Alfred Neumann
In spektrum.de von diesem Neujahrstag berichtet Theodor Schaarschmidt übeer die neueren Duskussionen um den sogenannten Flynn-Effekt und neuerdings beobachteten "Anti-Flynn-Effekt" bei den IQ-Tests rund um die Erde.
Seit Beginn der Messungen schneiden Menschen immer besser in den
IQ-Tests ab. Über eine lange Zeit lag dieser Zuwachs in vielen
Industrienationen relativ stabil bei rund 0,3 Punkten pro Jahr.
Das klingt vielleicht nicht viel, doch innerhalb von zehn Jahren
summiert sich der Unterschied bereits auf drei, nach einem Jahr- hundert
gar auf 30 Punkte, was dem Unterschied zwischen einer durchschnittlichen
und einer Hochbegabung entspricht. Genau dieser Effekt stagniert aber
seit einigen Jahren. Neuere Datensätze zeigen, dass der Zu- wachs
mancherorts allmählich abflaut. In manchen Ländern konnten Forscher
sogar eine Abnahme der Intelligenzwerte feststellen; man spricht bereits
von einem »Anti-Flynn-Effekt«.
Während der Flynn-Effekt nie hinreichend erklärt, aber auch nicht wirklich kontrovers diskutiert wurde, ruft der vermutete Anti-Flynn-Effekt sogleich weltanschauliche Fronten hervor. Genetische ("dysgenische") oder demographische, durch Migrationen bedingte Degradationen schienen dem Autor wenig plausibel. Näher wendet er sich jedoch der Frage zu, wie in den IQ-Tests was erhoben wird, um es hinterher als Intelligenz zu interpretieren.
Eine dritte Hypothese zum Flynn-Effekt: Über die Jahrzehnte habe
sich unser Arbeitsumfeld drastisch verändert. Ein analytisch-abstrakter
Denkstil werde dabei immer stärker belohnt. Flynn selbst spricht da- von,
dass wir die Welt immer stärker durch eine »Forscherbrille« betrachten.
Hatte es früher genügt, die Dinge rein nach ihrer Nützlichkeit zu
beurteilen, würden wir heute eine eher wissenschaftliche
Herange- hensweise bevorzugen: »Wir sind gewöhnt zu denken, dass wir die
Welt klassifizieren müssen, um sie zu verstehen, und wir nutzen
bereitwillig abstrakte Logik«, erklärt Flynn in einem Podcast für die Zeitschrift »Scientific American«. Genau diese Art zu denken ist es letztlich, die in den gängigen IQ-Tests belohnt wird.
Damit ließe sich auch erklären, warum der Flynn-Effekt
mancherorts allmählich stagniert. Wenn der Blick durch die
Forscherbrille, also der Fokus auf abstrakte Kategorien sein Limit
erreicht, ist es plausibel, dass auch der IQ nicht stetig weiter wächst.
Dass der Flynn-Effekt je nach Region so unterschiedlich ausfällt, mag
auch mit landesspezifischen Entwicklungen zu tun haben. Das zeigt sich
am Beispiel Khartum: Dort ersetzten fundamentalistische Kräfte den
regulären Schulunterricht zum Teil durch einen »islamischen Lehrplan«.
Fortan lernten die Schüler viel über die Errungenschaften ihres Landes
und ihrer Religion, während abstrakte Fächer eher auf der Strecke
blieben. Wenn man so will, wurde den Kindern die For- scherbrille
abgesetzt. Das mag – neben sozioökonomischen Umwälzungen im Zuge des
Bürgerkriegs – dazu beigetragen haben, dass der mittlere IQ in der
sudanesischen Hauptstadt von 1999 bis 2010 um mehr als zwei Punkte
abnahm.
Zum Schluss wiegelt der Autor ab: Anders als der Flynn-Effekt sei der "Anti-Flynn-Effekt" empi- risch längst noch nicht belegt; es könne sich noch immer um einzelne Fehlmessungen oder statistische Ausreißer handeln.
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