Freitag, 12. Februar 2016

Ist Koedukation überholt?

aus nzz.ch, 21. 12. 2015

Steitgespräch über die Koedukation
«Die Schule sozialisiert, fragt sich nur wie»
Elisabeth Joris findet, dass Mädchen unter sich besser gefördert werden. Für Remo H. Largo gibt es dagegen kaum stichhaltige Argumente, Knaben und Mädchen getrennt voneinander zu unterrichten.

In 6 von 20 Zürcher Kantonsschulen gibt es zurzeit reine Mädchen- und Knabenklassen. Wie finden Sie das?

Elisabeth Joris: Die Einführung der Koedukation war für die benachteiligten Mädchen auf Mittelschulstufe in den 1970er Jahren ein Fortschritt. Die Genderforschung stellte die Vorteile für die Mädchen zwar wieder infrage. Meine Position dazu ist allerdings eine ambivalente, geprägt auch von meinen Erfahrungen als Lehrerin. Denn die Frage ist, ob gemischte Klassen immer praktikabel sind. In gewissen Gymnasien wie dem neusprachlichen gibt es wegen der Profile einfach mehr Mädchen. Bei der Zusammensetzung der Klassen kommen verschiedene Faktoren zusammen, die eine Schule berücksichtigen muss. 

Remo H. Largo: Sollte es wirklich so sein, dass finanzielle oder organisatorische Gründe wie zum Beispiel Turnstunden zu reinen Mädchen- oder Bubenklassen führen, dann ist das ein herber Rückschlag und pädagogisch unverantwortlich. Wie sollen Frauen und Männer in der Gesellschaft je gleichberechtigt miteinander umgehen, wenn das in der Schule nicht gewollt und vor allem auch nicht gelernt wird?

Müsste man heute also geschlechtergetrennte Schulklassen vermeiden?

Largo: Buben und Mädchen erbringen in Intelligenztests vergleichbare Leistungen. Mädchen sind im sozialen und sprachlichen Bereich etwas besser, Buben im räumlichen. Über alle Kompetenzen gesehen überlappen sich die Fähigkeiten beider Geschlechter zu über 90 Prozent. Es gibt daher aus pädagogischer Sicht kein stichhaltiges Argument, die Geschlechter getrennt zu unterrichten. 

Joris: Gerade dicke Mädchen werden von Buben oft schikaniert. Trotzdem wünscht sich die Mehrheit der Mädchen gemischte Klassen. Sie vermissen das andere Geschlecht in reinen Mädchenklassen im Alltag dennoch nicht. An der Kantonsschule Zürich Birch, die heute mit der Mittelschule Oerlikon zusammengelegt ist, diskutierten wir, was eine gendergerechte Mittelschule bedeuten würde. Initiiert von der Schulleitung. 

Largo: Wie lang ist das her? 

Joris: Das war vor zehn Jahren. Dabei ging es in erster Linie darum, wie man die unterschiedlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler fördert, und nicht um getrennte und gemischte Klassen. Dabei machte ich die Erfahrung, dass sich vor allem männliche Lehrer den Genderfragen nicht stellen.

Zu den Personen
Elisabeth Joris, geboren 1946 in Visp, ist freischaffende Historikerin. Ihr Schwerpunkt ist die Frauen- und Geschlechtergeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Sie absolvierte ihre Schulzeit in Mädchenklassen und unterrichtete über 40 Jahre an Mittelschulen gemischte Klassen und solche nur mit Mädchen. Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, habilitierte in Kinderheilkunde, leitete über 30 Jahre die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Zürcher Kinderspitals und eine bedeutende Langzeitstudie über kindliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Studien zeigen, dass Mädchen unter sich gerade in Mathematik besser lernen als in gemischten Klassen.

Joris: Als ich Geschichte und politische Bildung unterrichtete, gab es gute und weniger gute Schülerinnen in reinen Mädchenklassen. In den gemischten Klassen dagegen war klar, dass die Buben viel schneller waren. Ich musste mir überlegen, wie ich die Mädchen stärker zu Wort kommen lassen kann. Gerade in Mathematik fragen Mädchen mehr, wenn sie unter sich sind, und sie werden besser gefördert. Aber natürlich ist das Leistungsspektrum auch in reinen Mädchenklassen gross. 

Largo: Die Schule hat den Auftrag, zur Sozialisierung der Kinder beizutragen. Im Schulgesetz des Kantons Zürich steht sinngemäss, dass die Schule die Kinder zu selbständigen und gemeinschaftsfähigen Menschen erziehen soll. Weil die Schule diesen Auftrag kaum wahrnimmt, haben wir in der Gesellschaft ein grosses soziales Problem. Seit vierzig Jahren diskutieren wir, dass Frauen in Gesellschaft und Wirtschaft benachteiligt werden. Wollen wir das ändern, müssen wir in Familie und Schule damit beginnen.

Was fehlt in der Entwicklung der Schüler, wenn sie in getrennten Klassen sind?

Largo: Mädchen und Buben lernen nicht über soziale Leitsätze, wie man miteinander umgehen soll. Es geht nur über gemeinsame Erfahrungen. Wandern Sie mal mit Schülern eine Woche lang über die Alpen. 

Joris: In solchen Arbeitswochen sind Buben und Mädchen intensiver zusammen, trotzdem bilden sich Mädchen- und Bubengruppen. Auch in der Freizeit vermischen sich die Geschlechtergruppen nur punktuell. Aber sie erfahren sich, da gebe ich Ihnen recht. 

Largo: In der Freizeit erleben wir doch alle, wie oberflächlich die Begegnungen sind. Es geht nur darum, wie ich ankomme, wie ich angezogen bin und welches Handy ich habe. 

Joris: Ich bin da ambivalent. Im Zeitalter von Talkshows übernehmen die Schüler von ihren Vorbildern die Medienkompetenz. Mit dem Mikrofon in der Hand sind die Buben stärker. Im Hintergrund aber sind die Mädchen immer viel engagierter. In geschlechtergetrennten Klassen müssen beide Geschlechter alle Aufgaben übernehmen und werden so in verschiedenen Kompetenzen gestärkt. 

Largo: Ich gebe Ihnen ein Beispiel, warum der Austausch zwischen den Geschlechtern so wichtig ist. Im Sexualunterricht kann man jedem Geschlecht getrennt Wissen über die körperliche und psychische Entwicklung in der Pubertät vermitteln. Aber erst wenn beide Geschlechter miteinander reden und einander zuhören, stellen sie fest, dass Buben und Mädchen unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen an eine partnerschaftliche Beziehung haben. Diese werden in einer Disco nicht diskutiert. 

Joris: Wie die Geschlechter in der Schule miteinander umgehen, hat sicher gesellschaftliche Auswirkungen. In Schulen, in denen es aus organisatorischen Gründen zu geschlechtergetrennten Klassen kommt, könnte man aber typenübergreifende Gefässe für einen Austausch bilden. Was aber, wenn eine Schule im naturwissenschaftlichen Gymnasium kaum Mädchen hat, im neusprachlichen aber nur wenige Knaben?

Herr Largo, Sie sagen, dass wir auf ein gesellschaftliches Problem zusteuern. Reichen die organisatorischen Massnahmen in den Schulen nicht aus?

Largo: Die Frage ist doch: Ist die Schule für die Kinder oder für die Lehrer da? Was ist das Hauptanliegen der Schule, etwa ihre organisatorischen Probleme zu lösen? Wenn die Schule es verpasst, den Schülern soziale Erfahrungen zu ermöglichen, die zu einer gegenseitigen Wertschätzung unter den Geschlechtern führen, dann hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Und die Wertschätzung wird in Gesellschaft und Wirtschaft fehlen. 

Joris: Das hängt aber stark mit der Kultur im Schulhaus und der Zusammensetzung der Lehrerschaft zusammen. 

Largo: Haben wir ein Problem oder haben wir keines? 

Joris: Wir haben ein sehr starkes Problem. Dass unterschiedliche Kompetenzen und solidarisches Verhalten zu wenig gefördert werden, hat mit der Zielsetzung der Schule im Allgemeinen, aber auch mit den Lehrkräften und Fächern zu tun, es ist nicht primär eine Geschlechterfrage. 

Largo: Ja, das stimmt. Die Schule sozialisiert sowieso, die Frage ist nur, wie. Joris: Ich bin aber skeptisch, wie viel die Schule überhaupt auffangen kann.

Auch die Familie vermittelt und prägt Rollenbilder. Ist ihr Einfluss nicht stärker als jener der Schule?

Largo: Nein, der Einfluss der Eltern dominiert in den ersten Lebensjahren. Sobald die Kinder in Krippe, Kindergarten und Schule kommen, nimmt ihr Einfluss immer mehr ab. Auch wenn es hart ist: Jugendliche werden kaum mehr durch die Eltern, sondern durch die Peers in der Clique sozialisiert. 

Joris: Die Schule ist nur eine der Möglichkeiten, den Austausch zu erfahren. Aber es ist richtig: Er müsste als ein prioritärer Auftrag der Schule festgeschrieben werden. In gemischten Klassen erfahren Mädchen und Buben, dass die Schnittmengen viel grösser sind, als sie meinen.

Einige Klassen sind wegen der Turnstunden getrennt. Wieso sollten die Jugendlichen nicht gemeinsam turnen?

Largo: Mädchen und Buben sind körperlich und motorisch verschieden. Sie wollen sich daher im Turnen auch verschieden betätigen und unterschiedliche Leistungen erbringen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man die Turnstunden daher teilweise getrennt unterrichtet. Aber es kann doch nicht sein, dass man den gesamten Unterricht aus organisatorischen Gründen auf die Turnstunde ausrichtet.


Nota. - Heute, da allenthalben beklagt wird, die Jungen würden in der Schule hinter den Mädchen zurück-bleiben, könnte man meinen, man täte ihnen einen Gefallen, wenn man ihnen erlaubte, wenigstens in der Schule untereinander zu bleiben. Aber es ist die Schule als solche, die für Jungen nicht geeignet ist, es ist bestimmt nicht die Anwesenheit von Mädchen.

In Einrichtungen, wo Jungen unter sich sind, herrscht eine unerquickliche Atmosphäre. An reinen Mäd-chenschulen, habe ich mir von Leidtragenden versichern lassen, sei es noch schlimmer. Schuld sind nicht die Jungen und nicht die Mädchen, sondern die tausendfältigen Rückkoppelungseffekte, die, wenn sie nicht durch Außenwirkung verfremdet werden, dazu führen, dass künstlich ein Typus ausgebrütet wird, den es auf freier Wildbahn gar nicht gibt. 

Schulen sind keine Wohngemeinschaften, sondern öffentliche Räume. Da ist Distanz geboten, und die erfordert Benehmen. Auch vor seinesgleichen blamiert man sich nicht gern, aber schon gar nicht vor den Andern.
JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen