Sonntag, 31. August 2014

Friedrich Schiller über Kinder, Naivität und Genie.

Der Gedanke, daß das ungebildete Kind der ursprünglichen Natur des Menschen näher stünde als der gebildete Erwachsene, ist uralt. Aber die Meinung, daß das sein Vorzug sei, ist ausgesprochen modern. Im Zeichen des Christentums bedeutete Natur soviel wie Fleisch und Versuchung: Im Mittelalter meinte man, der Schöpfer habe es nunmal nicht anders gewollt. In protestantischer Zeit leitete man daraus aber die Notwendigkeit der Pädagogik her – mit einem ganz großen P, wie bei den Pietisten in Halle. 

Der Gedanke, daß gesellschaftliche Bildung den Menschen korrumpiert und dass er zu seiner Natur zurückfinden müsse, hatte Rousseau dazu geführt, die Kindheit als eine selbstberechtigte und gar richtigere Art des Menschseins aufzufassen; wenn sie auch nicht dauern kann… 

In Deutschland wurde “das Kind” dann zur großen und revolutionierenden Entdeckung der Romantiker. Als Vermittler trat Friedrich Schiller auf. Seine Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung entstand 1795. Nachdem Kant in der Kritik der Urteilskraft den bloßen Geschmack als zu dürftig für die Rechtfertigung der Kunst befunden und durch das Genie vervollständigt hatte, bestimmte Schiller das Genie durch dessen Kindlichkeit. Nicht nur bereitet er so, an Kants Urteil über den Vorrang des Naturschönen vor dem Kunstschönen anknüpfend, der modernen Ästhetik den Weg. Zugleich sorgt er dafür, daß das Nachdenken über Pädagogik seither nur noch kritisch zu besorgen ist.

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Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß, weil sie Natur sind, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen.

Aber ihre Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk ihrer Wahl ist. Sie gewähren uns also die ganz eigene Lust, daß sie, ohne uns zu beschämen, unsre Muster sind. … Was ihren Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterschiedet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt. Wir sind frei, aber sie sind notwendig; wir wechseln, aber sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich mit einander verbindet, wenn der Wille das Gesetz der Notwendigkeit frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regeln behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Wir erblicken in ihnen also das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefordert sind zu ringen. ... Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt niemals, wie das Ver- nunftlose, oder nicht anders als indem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, teilhaftig werden können. … 

Besonders stark und am allgemeinsten äußert sich diese Empfindsamkeit für Natur auf Veranlassung solcher Gegenständen, welche in einer engern Verbindung mit uns stehen und uns den Rückblick auf uns selbst und die Unnatur in uns näher legen, wie z. B. bei Kindern und kindlichen Völkern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hilflosigkeit sei, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit so viel Rührung bei Kindern verweilen. Das mag bei denjenigen vielleicht der Fall sein, welche der Schwäche gegenüber nie etwas anderes als ihre eigene Überlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefühl, von dem ich rede (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die fröhliche Tätigkeit der Kinder in uns erregt), ist eher demütigend als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn je ein Vorzug dabei in Betracht kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite.

Nicht weil wir von der Höhe unsere Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner Unschuld hinaufsehen, geraten wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewissen Wehmut gemischt, als daß sich diese Quelle derselben verkennen ließe. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, die uns rührt. … 
 
Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein heiliger Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet; und der, was er durch die Beurteilung des Verstandes verliert, in der Beurteilung der Vernunft wieder in reichem Maße gewinnt. Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urteile der Vernunft und des Verstandes geht die ganz eigene Erscheinung des gemischten Gefühls hervor, welches das Naive der Denkart in uns erregt. Es verbindet die kindliche Einfalt mit der kindischen; durch die letztere gibt es dem Verstand ein Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsere (theoretische) Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche sei, daß folglich nicht Unverstand, nicht Unvermögen, sondern eine höhere (praktische) Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit die Quelle davon sei, welches die Hilfe der Kunst aus innerer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der Einfachheit über. Wir fühlen uns genötigt, den Gegenstand zu achten, über den wir eben gelächelt haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu beklagen, daß wir demselben nicht ähnlich sind. So entsteht die ganz eigenen Erscheinung eines Gefühls, in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmut zusammenfließen.

Zum Naiven wird erfordert, daß die Natur über die Kunst den Sieg davontrage Die Handlungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur so lange den Eindruck des Naiven, als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern und überhaupt nur auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns Rücksicht nehmen. Das Naive ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird, ... 

Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivität allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmackes, in welchem, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt ist. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur zu erweitern, ohne über sie hinaus zu gehen. Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchsloser Simplizität und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialischen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert sich das Genie, daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach bekannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes, seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken abdrückt, zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist schamhaft, weil die Natur dieses immer ist; aber es ist nicht dezent, weil nur die Verderbnis dezent ist. Es ist verständig, denn die Natur kann nie das Gegenteil sein; aber es ist nicht listig, denn das kann nur die Kunst sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen treu, aber nicht sowohl, weil es Grundsätze hat, als weil die Natur bei allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das alte Bedürfnis zurückbringt. Es ist bescheiden, ja blöde, weil das Genie immer sich selber ein Geheimnis bleibt; aber es ist nicht ängstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. …Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch immer ein naiver Ausdruck sowohl in Worten als Bewegungen, und er ist das wichtigste Bestandstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie seine erhabensten und tiefsten Gefühle aus; es sind Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes.

Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Deswegen ist das Gefühl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nah verwandt, womit wir dem entflohenen Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld beklagen. Unsre Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher es kein Wunder ist, wenn uns jeder Fußstapfe der Natur außer uns auf unsere Kindheit zurückführt. 
 
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Quelle: “Über naive und sentimentalische Dichtung” in: Friedrich Schiller, Ausgewählte Werke Bd. 6, Stuttgart (Cotta) 1950; S. 368-385; Auswahl: J. Ebmeier

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