Donnerstag, 28. April 2016
Die Ganztagsschule ist ein Rohrkrepierer.
aus Süddeutsche.de, 28. 4. 2016
"Ganztagsschule hat das Potenzial, Nachteile, die Kinder im Elternhaus haben, abzufedern", sagt Bildungsforscher Klemm. Er favorisiert gebundene Angebote, um den Unterricht zu entzerren und Bildungschancen zu verbessern. Ein Auslöser für den Trend zum Ganztag war die erste Pisa-Studie und der "Schock" darüber, dass Deutschlands Jugendliche international Mittelmaß sind. Man setzte auf ganztägiges Lernen als Gegenrezept, die damalige rot-grüne Bundesregierung legte ein Ausbauprogramm auf, investierte vier Milliarden Euro. Hinzu kam, dass immer öfter beide Elternteile arbeiten, und die Kinder in der Zeit betreut sein müssen.
Umso unzufriedener ist Wolfgang Pabel. Er ist Vize-Chef des Bundeselternrats, die Dachorganisation vertritt Mütter und Väter von acht Millionen Schüler. "Wir brauchen vergleichbare pädagogische Mindeststandards und zwar bundesweit", sagt er. Noch entscheide jedes Land nach Kassenlage. Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen hätten viele Eltern hohe Erwartungen verbunden.
Chancengerechtigkeit ist ein großes Wort, und es fiel oft, wenn von Ganztagsschulen die Rede war. Und die Realität? Eltern-Lobbyist Pabel sieht vielerorts nur eine "Verwahrung" der Kinder. Standards fordern auch Lehrergewerkschaften wie der Verband Bildung und Erziehung: "Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass die Bildungschancen eines Kindes noch immer stark abhängig sind vom Bundesland." Auch die Autoren der Studie halten Einheitlichkeit für unverzichtbar. Das ist in der Praxis nicht leicht, vor allem wegen unterschiedlicher Formen von Ganztag.
Der Trend geht weniger zur Ganztagsschule mit verpflichtendem Unterricht als zu flexiblen Betreuungsmöglichkeiten. Ideen an den Schulen für gute Angebote gibt es. Doch bei einer Umfrage unter Schulleitern gab jeder vierte an, dass sein Ganztagsschulkonzept quasi nur auf dem Papier bestehe - weil es mit den vorhandenen Mitteln für Personal und Räume kaum umsetzbar sei. "Wo an Deutschlands Schulen Ganztag draufsteht, ist leider nicht immer Ganztag drin", bilanziert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung und früherer Hamburger Wissenschaftssenator.
Bisher hat das Modell die Erwartungen vielerorts enttäuscht. Wer am Nachmittag an der Schule ist, wird auch nicht unbedingt klüger. So lässt sich eine Mammut-Studie zusammenfassen, die Forscher im Auftrag des Bundesbildungsministeriums erst kürzlich präsentiert haben. Sie hatten Kompetenzen im Lesen und in Naturwissenschaften geprüft, vor und nach Teilnahme an fachlich orientierten Ganztagsangeboten - und sie mit denen jener Mitschüler verglichen, die nur vormittags an der Schule waren. Ergebnis: Die Ganztagsschüler erzielen keine besseren Leistungen. Immerhin waren sie motivierter, schrieben die Wissenschaftler. Aber auch diese Studie warnte: Die Qualität muss besser werden.
Nota. - Einfach die Tatsachen verschweigen kann auch die SZ nicht. Aber die versucht, sie kleinzuhalten. Die Studie, die ergeben hat, dass die Ganztagsschule - ach was: dass GANZTAGSSCHULE (ohne Artikel) als Konzept gescheitert ist, erwähnt sie nur verlegen im Nachsatz, stattdessen lässt sie gern zu Wort kommen die interessierten Experten, die auch diesmal sagen, was sie immer sagen: Sie wollen mehr Geld und mehr Personal. Und natürlich: VORSCHRIFTEN.
Aber es scheint doch, als sei der Bann gebrochen. "Hat das Potenzial, Nachteile abzufedern", das werden sie noch sagen, wenn die letzte Ganztagsschule wieder geschlossen wurde, aber es klingt heute schon nach Rückzug. Immerhin erinnert sich die SZ jetzt wieder, wie der Blödsinn seinerzeit den Weg in die breite Masse gefunden hat: Deutschland war bei PISA "nur Mittelmaß" gewesen, und alle Länder, die besser waren, hatten (außer Österreich!) die GANZTAGSSCHULE, und da mussten wir sie schnellstens einführen!
Dass alle Länder, die damals schlechter abschnitten als Deutschland - und das war immerhin die Hälfte -, ebenfalls DIE GANZTAGSSCHULE hatten, wurde als ganz unwesentlich erachtet. Die Lehrergewerkschaften wollten ihr Schäfchen endlich ins Trockne bringen, da kam es auf Fakten nicht an. Doch inzwischen, wo die Sache richtig Geld kostet, wollen die Finanzminister wissen, ob sie sich überhaupt lohnt. Nun kommen Fakten an den Tag. Aber darum muss die SZ sie ja noch lange nicht an die große Glocke hängen. Die nächste Studie kommt bestimmt, mal sehen...
PS. Die andern Länder haben nur deshalb die Ganztagsschule, weil sie sie schon immer hatten. Auch in Deutschland war sie bis Ende des 19. Jahrhunderts selbstverständlich. Doch dann hat man in Preußen durch einen Zufall entdeckt, wie unsinnig sie ist, und hat sie abgeschafft; Österreich ist gefolgt.
JE
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