvoll, in Richtung Wissen oder Können oder Kompetenz, Sachkompetenz, Sozialkompetenz, Präsentationskompetenz, Teamkompetenz, Unterstreichkompetenz. Außerdem: auswendig lernen oder nicht, fachorientiert, interdisziplinär, projektorientiert, problemorientiert. Kein Wunder, dass neulich bei einer Einschulungsfeier eine Direktorin ihr Haus mit der Bemerkung vorstellte, es handele sich um eine lernorientierte Schule - und niemand auflachte."
Von den Lehrplänen und den Unterrichtsfächern, die ständiger Reform unterzogen werden, will der Autor gar nicht erst reden: "Begriffe wie 'Mengenlehre' oder 'Lektürekanon' oder 'Ethik' sollten genügen, um das Verlangen nach weiteren Beispielen nicht aufkommen zu lassen. Auch Fragen wie 'Sitzenbleiben oder nicht?', 'Zensuren oder schriftliche Beurteilungen?', 'Hausaufgaben oder nicht?', 'Ganze Bücher oder nur Auszüge?', 'Wahlfreiheit zwischen Linearer Algebra und Statistik?' und dergleichen beliebig verlängerbare und ständig anders beantwortetete Alternativen gehören zu dem, was die Schule mürbe macht."
Die frenetischen Flickschustereien lassen "einen ganzen Berufsstand an sich irre werden. Sie betreffen die unwichtigsten Dinge wie die wichtigsten, das organisatorische Rand- wie das Kerngeschehen der Schule, den Unterricht, und produzieren in beiden Fällen stets Unmengen an Papier sowie riesigen Zeitverbrauch durch Grüßen der neuesten Gesslerhüte.
Vor allem aber produzieren sie Verhaltensunsicherheit. Und das in einem System, das ... von seiner Umwelt ohnehin nicht wenige Aufgaben gestellt bekommt. Und immer mehr und immer schwierigere. Die Frage, ob das gutgehen kann, erübrigt sich."
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