Samstag, 9. April 2016

Wie Kinder Sprache erlernen.

aus nzz.ch, 8. 4. 2016

Sprachentwicklung
Kinder lernen früh sprechen – aber die Grammatik braucht Zeit
Erst mit 10 Jahren verstehen Kinder komplexe Sätze fast so gut wie Erwachsene. Dabei gebe die Hirnreifung der Sprachentwicklung den Takt vor, erklären Forscher.

von Lena Stallmach

Einfache Sätze verstehen Dreijährige mühelos. Doch bis Kinder die Feinheiten der Sprache ebenso gut beherrschen wie Erwachsene, vergehen noch viele Jahre. Denn das Gehirn reift in Etappen. Während erste Strukturen der Sprachverarbeitung schon vor der Geburt voll funktionsfähig sind und Babys damit unbewusst in der Lage sind, einfache Silben wie ma und pa zu unterscheiden, entwickeln sich andere erst bei Drei- bis Zehnjährigen, wie Michael Skeide und Angela Friederici in einem Meinungsartikel in «Nature Reviews Neuroscience» schreiben.

Im Alter von drei Jahren sind Kinder in der Lage, einfache Sätze wie «Der Fuchs jagt den Igel» mühelos zu verstehen. Doch mit einem komplexeren Satzbau, wie «Den Igel jagt der Fuchs», haben Dreijährige, aber auch Achtjährige teilweise noch Probleme. Dafür sind grammatikalische Grundkenntnisse nötig, die in später reifenden Hirnstrukturen verarbeitet werden. In welchem Alter sich diese Strukturen entwickeln, zeigten Skeide und seine Kollegen kürzlich in einer Studie, in der sie die Hirnaktivität von Kindern zwischen drei und zehn Jahren mit jener von Erwachsenen verglichen.

Da es schwierig sei, kleine Kinder mit den entsprechenden Methoden zu untersuchen, hätten solche Daten bis dahin gefehlt. Für eine funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) müssen die Probanden nämlich lange ruhig liegen, und das in einer lärmigen Röhre – für kleine Kinder eine grosse Herausforderung.

Kinder als Probanden 

Man habe deshalb erst eine fMRI-Attrappe gebaut, erzählt Skeide. In dieser Röhre hätten sie in Ruhe mit den Kindern das ganze Prozedere geübt: bis diese in der Lage gewesen seien, ruhig zu halten und sich auf die Hörbeispiele zu konzentrieren, Sätze mit einfachen Wörtern, aber unterschiedlich kompliziertem Aufbau.

Vorher habe man bereits gewusst, dass die Sprachverarbeitung bei unter Dreijährigen hauptsächlich in Hirnarealen im linken Schläfenlappen abläuft. Innerhalb weniger Millisekunden wird das Gehörte hier unbewusst in Silben und Satzglieder unterteilt. Objekten in der Umwelt wird eine Bedeutung zugewiesen. Das alles lernen Babys bereits im ersten Lebensjahr.

Bei den über Dreijährigen werden dann aber zusätzlich Areale im linken Frontallappen (im Stirnhirn) aktiviert, diese reagieren mit zunehmendem Alter spezifisch auf komplexe sprachliche Informationen. Im Frontallappen laufen höhere Denkprozesse ab: Informationen, die noch getrennt an verschiedenen Orten im Schläfenlappen verarbeitet werden, etwa der Wortlaut, die Bedeutung einzelner Wörter oder ihre Position im Satz, werden hier kombiniert und mit Grundwissen über die Grammatik abgeglichen.
Erst durch diese höhere Integrationsleistung im Frontallappen können komplexere Sätze verstanden werden. Dabei spielt auch die Vernetzung der beteiligten Areale miteinander eine Rolle. Denn je stärker die Verbindungen sind, desto schneller fliesst die Information im Gehirn. Tatsächlich beobachteten die Forscher, dass die Verbindungen zwischen den frontalen und den hinteren Arealen im Scheitellappen bei den Kindern mit zunehmenden Alter mehr ausgebaut waren. Je stärker sie waren, desto besser war das Sprachverständnis.

Die verschiedenen Schritte in der Sprachentwicklung würden schon seit den 1960er Jahren intensiv erforscht, sagt Skeide. Daher habe man bereits gewusst, in welchen Etappen die Sprachentwicklung ablaufe, aber nicht, warum das so sei. «Aus unseren Untersuchungen kann man nun schliessen, dass die Hirnreifung der Sprachentwicklung quasi den Takt vorgibt», sagt er.

Zeitfenster der Entwicklung

Dass Kinder ihr Leben mit einem unreifen Gehirn bestreiten, ist schon lange bekannt. Dieses für uns so wichtige Organ reift noch bis ins junge Erwachsenenalter – in ständigem Austausch mit der Umwelt. Dabei scheint es für gewisse Entwicklungsschritte definierte Zeitfenster zu geben. Belegt ist dies zumindest für die Sinneswahrnehmungen. Wenn über die Augen oder Ohren in einem entsprechenden Zeitraum keine Informationen hereinkommen, entwickeln sich der Seh- und der Hörsinn nur rudimentär. Inwieweit dies auch für den Spracherwerb zutrifft, darüber wird von Experten dagegen noch kontrovers diskutiert.

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