Montag, 25. März 2019

Und überall stehn sie unter Aufsicht.

Elisofon
aus derStandard.at, 24. März 2019,

Zoom-Kindermuseum 
"Buben bauen große, Mädchen kleine Dinge"
Kinder, die nicht mit der Schere schneiden können. Eltern, die es mit der Frühförderung übertreiben. Als Leiterin des Zoom-Kindermuseums hat Elisabeth Menasse-Wiesbauer Spielen und Lernen im Wandel beobachtet 

Interview von Peter Mayr, Karin Riss

STANDARD: Das Wiener Kindermuseum Zoom feiert 25-Jahr-Jubiläum. Wenn Sie zurückblicken, wie sehr haben sich die Kinder in all diesen Jahren verändert?

Menasse: Die gesamte Gesellschaft hat sich stark verändert. Beim Start 1994 war von Digitalisierung noch keine Rede. Ein Handy? Gab es kaum, für Kinder schon gar nicht. Ein Computer? Selten. Außerdem war die Bevölkerung vergleichsweise homogen und die Schulklassen weniger divers und bunt. Das hat sehr viel am Selbstverständnis der Kinder geändert.

STANDARD: Wie merken Sie das?

Menasse: Im Unterschied zu Erwachsenen sind Kinder heute viel mehr daran gewöhnt, mit Menschen unterschiedlicher Herkunft zu tun zu haben. Das ist für sie mittlerweile völlig normal ...

STANDARD: ... wie auch die neuen Medien. Sind sie mehr Bereicherung oder nurmehr Konkurrenz?

Menasse: Neue Medien haben den Vorteil, dass sie Kindern Einblicke in andere Welten bieten. Gleichzeitig ist die analoge Welt sehr viel wichtiger. Es kommen Kinder zu uns, die manuell ziemlich ungeschickt sind. Sie wischen ständig über irgendeinen Bildschirm, basteln aber kaum noch. Auch in der Schule nimmt das ab, weil der Werkunterricht so eingeschränkt worden ist. Bei uns im Atelier fragen Kinder manchmal: "Kannst du mir das bitte schneiden? Ich kann das nicht." Da schwingt auch dieser Servicegedanke mit, dass das jemand anderer für einen erledigen soll.

STANDARD: Finden Kinder zu wenig Freiräume, wo sie sich ohne Erwachsene ausprobieren können?

Menasse: Die Freiräume werden immer kleiner. Weil Kinder zunehmend in institutioneller Betreuung sind, also in Kindergärten, Schulen, Horten. Dort sind sie ständig unter Aufsicht. Zusätzlich gibt es in Großstädten kaum Orte, wo sich Kinder frei entfalten und bewegen können. 


STANDARD: Das Museum als Großstadtrefugium?

Menasse: Das Kindermuseum bietet sicher gewissen Freiraum. Einmal haben wir Kinder gefragt, was sie von einer Führung halten würden. Da hieß es dann nur: Nein! Dann ist es ja wie in der Schule.

STANDARD: Sie sagen: Spielen ist die beste Form des Lernens. Das bedeutet aber, dass in den Schulen einiges falsch läuft.

Menasse: Spielen ist eine sehr effektive und individuelle Form des Lernens. Bei 25 Kindern in der Klasse ist das natürlich schwierig. Mittlerweile haben viele Volksschulen Elemente alternativer pädagogischer Konzepte übernommen, die auch aufs Spielen setzen. Aber kaum ist die Volksschule beendet, wird es wieder rigider.

STANDARD: Es gilt, den Lehrstoff unterzubringen.

Menasse: Die Schulreformen der letzten Jahre sind immer mehr in Richtung Evaluierung und Vergleichbarkeit gegangen, die Lehrkräfte werden mit Bürokratie auf Trab gehalten. Wenn sie ein Spezialgebiet begeistert, können sie das den Kindern kaum mehr vermitteln, weil so wahnsinnig viel Stoff abgehakt werden muss. Das ist eine Art Gleichschaltung und Entindividualisierung des Unterrichts. Ich kenne viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die darunter leiden.

STANDARD: Wie viel Wissen bringen Volksschulkinder heute mit?

Menasse: Die Unterschiede sind wahnsinnig groß. Das macht das Lehrersein auch so schwer. Es gibt Kinder aus gebildeten Familien mit großem Spezialwissen. Die kommentieren manchmal mit, als wären sie kleine Professoren. Und dann gibt es Kinder, die verstehen kaum die Anleitungen unserer Künstlerinnen und Künstler.

STANDARD: Stichwort Geschlechterrollen und Technik: Gibt es unterschiedliche Herangehensweisen von Mädchen und Buben?

Menasse: Ja, diese Unterschiede sind noch immer ein Thema – sehr. Ein Beispiel: Immer wieder stellen wir einen riesigen Tonhaufen in das Atelier. Daraus formen die Kinder Objekte. Was auffällt: Die Buben bauen groß – Burgen, Türme. Die Mädchen bauen kleine Dinge, die auch feinmotorisch viel komplizierter sind – Blumen etwa. Hier versuchen wir gegenzusteuern und beide Geschlechter für die jeweils andere Herangehensweise zu interessieren.

STANDARD: Wenn wir uns die Eltern anschauen: Hat sich deren Zugang in all den Jahren geändert?

Menasse: In der Anfangszeit des Zoom musste man ihnen genau erklären, dass die Kinder hier im Mittelpunkt stehen und sich alleine durch die Ausstellung bewegen können. Auch unser spielerischer Zugang war vielen Eltern fremd. Dann gab es eine lange Phase der Zustimmung zu unserem Konzept. Jetzt kippt das gerade wieder. Wir haben Eltern, die uns sagen: "Also ein bisschen mehr Wissen müsste man da schon vermitteln." Der Bildungsbegriff wird bei manchen wieder enger.

STANDARD: Ist das dem Leistungsgedanken geschuldet?

Menasse: Das hat hundertprozentig damit zu tun. Dass man die Kinder fit machen möchte fürs Leben. Nur bezieht sich in unserer Wissensgesellschaft der Leistungsgedanke vor allem darauf, was die Kinder an Faktenwissen haben. Ob sie geschickt sind oder wie es mit ihren sozialen Kompetenzen aussieht, das wird dabei leider unwichtiger. Manche Eltern wollen, dass wir ihren Vierjährigen den Nährstoffkreislauf erklären – und zwar wissenschaftlich exakt. Das ist dann wirklich schwierig. Es geht nämlich in dem Alter nicht. Aber Lernen ist ja auch etwas Intuitives. Kinder lernen auch, indem sie einfach etwas tun.

Elisabeth Menasse-Wiesbauer hat Geschichte, Psychologie und Philosophie studiert. Seit 2003 ist sie Direktorin des Zoom-Kindermuseums in Wien. Heuer geht sie in Pension. 


Nota. - Ja darf man* sich denn überhaupt so ausdrücken: "Buben bauen große, Mädchen kleine Dinge" - ohne wenigstens nachzuschieben, dass das natürlich ihrer eingeübten Großmannssucht und Selbstbeschei- dung geschuldet ist?! Aber immerhin: Gegensteuern will sie schon.

Spielen sei die beste From des Lernens? Na ja. Da kommt es wohl darauf an, was gelernt werden soll. Und auf alle Fälle ist lernen nicht der tiefere Sinn des Spielens. Spielen ist freie Betätigung der Einbildungskraft, und darum verträgt es sich nicht mit Beaufsichtigung. Es ist ganz falsch, dass im Unterricht mehr gespielt werden müsste. Spielen ist freie Tätigkeit, weil es zweck freie Tätigkeit ist. Das ist lernen nicht, es hat einen Zweck, sei es Wissen, seien es 'Kompetenzen'. Es ist nicht zuviel verlangt, dass Kinder diesen Unterschied kennenlernen.

Bleibt, dass sie zu freier Betätigung der Einbildungskraft heute immer weniger Gelegenheit und schon gar keine Anregung finden. Spielen ist wohl Bildung, aber kein Unterricht. Die Lösung ist daher nicht mehr Spiel in der Schule, sondern weniger Schule.
JE

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