Ein Stück Welt im Schulzimmer
Der auf zu viele Wünsche ausgerichtete Bildungsauftrags der Volksschule ist einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Dabei gilt es, das Potenzial eines vielseitigen Realienunterrichts zu nutzen.
von Hanspeter Amstutz
Informationsmaterial in Hülle und Fülle steht heute allen zur Verfügung. Ein Klick im Internet – und schon erhält man neuestes Zahlenmaterial über eine Weltstadt oder prächtige Bilder über den grössten Luxusliner der Welt. Hunderte von Fernsehsendern stehen uns zur Auswahl, die über das aktuelle Geschehen informieren und unsere Erde so zu einem globalen Dorf machen. Die tägliche Informationsflut ist gewaltig, und viele fragen sich inzwischen, wieweit wir damit vernünftig umgehen können. Die Forderung, die Schule müsse die Kinder zu einem effizienten Umgang mit den neuen Medien anleiten, ist daher verständlich.
Solide Allgemeinbildung
Bei diesem grossen Angebot an Informationen scheint die Schule bezüglich der Wissensvermittlung längst ins Hintertreffen geraten zu sein. Dank dem Internet kennen sich Jugendliche heute in Bereichen aus, die früher zum verheissungsvollen Neuland des Schulstoffs zählten. Zweifellos hat die Volksschule das Monopol der Erstinformation verloren. Es wäre aber ein verhängnisvoller Irrtum, zu glauben, die Schule könne deshalb die elementare Allgemeinbildung reduzieren und ihr Bildungsprogramm primär auf anwendungsorientierte Bereiche konzentrieren. Kompetenzziele schon früh auf die Berufswelt hin auszurichten, würde einer armseligen Vorstellung von Bildung Vorschub leisten.
- Kompetenzen: ein Sieg der Erbsenzähler.
- Ein Pionier der Kompetenzen-Pädagogik: Heinz Klippert.
- Die Schule muss das lehren, was man nicht von alleine lernt.
- Johann Friedrich Herbart - für pädagogischen Takt und gegen die Schule.
Der Umgang mit dem Internet und andern elektronischen Medien setzt ein solides Allgemeinwissen voraus, damit die Orientierung in der Datenflut einigermassen gelingt. Ohne ein hilfreiches Weltbild, das auf exemplarischer Elementarbildung und den Kenntnissen wichtiger Zusammenhänge beruht, kann das Informationsangebot der modernen Medien kaum sinnvoll verwendet werden.
Eine zentrale Bedeutung für die Orientierung in den elektronischen Medien kommt dem Realienunterricht zu. Der Unterricht in Geschichte, Geografie und Naturwissenschaften schafft wichtige Voraussetzungen für das Verstehen wesentlicher Zusammenhänge. Die Vermittlung von Basiswissen ist grundlegend für ein starkes Interesse der kommenden Generation an wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen.
Wer in spannenden Geschichtsstunden mit den prägenden Themen des 19. und 20. Jahrhunderts konfrontiert wurde, kann die heutige Politik besser verstehen. Narrativer, sorgfältig vorbereiteter Geschichtsunterricht wird an unseren Schulen aber leider je länger, je mehr durch die an den pädagogischen Hochschulen entwickelte Methode des entdeckenden Lernens aufgrund von Quellentexten verdrängt. Die Quittung dafür sind gelangweilte Jugendliche in den Geschichtsstunden. In einem erzählerisch gestalteten Geschichtsunterricht dagegen erweitern die Schüler über aktives Zuhören zudem ihren Wortschatz, indem sie ganz in die deutsche Sprache eintauchen.
Die Konfrontation mit dem realen Leben eröffnet neue Zugänge zu den Jugendlichen, sofern die didaktischen Möglichkeiten voll ausgeschöpft werden. Dies gilt auch für die oft stiefmütterlich behandelten Naturwissenschaften. Wie funktioniert ein Elektromotor? Um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wickeln Schüler eigenhändig Magnetspulen und bauen Elektromotoren. Dabei werden Zusammenhänge erkannt, die beim schnellen Surfen im Internet kaum gefunden würden. Die Verbindung von erlebter Anschaulichkeit mit präziser theoretischer Vertiefung schafft Bildung, die mehr als nur die Oberfläche berührt.
Es ist bedenklich, dass der Realienunterricht im Schatten der Diskussion um das frühe Sprachenlernen vielerorts an Qualität eingebüsst hat. Aus Zeitnot werden die beliebten Realienfächer in der Primarschule zum Teil benützt, um Englisch- und Französischwörter zu lernen. Ohne dieses unstatthafte Ausweichen gelingt es vielen Lehrpersonen kaum, in dem auf je zwei Wochenlektionen verteilten Fremdsprachenunterricht das ambitiöse Pflichtprogramm zu erfüllen. Dabei wird der Lerndruck durch die Vorstellung verstärkt, dass begabte Kinder vor allem in den Fremdsprachen frühzeitig gefördert werden müssten.
Von den hervorragenden Möglichkeiten der Förderung von Talenten in den Realienfächern spricht kaum jemand. Bei interessanten Projektarbeiten aber kommen die Begabtesten voll auf ihre Rechnung, ohne dass sich dabei Schwächere benachteiligt fühlen. Der vielseitige Realienunterricht kann die Heterogenität der Klassen weit besser auffangen als ein streng programmierter Fremdsprachenunterricht. Es ist Aufgabe der Fachdidaktik in der Lehrerbildung, die Chancen eines modernen Realienunterrichts aufzuzeigen und die Studierenden auf die anspruchsvolle Praxis vorzubereiten. Mit dem neuen Lehrplan soll nun alles besser werden.
Graben zwischen Theorie und Praxis
Doch es reicht nicht aus, das Bildungsprogramm im Bereich von Natur und Technik zu erweitern, ohne aufzuzeigen, wo dies durch Abstriche in andern Fächern kompensiert werden könnte. Da insgesamt nicht mehr Lektionen zur Verfügung stehen, geht die Rechnung nur auf, wenn in viel kürzerer Zeit mehr Kompetenzziele erarbeitet werden. Der Preis dafür aber ist zu hoch. Wenn elementare Lernprozesse hastig ablaufen, leidet die Qualität des Unterrichts ganz empfindlich. Zwischen den Vertretern von Bildungstheorien und den Lehrpersonen besteht ein Graben, weil die Umsetzung allzu vieler Reformen an den praktischen Rahmenbedingungen und den belastenden Nebenwirkungen gescheitert ist. Erfolgreiche Bildungspolitik sollte deshalb dem Kriterium der Praxistauglichkeit von Neuerungen und der Relevanz prägender Bildungsinhalte aus dem Realienbereich grösste Aufmerksamkeit schenken. Auf jeden Fall werden wir nicht um die Herkulesaufgabe herumkommen, den auf zu viele Wünsche ausgerichteten Bildungsauftrag der Volksschule in einer offenen Bildungsdebatte einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.
Hanspeter Amstutz ist ehemaliger Zürcher Bildungs- und Kantonsrat und kämpft gegen die zweite Fremdsprache auf der Primarstufe.
Nota. - Kompetenzen erwirbt man am Stoff und nicht durch Trockengymnastik an "Methoden". Bildung geschieht durch Anschauung und Betätigung der Einbildungskraft. Dass nicht alles hängen bliebt, versteht sich von selbst, doch darauf kommt es nicht an, zu Zeiten des Internet schon gar nicht. Sondern darauf, dass die Fülle der Erscheinungen einen jeden verlockt, sich ein Bild zu machen. Viel mehr kann Pädagogik gar nicht besorgen, um alles andere muss sich 'das Leben selber' kümmern.
JE
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